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Landtreter im Feuer

Titelthema - Landtreter im Feuer
Martin Broen, Mexico:Diese Aufnahme entstand im Unterwasser-Höhlensystem „Dos Pisos“, einem riesigen Labyrinth aus Tunneln, dessen Entstehung Jahrtausende dauerte und das bei der Überflutung der Höhlen vor 8000 Jahren erhalten blieb. © Martin Broen

Carl Schmitts Meeresphobie (horror maris) und die Frage, wie sich sein Denken auf die Gegenwart übertragen lässt.

Reinhard Mehring01.07.2022

Carl Schmitt (1888–1985) war kein Rotarier. Er war Jurist, Staatsrechtsprofessor vor allem in Bonn und Berlin, antiliberaler „Kronjurist“ des Weimarer Präsidialsystems wie des Nationalsozialismus, seit 1933 auch bekennender Antisemit. Das liberale und humanitäre Ethos der Rotarier war ihm fremd, und er hätte es ideengeschichtlich wohl bis auf die Freimaurer und das „Lied von der Aufklärung“ zurückgeführt, das Mozarts Zauberflöte als Kampf der Sonne gegen die Nacht intonierte und dem Schmitt 1923, in seinem Bekenntnis zur autoritären politischen Form des Katholizismus, eine „diabolische Ironie gegen den Durchschnittsmenschen“ bescheinigte. Schmitt betrachtete das liberale und humanitäre Ethos als eine trügerisch-betrügerische Fassade, als Licht- oder Kehrseite des modernen Kapitalismus. Als Ursprungsort und Träger dieses liberal-humanitären Ethos identifizierte er nach 1918 England und die USA. Die Friedensordnung von Versailles und den Genfer Völkerbund nannte er das Instrument eines modernen „ökonomischen Imperialismus“. Er radikalisierte die Kapitalismuskritik von Karl Marx dabei in nationalistischer Wendung, indem er geopolitische Voraussetzungen der Entstehung des modernen Kapitalismus betonte. Für ihn war es kein Zufall, dass gerade England zum Mutterland des Kapitalismus und der Industrialisierung wurde. Dafür bot er seit den 1940er Jahren verstärkt eine mentalitäts- und technikgeschichtliche Lesart und Meistererzählung an, die er in seinem Reclam-Büchlein Land und Meer (1942) in die literarische Form einer Gute-Nacht-Geschichte oder märchenhaften Erzählung für seine kleine Tochter Anima verkleidete. Während Marx und der Marxismus die Weltgeschichte als Geschichte von Klassenkämpfen aufgefasst hatten und das Kommunistische Manifest 1848, noch vor dem Ende der Adelsherrschaft, die endgeschichtliche Entscheidungsschlacht zwischen Kapitalisten und Proletarier um die Industriegesellschaft visionierte, sprach Schmitt nun von der Weltgeschichte als einer Geschichte der „Landnahmen“ und einem weltpolitischen Ringen zwischen kontinentalen Landmächten und maritimen Seemächten.

Gegensatz der Elemente

Schmitt stammte aus Plettenberg im Sauerland. Dort wuchs er auf, dorthin kehrte er nach 1945, nach seinem nationalsozialistischen Engagement, nach über einem Jahr Arrest in einem Berliner „Camp“ und einigen Wochen in Nürnberger Haft, ohne Anklage als Mitläufer entlassen, im Frühjahr 1947 wieder zurück, um bis ins höchste Alter, fast 40 Jahre noch, als charismatischer Menschenfischer rechtsintellektuell zu wirken. Schmitt übersetzte „Sauerland“ mit „nasses Land“. 1954 publizierte er in einem Merian-Heft über das Sauerland einen Beitrag, in dem er einen „erfahrenen Bauern“ zustimmend zitierte: „Ich will nicht sagen, dass es bei uns im Sauerland immer regnet, aber wenn es nicht regnet, hat es doch immer Lust zu regnen.“ Man dürfe beim Sauerland aber nicht nur an Regen denken: „Das Land der tausend Berge ist auch das Land der tausend Quellen.“ Schmitt führte aus, dass es diese Herkunftsprägung gewesen sei, die ihn auf die geopolitische und mentalitätsprägende Bedeutung der Elemente und namentlich des Meeres aufmerksam werden ließ. Eingangs berichtete er: „An einem verregneten Ferientag des Sommers 1940 quälte mich meine zehnjährige Tochter, ihr etwas zu erzählen. […] Damals beschäftigten mich Fragen aus dem Völkerrecht des Meeres. Um nun in dem Bereich meines völkerrechtlichen Themas zu verbleiben und dem Kinde seinen Willen zu tun, fing ich an, von Piraten und Waljägern zu sprechen. Unversehens geriet ich in das Element des Meeres, das mir bis dahin fremd war. Die ganze Weltgeschichte öffnete sich plötzlich unter dem neuen Aspekt des Gegensatzes der Elemente Land und Meer. Daraus ergaben sich überraschende Einblicke und Erkenntnisse. So entstand die kleine Schrift Land und Meer, eine weltgeschichtliche Betrachtung, die in Reclams Universal-Bibliothek erschienen ist.“

Das Element des Meeres war ihm „bis dahin fremd“? Schmitt studierte in Berlin, München und Straßburg. Während des Studiums befreundete er sich eng mit dem Sohn einer reichen jüdisch-ungarischen Hamburger Verlegerfamilie, die erst am Beginn des Ersten Weltkriegs unter der Auflage naturalisiert wurde, dass die beiden Söhne in die Armee eintraten. Fritz Eisler fiel wenige Wochen nach Kriegsbeginn, Schmitt übertrug seine Freundschaft auf den jüngeren Bruder Georg Eisler, der bis 1933, bis zur nationalsozialistischen Entscheidung, sein engster Freund blieb. Oft kam Schmitt nach Hamburg und lernte dort das hanseatische Flair kennen. Von intensiven Nordseeerlebnissen ist in den zahlreichen erhaltenen Ego-Dokumenten aber nicht die Rede. Als Schmitt sich 1925 auf eine Verlobungstour mit seiner späteren zweiten Frau begibt, heißt es einmal: „Wir badeten jeden Tag, meist nach dem Essen, wunderschön, in der Adria.“ (Tagebuch, 29.8.1925) Ein passioniertes Schwimmen in Seen und Flüssen, wovon Bert Brecht dichtete, ist aber nicht bezeugt.

In seinem Büchlein Land und Meer nennt Schmitt den Menschen einen „Sohn der Erde“, er erzählt von „Seeschäumern“ und „Landtretern“. Der Eröffnungssatz lautet: „Der Mensch ist ein Landwesen, ein Landtreter.“ Seine politische Theorie geht anthropologisch vom unbeugsamen Freiheitsdrang und der Herrschaftsbedürftigkeit des Individuums aus, vom Gegensatz von „Autorität“ und „Anarchie“. Schmitt betonte die Polarisierung von „Freund“ und „Feind“. Getreten, polemisch diskriminiert, hat er seine Gegner oft, seit 1933 auch und gerade die jüdischen Intellektuellen, Avantgarde liberaldemokratischer Modernisierung, mit der er den engsten Umgang gesucht hatte, weil sie ihm besonders lehrreich und interessant schien.

Der Nationalsozialismus ein Leviathan?

Es klang bereits an, dass Schmitt als kontinentaler, „terraner“ Denker irgendwie gegen das Meer optierte. Literarisch begabt assoziierte er die Spannung von Land und Meer, Landmächten und Seemächten, dabei auch mit der alttestamentarischen Mythologie von Leviathan und Behemoth. 1938 hatte er mit seinem Buch Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes versucht, das „politische Symbol“ und Schreckbild vom Leviathan für die nationalsozialistische Konstruktion eines „totalen Staates“ zu erneuern. Die liberale Kritik am totalen Staat schrieb er dabei einer „jüdischen“ Auslegungstradition und „Front“ zu. Empfahl er dem Nationalsozialismus propagandistische Angst- und Terrorpolitik? Oder entlarvte er ihn als Leviathan?

Thomas Hobbes hatte im 17. Jahrhundert bereits zwischen Leviathan und Behemoth unterschieden. In der mythologischen Tradition ist die säuberliche Trennung als Land- und Meeresungeheuer kaum möglich. Schmitt mythisierte das Weltkriegsgeschehen aber bis zum Beginn des Russlandfeldzugs als Kampf zwischen Leviathan und Behemoth. In einer letzten Kriegsapologie von 1943 spricht er von einer Monsterschlacht von Behemoth, Leviathan und Greif: Behemoth und Greif, Luft und Meer, verbündeten sich also gegen das Landungeheuer des nationalsozialistischen Leviathan. Schon 1942 publizierte Schmitt im mythologischen Kleid die Prognose, dass Vogel Greif siegen werde und sich der Zweite Weltkrieg an der Lufthoheit entscheidet. Dabei betonte er eine besondere Affinität von Meer und Luft, See- und Luftkriegsführung, und die besondere Rücksichtslosigkeit, den normativen „Nihilismus“, den solche Formen des Fernkriegs, der Vermeidung direkter Konfrontationen von Mann zu Mann, brächten.

Luft und Feuer

Das Büchlein Land und Meer beginnt heiter und unterhaltsam, erzählt von früheren Seemächten wie Venedig und von den Waljägern als „ersten Helden einer maritimen Existenz“, von den Piraten und Korsaren des elisabethanischen Zeitalters, der „Raumrevolution“ nautischer Erschließung und Entdeckung Amerikas und vom weltpolitischen Aufstieg der „Insel“ England. Das scheinbar so unterhaltsame, verplauderte Heftchen wechselt dann aber am Ende plötzlich den Ton, spricht den aktuellen Kriegsgegner an und thematisiert Unterschiede in den Strategien und kriegsrechtlichen Vorstellungen von Seemächten und Landmächten. „Ein innerer Wandel hatte das elementare Wesen des großen Leviathan berührt. […] Die große Seemacht wurde gleichzeitig die große Maschinenmacht“ (LM, 96 f.). Elektrizität, Flug und Funkwesen bewirkten ein „neues Stadium der ersten planetarischen Raumrevolution“ (LM, 103).

Schmitts kühne Konstruktionen und Spekulationen müssten technik- und kriegsgeschichtlich genau geprüft werden. Es liegt heute leider nur zu nahe, den Zusammenhang zwischen Luft und Feuer, militärischer Erschließung des Luft- und Weltraums und der Entfesselung der Feuerkraft auf dem Stand heutiger Kriegsführung zu bedenken und etwa den Ukrainekrieg zu thematisieren. Russland, die eurasische Landmacht, versucht der Ukraine gerade den Zugang zum Meer abzuschneiden. Ihr verzweifelter Verteidigungskampf wird von der Nato nicht zuletzt logistisch unterstützt. Wichtiger als Raketen und Flugzeuge könnte hier Satellitentechnik sein.

Deutschland liefert im „Ringtausch“ nur veraltete schwere Waffen. Schmitt lehrt dagegen, dass Kriege durch technologische Innovationen entschieden werden. Er lehrt auch, dass der Mensch sich weltgeschichtlich immer mehr aus seinem Element entfernt und seine natürlichen Ressourcen verheizt und verfeuert. Seine Schriften zum Zweiten Weltkrieg reklamierten „Mitteleuropa“ bis 1942 mit nationalistisch-revanchistischem Tenor für das nationalsozialistische Deutschland und forderten „Nichtintervention“ von „raumfremden Mächten“. Heute werden sie von „Putin-Verstehern“ und neonationalistischen Epigonen gelegentlich sehr leichtsinnig und obszön zugunsten des russischen „Bären“ ausgelegt. Putins revanchistische Denkwelt scheint mit ihrer Rede von „Einflusssphären“ und Imperien tatsächlich mit Schmitts Schriften einigermaßen kompatibel zu sein. Schmitt dachte aber radikal geschichtlich. Gewiss würde er heute anders denken, wenn auch nicht in Kategorien der liberalen Demokratie und der „westlichen Hemisphäre“.


Buchtipp

 

Reinhard Mehring

Carl Schmitt – Aufstieg und Fall

C. H. Beck 2022, 731 Seiten, 38 Euro