Buchtipp
Kompass politischer Kultur
Verantwortlich handeln in verwirrenden Zeiten
Politische Kultur – ein euphemistischer Begriff für die "Gebildeten aller Stände", um sich die reale politische Kultur schönzureden oder die "Politiker" besserwisserisch zu ermahnen? Ein Blick auf die Verschiedenartigkeit des Politikbetriebs allein schon in den westlichen Demokratien zeigt uns etwas anderes: Politische Inhalte und Ergebnisse werden entscheidend geprägt durch geschriebene und ungeschriebene Regeln, durch unbewusste und verbreitete Grundeinstellungen, die in Summe das "Wie" der Politik und damit dann auch das "Was" bestimmen. Es wird höchste Zeit, in diesen krisenhaften und verwirrenden Tagen zu klären, was politische Kultur ist – als Beschreibung von Prozessen und als Aufruf zu deren Verbesserung, um über den Weg der Politischen Kultur zum Ziel verantwortlicher Politik zu gelangen. Die oft so dahingesagte Aufforderung zu Gemeinsamkeit und Zusammenhalt ist weder freiheitlich noch praxistauglich, aber ein gemeinsames Grundverständnis dafür zu entwickeln, wie Politik gemacht werden sollte, das kann helfen in den Nöten unserer Tage.
Dabei geht es um ein Wechselspiel von Theorie und Praxis, von Beschreiben und Empfehlen und um zwei Grundentscheidungen: Politische Kultur zu verstehen als Teil der allgemeinen Kultur eines Landes und Politische Kultur nicht nur bei "den Politikern" als Aufgabe abzuladen. In der Demokratie muss sie ihren Platz in der Gesellschaft haben, sagt doch eine etwas gallige Redewendung, dass jedes Land die Regierung bekomme, die es verdient habe. Da muss man schon mal trocken schlucken.
Was sind nun Elemente von Verfahren, Methodik, Umgang und Stil einer politischen Kultur, die verantwortungsvolles Handeln bewirkt? Es sind ganz einfache, scheinbar harmlos-unpolitische Postulate, in denen aber, werden sie erst einmal durchbuchstabiert, markante Konsequenzen stecken. Übrigens nicht nur für die Politik, sondern immer auch dann, wenn es um Führung geht.
Ein Schlüssel liegt im ganzheitlichen Denken, sowohl in die Breite aller erforderlichen Informationen, wie auch in die Tiefe tragfähiger Begründungen. Daraus folgen der Blick für das Wesentliche, das Abwägen, die Sachorientierung, das Bedenken von Ergebnissen und Nebenwirkungen, und damit die Bereitschaft zum pragmatischen Kompromiss. Institutionell gedacht liegt hier die eigentliche Begründung für die repräsentative Demokratie, die alles unter einen Hut bringen will und kann.
Faktenorientierung wird gerne mit dem Satz ausgedrückt, Politik beginne mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Sie beginnt damit, erschöpft sich aber nicht darin. Ziele, Werte, Inhalte, Überzeugungen müssen hinzutreten, dürfen aber "die Wirklichkeit" nicht deformieren. Und Wirklichkeit sind nicht nur Größen, die man messen, zählen und wiegen kann, zu ihr gehören auch Meinungen, Interessen, Betroffenheiten. Das alles wird ohne Professionalität und Beratung nicht zu bewältigen sein.
Dies führt zwangsläufig zum nächsten Postulat, der Notwendigkeit der Kommunikation und zwar nicht nur im Verkaufen der Ergebnisse, sondern schon beim Identifizieren von Themen, dem Prüfen der Machbarkeit, dem Testen der Resonanz. In der Dreiecksbeziehung von sachlichen Inhalten und Notwendigkeiten, Vermittlung durch Programme und Personen und dem ausgewogenen Reagieren auf die Menschen, die Bürger, die Wähler stecken viele Dilemmata.
Politik ist also Konfliktbewältigung und dazu braucht es eine rationale, seriöse Methodik, die mit Klugheit und Verstand, mit Erfahrung und Selbstdisziplin Dilemmata auflöst und Konflikte eindämmt. Dazu gehören Handlungsmechanismen wie "weniger ist mehr", "bedenke das Ende", "man höre auch die andere Seite", Prinzipien wie das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das Prinzip von Geben und Nehmen, das Prinzip des Herrschens durch dienen.
Das wiederum lenkt den Blick auf Fragen des politischen Erfolgs, der Ergebnisse für ein Land, die Frage, wie Erfolg zu definieren, zu bewirken und zu messen ist, den Erfolg bei Wahlen, den Erfolg von Personen, ja generell die Frage, welche Rolle der "menschliche Faktor" in der Politik spielt. Welche Erfolgsbedingungen müssen bei den politisch Tätigen vorliegen und welches ist ihre Rolle im Verhältnis zu Sachfragen, Programmen, Inhalten? Auch wenn der erste Anschein etwas anderes nahelegt: Inhalte sind letztlich wichtiger als Personen.
Drei mehr oder weniger aktuelle Randbedingungen verdienen für alle genannten Postulate spezielle Aufmerksamkeit: Die Tauglichkeit aller Überlegungen für das eigene Land im Rahmen der globalen Herausforderungen. Die Veränderungen unserer Kommunikation durch die Digitalisierung. Und der zunehmende Eifer, die Irrationalität und die Sprengsatzeffekte der politischen Ränder, ob dumpf von rechts oder bevormundend von links.
Nähert man sich so dem politischen Alltag, dem, was Menschen wahrnehmen und umtreibt, so wird deutlich, wie nötig es ist, die beschriebenen Lehren in Prinzipien zu übersetzen, zu spiegeln, zu testen und anzuwenden an vielen Beispielen realer politischer Ereignisse der vergangenen wie der gegenwärtigen Tage. Alle Gedanken, so haben wir ja bereits gelernt, sind wertvoll im Maß ihrer Realitätsnähe und Praxistauglichkeit. Und umgekehrt: Bei den konkreten Situationen dürfen wir nicht stehenbleiben, ohne sie zu bewerten, in einen größeren Kontext zu stellen, und aus dem Konkreten allgemeine Lehren abzuleiten.
Und auf diese Weise stoßen wir vor zu einer Fülle von strittigen Themen, die in der Politik immer wieder auftauchen und deren generelle Klärung für die durchdachte politische Praxis hilfreich ist. Dazu etliche Beispiele, die hier ungeordnet scheinen, sich aber als Elemente politischer Kultur in ein Gesamtbild einfügen lassen:
- Gesinnungs- und Verantwortungsethik
- Mehrheit und Wahrheit
- Grenzen des Mehrheitsprinzips
- Grenzen der Transparenz
- die Logik der Macht
- manifeste Macht als latente Schwäche
- was wir Montesquieu verdanken
- die Rolle von Parteien
- Ordnungspolitik
- Gut und Böse als Freiheitsproblem
- Pflicht vor Kür
- Krisenmanagement und Krisenvorsorge
- Staatsversagen als Lernprozess
- antizyklisches Verhalten
- Tatendrang und Gedankenblässe
- wichtig oder eilig
- Wissen über unser Nichtwissen
- bedingte und unbedingte Entscheidungen
- der Wert der Retrospektive
- berechtigte und naive Erwartungen an die Politik
- Storytelling und Erwartungsmanagement
- Probleme als Erfolgsgaranten
- Der Wahlerfolg als Krone der Schöpfung?
- woher kommt Bürokratie
- Glaubwürdigkeitsaspekte
- Realpolitik – das kleinere Übel
- schreckliche Vereinfacher
- populär/populistisch
- Beifall von der falschen Seite?
- die Rolle der Sprache und der Inszenierung
- Skepsis als erste Bürgerpflicht
- die Apokalypse als ultimative Rechtfertigung
- der Unfehlbarkeitsirrtum
- Corona, Ukraine, Israel – Lehren für das politische Handwerk
- etc. etc.
Darüber zu schreiben und zu lesen geht nicht mal so nebenbei, auch nicht, was den Umfang eines Textes anbelangt, der Kompass Politischer Kultur sein will. Die Dinge müssen entwickelt werden, analysiert, problematisiert und mit Ratschlägen versehen werden. Und zwar so, dass sie für möglichst viele Themen und politische Überzeugungen hilfreich sind.
Um abschließend noch einmal ganz handfest zu werden: Zu den ungeschriebenen und unbewussten Regeln politischer Kultur treten die klaren und verbindlichen Regeln des Staats- und Verfassungsrechts hinzu. Wir können uns mit unserem Grundgesetz glücklich schätzen, seine Grundrechte, Staatsziele, vor allem aber auch seine "geschäftsleitenden" Bestimmungen für die Ordnung unseres Staates (die den weitaus größten Teil unserer Verfassung ausmachen), müssen nicht nur verstanden, sondern auch gelebt werden. Und wenn es dann gelingt, einige bislang ungeschriebene "Geschäftsordnungsregeln" (zum Beispiel die Rolle der Kommunen als Anwälte der praktischen Vernunft oder eine parlamentarisch geregelte Fehlerkultur) für unser Gemeinwesen durch Verfassungsergänzungen zu institutionalisieren und verbindlich zu machen, dann wird die gute Verfassung, die wir haben, fortentwickelt, damit wir auch in guter Verfassung sind. Und dann wird der scheinbar blumige, wohlriechende, aber flüchtige Duft politischer Kultur aufkonzentriert zu einer Essenz mit anhaltender Wirkung.
Ulrich Müller
Ulrich Müller (RC Ravensburg) hat als Jurist und Politiker über mehr als vier Jahrzehnte nahezu alle Facetten von Legislative und Exekutive beruflich kennengelernt und stets kritisch analysiert. Nach seiner Berufstätigkeit hatte er Muße, Distanz, Überblick und Freiheit, ein Substrat seiner Beobachtungen (ohne jede Autobiographie) zu Papier zu bringen und so etwas wie eine Grundlegung unserer politischen Kultur in Ist und Soll zu entwickeln, die hilft, Politik zu verstehen, zu erklären, zu betreiben und zu verbessern.