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Künstliche Intelligenz auf der Schiene

Titelthema - Künstliche Intelligenz auf der Schiene
Mit Sensorik, Vernetzung und einer „verteilten Künstlichen Intelligenz“ können Züge künftig dichter hintereinanderfahren © DB AG/Max Lautenschläger

Die Vernetzung digitaler Systeme prägt die vierte industrielle Revolution. Sie hat auch das Potential, die Mobilität auf der Schiene zu revolutionieren

01.02.2019

Die Bahn war das „Startup“ der ersten industriellen Revolution – und damit schon einmal Treiber einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung. Heute, mehr als 180 Jahre später, stecken wir mitten in der vierten industriellen Revolution, die – mit Sensorik und Kommunikationstechnik als Steigbügelhalter – maßgeblich von Künstlicher Intelligenz getrieben sein wird.

Die Chancen stehen gut, dass die Bahn in einer vernetzten Mobilität 4.0 wieder eine tragende Rolle spielen wird. Denn die Bahn als energie- und transporteffizientestes sowie umweltfreundlichstes Verkehrsmittel bildet eine Säule, um die herum sich schon jetzt viele neue Mobilitätsformen und -angebote ansiedeln, die vielfach von den gleichen Fahrgästen genutzt werden. Damit ergeben sich immense Potentiale für Schienenunternehmen, weg vom reinen Bahnbetrieb und hin zu einem systemübergreifenden Mobilitätsanbieter.

Integrierte, intelligente Mobilitätslösungen sollen unseren Kunden die Organisation ihrer täglichen Wege und damit ihr Leben leichter machen. Dafür ist es notwendig, dass wir uns bewegen. Schnell. Wir müssen unser einzigartiges Know-how aus 180 Jahren Eisenbahnerfahrung mit neuen Technologien verbinden. Wir sind Mobilitätsdienstleister und Logistiker, aber wir sind auch ein Technologieunternehmen und müssen unsere Technik beherrschen. Um es bildlich zu sagen: Wir müssen unsere Züge nicht selber bauen, aber wir sollten es im Grundsatz können. Gleiches lässt sich auf autonome Busse, vernetzte LKW oder Kundenplattformen übertragen.

Kaum ein Markt ist dermaßen in Bewegung wie der Mobilitätsmarkt. Es muss uns gelingen, neue Kompetenzen aufzubauen, etwa auf den Feldern der KI, der Robotik, im Bereich Data Science und so weiter. Technologische und digitale Neuerungen gibt es wie Sand am Meer. Wir müssen in der Lage sein, die Innovationen hinsichtlich ihrer Relevanz für unser Geschäft zu bewerten, entsprechende Kompetenzen schnell aufzubauen und neue Produkte und Geschäftsmodelle zu entwickeln.

In den letzten Jahren hat die Digitalisierung bei der DB immer mehr an Fahrt aufgenommen. Projekte wurden aus der Taufe gehoben, neue Einheiten gegründet, Innovationen auf die Schiene und die Straße gebracht. Es lassen sich viele Beispiele nennen: Der deutschlandweit erstmalige Einsatz eines autonomen Busses im öffentlichen Straßenverkehr in Bad Birnbach in Niederbayern, der weltweit erste Praxiseinsatz von Lkw-Platoons oder Multicopter-Flüge zur Begutachtung von Bahn-Trassen, Brücken oder Bahnhofsgebäuden sowie der zunehmende Einsatz von Sensorik an Weichen, Fahrtreppen und Aufzügen zur vorausschauenden Instandhaltung.

Die Geschwindigkeit, mit der die digitale Entwicklung allgemein voranschreitet, ist enorm. Vielen Entwicklungen, gerade auch KI und Robotik, haftet nach wie vor ein Hauch von Science-Fiction an. Hier liegt jedoch ein massives Missverständnis vor: Mit den traditionellen Mitteln lassen sich die notwendigen Kapazitätszuwächse nicht bewältigen. Es muss uns klar sein, dass die neuen Technologien weder abgehoben noch fantastisch sind, sondern bereits jetzt und zunehmend mehr Teil der Lösung für alle dringenden Aufgaben in unserem Kerngeschäft und darüber hinaus. Neue Technologien, allen voran KI, sind der größte Hebel, den wir je hatten – für unsere Prozesse, für mehr Qualität und Pünktlichkeit und für mehr Service an der Kundenschnittstelle. Sie sind auch der Hub für mehr Kapazität und damit mehr Verkehr auf der Schiene sowie für neue Mobilitätsangebote, die die Bahn sinnvoll ergänzen.

Züge mit Hirn?
Nehmen wir zum Beispiel den Fall, dass bei einem Sturm ein Baum ins Gleis fällt. Warum kann das Gleis nicht sagen, dass etwas auf ihm liegt, was da nicht hingehört, etwa mithilfe eines Gewichtssensors? Warum können Schiene oder Baum nicht direkt die Leitstellen oder den sich annähernden Zug informieren? Mehr noch: Unter Einsatz von KI könnten nicht nur Informationen verteilt, sondern konkrete Prozesse und Aktionen angeschoben werden, etwa eine automatisierte Abbremsung des Zuges noch vor Sichtweite. Zudem kann KI dafür sorgen, dass der Mitarbeiter mit der Kettensäge anrückt, der den Baum beseitigt.

Durch Sensorik, etwa an Aufzügen, und leistungsfähige Netze, die für einen reibungslosen Datenfluss sorgen, kommen wir zu einer ganz anderen Transparenz – wir können den Zustand unserer Züge und der Infrastruktur erfassen, kommunizieren und visualisieren. Durch KI werden die einzelnen Systemkomponenten – von Schienen über Züge bis zum Handy des Instandhalters – nun zudem schlau. Sie kommunizieren miteinander, verwerten Informationen und stoßen konkrete Prozesse und Aktionen automatisiert an. Der Bahnbetrieb der Zukunft ist aus dieser Perspektive ein System verteilter, künstlicher Intelligenz. Züge können künftig beispielsweise dichter hintereinanderfahren, weil der hintere in Echtzeit merkt, dass der vordere bremst. Bis zu 20 Prozent mehr Kapazität und tausende Züge mehr pro Tag können wir dadurch ins Netz bringen.

„Digitale Schiene Deutschland“
Neue Kapazitäten, ohne neu zu bauen: Bis vor kurzem kaum vorstellbar, ist das der Kern des Programms „Digitale Schiene Deutschland“ (DSD). Die Basis dafür bilden das europäische Zugsicherungssystem „European Train Control System“ (ETCS) und digitale Stellwerke. Die Technologien dafür sind ausgereift und eröffnen völlig neue Möglichkeiten. Auf der Strecke München–Berlin kommt ETCS bereits zum Einsatz. Auf dem Neubauabschnitt fahren Hochgeschwindigkeitszüge mit bis zu 300 km/h und bringen Menschen in Rekordzeit, nämlich in unter vier Stunden, von Stadt zu Stadt. Die Züge werden über das Zugleitsystem ETCS nicht mehr über Signale entlang der Bahnstrecken, sondern zentral über Funk gesteuert. In Verbindung mit digitalen Planungs- und Dispositionsprozessen wird dadurch eine erheblich bessere Ausnutzung der Infrastruktur möglich.

ETCS ist zudem Basis für Zukunftstechnologien wie hoch entwickelte Sensorik zur Objekterkennung oder leistungsfähige Echtzeit-Ortungssysteme, um den Bahnbetrieb in Zukunft vollständig zu digitalisieren. In diesem Zusammenhang spielt auch eine schnelle und zuverlässige Datenübertragung eine wichtige Rolle. Mit dem „advanced TrainLab“, unserem neuen Versuchszug, erproben wir derzeit auf dem Testfeld der Schnellfahrstrecke Nürnberg–Ingolstadt den Einsatz der 5G-Technologie. Mit 5G können Daten hundert Mal schneller als über den aktuellen Standard durch das Netz geleitet werden. So können auf Grundlage der 5G-Technologie Daten aus Sensoren an Zügen und Infrastrukturanlagen übermittelt werden, wodurch Kapazität und Qualität auf der Schiene signifikant erhöht werden können.

Blockchain für transparente und fälschungssichere Prozesse
Eine der vielversprechendsten Zukunftstechnologien ist Blockchain. Ihren Siegeszug hat Blockchain als Basistechnologie hinter den Kryptowährungen wie Bitcoin begonnen. Ihr Einsatz ist jedoch in vielen weiteren Branchen denkbar. Auch wir als DB arbeiten bereits an diversen Anwendungsfeldern. Ein konkretes Projekt ist eine blockchainbasierte Plattform zur Einnahmeaufteilung im Regionalverkehr.

Immer mehr Menschen nutzen den ÖPNV in Deutschland. Gleichzeitig gibt es auch immer mehr Anbieter, neben Eisenbahnverkehrsunternehmen und Busbetreibern auch Carsharing-Anbieter, Mietfahrradsysteme und Ridesharing-Dienste. Reisende wollen öffentliche Verkehrsmittel so einfach wie möglich nutzen – ohne auf Verbundgrenzen, Anbieter oder Tarife achten zu müssen. Schon heute ist es sehr komplex, eindeutig zu ermitteln, welche Einnahmen auf welchen Anbieter entfallen. Nahtlose Reiseketten, die immer mehr Anbieter integrieren, erschweren die eindeutige Zuordnung von Umsätzen zusätzlich. Lösung könnte eine neue blockchainbasierte Plattform sein, die wir entwickelt haben. Die Anwendung ermöglicht eine schnellere und tiefere Integration und Verrechnung zwischen verschiedenen Mobilitätsanbietern, indem sie zu jeder Zeit Transparenz darüber schafft, wer wann wie viele Tickets verkauft hat.

Andere Projekte setzen an unseren Zügen und unserer Infrastruktur an. Mithilfe von Blockchain-Technologie könnten wir den gesamten Lebenszyklus einzelner Objekte – etwa Weichen, Schienen oder Züge – transparent abbilden. Auf diese Weise sind alle Details über die Herstellung, den Einsatz, Wartung und Instandhaltung zu jeder Zeit verfügbar. In Kombination mit anderen Technologien, etwa Sensorik, Künstliche Intelligenz oder Big Data, können wir so beispielsweise einen möglichen Verschleiß oder Schädigungen zu einem viel früheren Zeitpunkt vorhersagen als heute. Das verkürzt Reparaturzeiten und erhöht die Sicherheit.

Die Eisenbahn war das Startup der ersten industriellen Revolution: sie veränderte die gesamte Gesellschaft, in dem sie Distanzen überwand, Kulturen zueinander brachte, den Horizont des Individuums erweiterte. Schienengebundene Systeme sind inzwischen gereift. Sie können vielleicht gerade deshalb im digitalen Zeitalter wieder wertvolle gesellschaftsgestaltende Beiträge leisten. Sie haben drei Vorteile: hohe Kapazität, gute Umweltbilanzen – und sie bieten beim Reisen schon jetzt die Zeit, die uns das autonome Auto erst noch schenken will. Die neuen Technologien, allen voran KI, versetzen uns jetzt in die Lage, dieses Potential voll auszuschöpfen – und darüber hinaus, die Bahn und Bahntechnologien zu einem Aushängeschild für den Technologie- und Digitalisierungsstandort Deutschland zu machen. 

Sabina Jeschke