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Titelthema Februar 2022

Kommt es zum Krieg?

Titelthema Februar 2022 - Kommt es zum Krieg?
Messe in der Kirche der Altgläubigen-Gemeinde 2014: Zwei Kinder holen sich in Wein getränktes Brot © Florian Bachmeier

Nach 1991 hat sich die Ukraine deutlich weiter von der sowjetischen Vergangenheit entfernt als Russland. Die einen wollen nach vorne, die anderen zurück.

Gerhard Simon01.02.2022

Seit Wochen halten Kriegsrhetorik und Kriegsangst die Welt in Atem. Russland lässt seine Armee an der ukrainischen Grenze aufmarschieren und beschuldigt zugleich die Ukraine, den Einmarsch in den Donbass zu planen, den Russland seit 2014 de facto okkupiert hat. Russland verlangt „Sicherheitsgarantien“ vom Westen, die Ukraine dürfe niemals der Nato beitreten, ja die Osterweiterung der Nato nach dem Ende der Sowjetunion vor 30 Jahren müsse rückgängig gemacht werden. Diese ultimativ vorgebrachten Forderungen sind unrealistisch, sie sind nicht verhandelbar. Das weiß auch der Kreml. Diese Maximalforderungen sind Bluff.

Was aber sind die tatsächlichen Motive und Ziele des Kremls? Das postkommunistische Russland sieht sich nach wie vor als Imperium; das Russländische Reich und sein Nachfolger die Sowjetunion werden nicht als Vergangenheit, sondern als Zukunft wahrgenommen. Tatsächlich aber sind alle europäischen Vielvölkerstaaten zerfallen, weil die Völker ihre eigenen Staaten wollten und durchgesetzt haben. Diese historische Logik wird auch vor Russland nicht Halt machen. Allerdings kann die Weigerung Russlands, in die Moderne aufzubrechen, zuvor noch viel Schaden anrichten.

Geopolitischer Revisionismus

Der geopolitische Revisionismus des an den Westen gerichteten „Ultimatums“ fordert in der Konsequenz die Rückkehr zur „Breschnew-Doktrin“ von 1968, mit der die Sowjetunion die eingeschränkte Souveränität der Staaten des Warschauer Pakts deklarierte. Der Versuch, aus dem „sozialistischen Lager“ auszutreten, bedeutete die militärische Intervention Moskaus. Gorbatschow kassierte 20 Jahre später diese Doktrin und versprach in einer Rede vor der Uno im Dezember 1988 die „Freiheit der Wahl“, wonach jedes Volk das Schicksal seines Landes selbst bestimmt. Dies beweist, dass auch Russland auf dem Weg der Moderne und der Überwindung des imperialen Hegemoniestrebens war.

Wie lässt sich die Abkehr von diesem Weg erklären? Zunächst ist zu bedenken, dass das Ende der Sowjetunion der vielleicht tiefste Einschnitt in der Geschichte, ja die Umkehr der Geschichte des über tausendjährigen Russlands war. Wenn man sich vor Augen hält, dass das Deutsche Reich die bei weitem geringeren Verluste nach 1918 nicht verkraftete und in seiner Verblendung ganz Europa in Brand steckte, erscheinen die politischen Psychopathologien Russlands in einem verständlicheren Licht. Dies kann selbstverständlich nicht ein Aufruf zum Appeasement sein. Im Gegenteil, das Entgegenkommen der Westmächte gegenüber dem immer aggressiver agierenden Nazi-Deutschland hat dazu beigetragen, Hitler die Hände zu entfesseln.

Die Politik des Westens und insbesondere die deutsche Politik und öffentliche Meinung sind in der gegenwärtigen Krise wesentlich darauf ausgerichtet, Russland entgegenzukommen und Verständnis für seine Großmachtansprüche zu zeigen. Die Selbständigkeit der Ukraine wird zwar unterstützt, aber in Deutschland besteht bis heute ein stillschweigendes Fait accompli, dass im Konfliktfall Rücksicht auf Russland, nicht zuletzt wegen der deutschen wirtschaftlichen Interessen, Vorrang hat. 

In den vergangenen 15 Jahren klafften bei uns politische Rhetorik und „Realpolitik“ weit auseinander: Die Ukraine und Georgien erhielten zwar 2008 die Zusage für eine Nato-Mitgliedschaft, der konkrete Weg dahin wurde aber durch die Verweigerung des Membership Action Plan (Aktionsplan für die Mitgliedschaft) verbaut.

Der russische geopolitische Revisionismus und, verbunden damit, die Missachtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker waren nicht zuletzt wegen des Appeasements des Westens erfolgreich. Die ehemaligen sowjetischen Unionsrepubliken Moldau, Georgien und die Ukraine wurden durch die De-facto-Annektion von Territorien geschwächt und destabilisiert. Russland sieht sich auf gutem Weg, zumindest eine informelle Hegemonie über große Teile der ehemaligen Sowjetunion wiederzuerlangen. Mit den im Januar 2022 ausgebrochenen Unruhen in Kasachstan bietet sich vielleicht für den Kreml die Chance, auch diesen Staat zwischen Sibirien und Zentralasien der neuen/alten Hegemonialordnung einzufügen.

Die unabhängige Ukraine

Die Ukraine spielte beim Zerfall der Sowjetunion eine zentrale Rolle. Weithin galt als ausgemacht, dass ohne die Ukraine ein Fortbestand der Sowjetunion undenkbar sein würde. Bei dem Referendum über die Unabhängigkeit am 1. Dezember 1991 votierten 92 Prozent der Abstimmenden für den Austritt der Ukraine aus der Sowjetunion. Der Schock darüber bestimmt bis heute die Wahrnehmung der Ukraine durch den Kreml. Nach 1991 hat sich die Ukraine deutlich weiter von der sowjetischen Vergangenheit entfernt als Russland. So ist die Erinnerung an die künstlich gemachte große Hungersnot von 1932/33, den Holodomor, zu einem nationalen Identifikationsmerkmal geworden. Der Holodomor wird als Genozid am ukrainischen Volk erinnert, für das die Stalinführung die Verantwortung trug. Auch die Lenin-Denkmäler sind in der Ukraine verschwunden, die in Russland noch heute vom Roten Platz in Moskau bis ins letzte Dorf stehen.

Kein Zweifel: Der Ukraine kommt bei der Neuordnung des Hegemonialraumes die Schlüsselrolle zu. Bis 2014 war die russische Hegemonialpolitik gegenüber der Ukraine teilweise erfolgreich. Präsident Janukowytsch (2010-2014) verkörperte geradezu die Ukraine in der Grauzone zwischen Russland und dem Westen, und er ließ ausreichend Raum für russische Vetopolitik. Aber der Euromaidan, die „Revolution der Würde“ 2014 bedeutete die Abwendung der Ukraine von Russland. Die massiven russischen Gegenschläge – die Annektion der Krim und die Okkupation eines Teils des Donbass – stärkten zwar Putins Rolle und Ansehen im eigenen Land, aber das eigentliche Ziel, die Rückgliederung der ganzen Ukraine in den russischen Machtbereich, wurde verfehlt.

Legitimationskrise

Russland stilisiert sich als eigenständige, anti-westliche Zivilisation, in der die westlichen Mechanismen für die Legitimation der Macht (politischer Pluralismus und Wettbewerb, Begrenzung der Amtszeit der Exekutive) nicht gelten. Derzeit befindet sich das Putin-Regime in einer akuten Legitimationskrise, weil die bisherigen Quellen der Legitimation (Wirtschaftswachstum in den 2000er Jahren, territoriale Expansion im postsowjetschen Raum) austrocknen.

Das Putin-Regime verfügt nicht einmal über eine Nachfolgeregelung für den Autokraten. Denn die praktisch unbegrenzte Amtszeit für Putin seit der Verfassungsrevision von 2020 bedeutet tatsächlich das Fehlen einer Nachfolgeordnung.

In dieser akuten Legitimationskrise braucht der Kreml in der diplomatischen Konfrontation mit dem Westen und der militärischen Konfrontation mit der Ukraine dringend Erfolge. Ist deshalb der Übergang von einem „kleinen“ Krieg, der seit 2014 andauert, in einen „großen“ Krieg mit der Invasion Hunderttausender Soldaten in die Ukraine wahrscheinlich?

Auch ohne dass ein Schuss gefallen ist, verbucht der Kreml an der diplomatischen Front bereits Erfolge. Die USA und die Nato sind bereit, sich mit Russland auf Augenhöhe an den Verhandlungstisch zu setzen. Dabei sind die Verhandlungspartner alles andere als gleich. Das BIP Russlands betrug 2020 etwa sieben Prozent des amerikanischen. Die Militärausgaben bewegen sich in der gleichen Relation. In diesem Sinn ist Russland keine Großmacht auf Augenhöhe. Russland bringt heute nur etwa die Hälfte des Potentials der Sowjetunion auf die Waagschale. Daran ändern auch die Atomwaffen nichts. Als Chaosmacht bleibt das Potential Russlands dennoch erheblich.

Fazit: Unterstellt man dem Kreml elementaren Selbsterhaltungstrieb, so ist die große Invasion der Ukraine eher unwahrscheinlich. Die Fähigkeit der russischen Politik, größer zu erscheinen, als tatsächlich zu sein, führt immerhin zu einem – wenn auch begrenzten – Erfolg.

Gerhard Simon
Prof. Dr. Gerhard Simon war bis zu dessen Auflösung 2001 Leitender Wissenschaftlicher Direktor des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Er war Fellow des Russian Research Center an der Harvard University und Professor em. für Osteuropäische Geschichte an der Universität zu Köln.

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