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Lasst die Türen offen

Titelthema - Lasst die Türen offen
Lemberg 14.03., Tatjana, 22, verabschiedet ihren Freund Oleksander, 23, an einer Kaserne in Lemberg. Oleksander hat seine Einberufung erhalten. © Florian Bachmeier fürs Rotary Magazin

Auf kultureller Ebene reißen viele Verbindungen nach Russland ab. Es wäre ein fataler Fehler, alles Russische mit Putins Machtpolitik gleichzusetzen.

Kathinka Dittrich van Weringh01.04.2022

Der völkerrechtswidrige Angriff, befohlen vom russischen Präsidenten Wladimir Putin, gegen den souveränen Staat Ukraine hat in vielen Teilen der Welt für Empörung gesorgt – auch in Russland. Und er hat auch dort in der Kunstszene, trotz Gefahr für Leib und Leben, für Protest gesorgt und zu harten wirtschaftlichen Sanktionen des Westens gegen Russland geführt. Heute sind die über Jahre entwickelten kulturellen Beziehungen zu Russland gefährdet. Wie könnten und wie sollten sie bewahrt beziehungsweise weiter gestaltet werden, wenn dieser Krieg einmal endet?

Diese Frage wäre mir im September 1989, als ich in Moskau landete mit dem Auftrag, dort aus dem Nichts ein Goethe-Institut aufzubauen, völlig absurd erschienen. Aufbruchstimmung lag in der Luft. Die sowjetischen Ministerien boten mir jede Hilfe an. Das sowjetische Fernsehen lud mich zu einem Interview ein. Daraufhin meldeten sich mir unbekannte Menschen mit dem Wunsch, bei mir zu arbeiten oder mich auf meinen Entdeckungsfahrten durch die offizielle wie nicht offizielle Moskauer Kunstwelt zu begleiten. Künstler und Leiter von Kunsteinrichtungen aller Sparten, auch Geisteswissenschaftler aus den in Sowjetzeiten unterdrückten Fächern wie Soziologie oder Philosophie baten um Unterstützung, um Kontaktadressen in Deutschland, Europa, um Stipendien und vor allem um gemeinsame Veranstaltungen. Der Informationsbedarf war immens, die Erwartungshaltung riesig.

Pina Bausch kam – ein Riesenerfolg

Ein Netzwerk von Partnern entwickelte sich. Ich wurde gut von ihm beraten. Das galt auch für die später aus Deutschland Entsandten, die sich der pädagogischen Verbindungsarbeit, der Bibliothek und den Sprachkursen widmeten. Aus Partnern wurden Freunde und bleiben es bis heute. Auf meinen regelmäßigen Reisen nach Russland, nicht nur nach Moskau, sprechen wir über die jeweilige politische Lage mit kulturpolitischen Auswirkungen, heute meist auf der Straße, die ist abhörsicherer.

2022, titelthema, dittrich
Lemberg, 12.3., Noch immer flüchten Tausende jeden Tag in die umliegenden Länder, die meisten nach Polen. Die westukrainische Stadt Lemberg hat sich in einen vermeintlich sicheren Hafen verwandelt, Hunderttausende sind in der Stadt geblieben. Das Bild zeigt Flüchtende am Bahnhof, die versuchen, in einen der Züge zu gelangen, die nach Przemyśl (Polen) fahren. © Florian Bachmeier fürs Rotary Magazin 

Abgesehen von den erwünschten Informationsprogrammen, von Symposien mit Kulturpolitikern aus West- wie Ostdeutschland, aus Russland und anderen mittel- und osteuropäischen Ländern zur Frage „Wie gestaltet sich die Wende in Deutschland?“, beschäftigte mich damals die Frage, an welche gemeinsamen künstlerischen Traditionen aus vorsowjetischer Zeit wir anknüpfen könnten. Naheliegend war da unter vielen anderen Themen die Ballett-Tanzszene. Also luden wir auf Bitte der Moskauer Theater Pina Bausch mit dem Wuppertaler Tanztheater ein. Es wurde ein Riesenerfolg. Auch dank der Sensibilität von Pina Bausch, die viele Gespräche führte und Kontakte knüpfte. Und darum ging es ja. Die Aufgabe eines Goethe-Instituts ist es nicht, deutsche Kultur in die Welt zu exportieren, sondern, soweit möglich, ein „Wir“ zu schaffen, die Zusammenarbeit zu betonen.

Memorial war weder Anfang noch Ende

Als Treffpunkt für deutsche, russische, ukrainische Künstler, Intellektuelle welcher Nation auch immer, war unsere geräumige Wohnung ideal, zumal es angesichts der damaligen schlechten Versorgungslage kaum Cafés oder Restaurants gab. Die Wohnung war uns von der für Ausländer zuständigen sowjetischen Behörde zugewiesen worden. Akzeptierte Ausländer wurden in Ausländerghettos untergebracht. Wir also zogen in das sogenannte Deutsche Haus, gelegen an der Taras-Schewtschenko-Straße, benannt nach einem der wichtigsten ukrainischen Nationaldichter (1814–1861), sozusagen ein ukrainischer Goethe, der scharfe Kritik an der zaristischen Herrschaft geübt hatte und dafür mit Verbannung und Folter büßen musste. Wie lange wird die Straße noch so heißen? Schewtschenko passt nicht in Putins Geschichtsbild, in seine „russische Welt“.

Als uns 1990 das Gebäude der abziehenden DDR-Botschaft als Sitz des Goethe-Instituts zugewiesen wurde, ein nach außen wie im Inneren verriegelter, abweisender Bunker, war mir klar: alle Fenster und Türen öffnen, um ein offenes Begegnungszentrum zu schaffen, im größten für Staatsempfänge gedachten Saal die Bibliothek und das Informationszentrum einrichten, mit Computern ausgestattet, um Kontakte auch mit Bibliotheken außerhalb Moskaus, beispielsweise in der Ukraine, zu erleichtern.

Wir, die Entsandten und die wachsende Zahl der russischen Ortskräfte, waren ein engagiertes, verschworenes Team. Keiner von uns ahnte, welche Schrecken die Zukunft bringen würde. Noch sahen die ersten unabhängigen Medien, die sich auch für die kulturellen Beziehungen mit dem im Kalten Krieg verfeindeten Westen als Rezensenten oder Mitakteure interessierten, große Entwicklungschancen, und wir mit ihnen als Partner waren ehrliche, willkommene, kritische Stimmen. Alles längst vorbei. Die meisten Redakteure sind geflohen. Noch durfte mein niederländischer Mann, Professor der Kriminologie, Jac. van Weringh, sowjetische Gefängnisse besuchen, und ungestört über deren desolate Situation in niederländischen Zeitungen berichten. Auch durfte er – auf Bitten eines belarussischen Diplomaten – aus seiner riesigen internationalen Sammlung politischer Karikaturen eine kritische Ausstellung über die internationale Lage für das russische Theater in Minsk zusammenstellen, gelobt von der damaligen Regierung und den Besuchern. Noch glaubte niemand, dass Putin seine Drohrede vor der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 in Taten umsetzen würde.

Den Ernst der Lage für die drei Goethe-Institute in Russland sowie für andere ausländische Kulturinstitute, für große wie kleine, staatliche wie private russische kulturelle Einrichtungen, die längerfristige Absprachen mit ihren europäischen Counterparts getroffen hatten, begriff ich erst später. Im Jahr 2012 hatte Putin ein Gesetz von der Duma, dem russischen Parlament, abnicken lassen, das allen russischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) befahl, sich öffentlich, auf allen Briefköpfen, als „ausländischer Agent“ zu bezeichnen, falls auch nur ein Cent ausländischen Geldes in ihre Kassen floss. Am härtesten traf dieses Gesetz den Dachverband von Memorial in Moskau mit einem kompletten Verbot Ende 2021. Memorial, ein Partner des Goethe-Instituts, hatte sich seit Gorbatschows Zeiten nicht nur um die Aufklärung der Verbrechen Stalins bemüht, sondern auch heutige Menschenrechtsverletzungen in Russland aufzuklären versucht.

Viele Kollegen flüchten, andere bleiben

Oder: 2013 wurde dem Goethe-Institut in Moskau der Aleksandr-Men-Preis verliehen, gestiftet von der Bibliothek für Ausländische Literatur in Moskau und der Diözese Rottenburg/Stuttgart. Er galt dem Andenken an den 1989 ermordeten russischen Priester, Religionsphilosophen und Befürworter interreligiöser und interkultureller Zusammenarbeit. Natürlich war ich, die erste Preisträgerin 1995, bei diesem Festakt dabei. „Das Preisgeld von 2600 Euro stiften wir dem sehr anerkannten interkulturell arbeitenden Theaterstudio Kroog“, sagte mir der damalige Direktor des Moskauer Goethe-Instituts. „Nein, das dürfen wir doch nicht“, war die Reaktion der russischen Verwaltungsmitarbeiter. Unsicherheit und Angst hatten sich ausgebreitet. Dank buchhalterischer Kreativität landete das Geld aber doch dort.

Durch den russischen Überfall auf die Ukraine verschlechterte sich die Lage dramatisch. Alle öffentlichen Veranstaltungen, auch die bereits angekündigten, mussten die Goethe-Institute in Russland absagen. Die verunsicherten Partner fürchteten, dass die Wächter Putins in diesen irgendetwas Strafbares entdecken könnten – zu ihrem Schaden. Hauptsächlich über das Internet läuft der Restbetrieb weiter. Das Goethe-Institut in Kiew arbeitet auf Sparflamme. Die Entsandten wurden auf Anweisung des Auswärtigen Amtes schon vor der russischen Invasion abgezogen. Einige der 115 Ortskräfte konnten sich rechtzeitig absetzen, andere sind auf der Flucht in die Nachbarländer und werden von den dortigen Goethe-Instituten versorgt, auch finanziell. Die meisten aber sind geblieben.

Geld spenden und die Künstler schützen

Das führt zurück zu der eingangs gestellten Frage: Was können wir alle für die betroffenen Kulturschaffenden in der Ukraine, aber auch in Russland, tun? Wie können wir die über Jahre geschaffenen kulturellen Beziehungen bewahren, weiterleben lassen?

Die dringlichste Antwort heute heißt: Geld spenden. So hat beispielsweise der „Verein zur Unterstützung in Not geratener Ortskräfte des Goethe-Instituts“ zu einer großen Spendenaktion aufgerufen. Auch viele große und kleine deutsche kulturelle Einrichtungen rufen zu Spenden auf. Der Deutsche Kulturrat, Dachverband aller deutschen Kulturverbände, listet auf seiner Webseite kulturrat. de die Spendenaufrufe für ukrainische und russische Künstler als Orientierungshilfe auf.

Es wäre fatal, alles Russische mit Putins Machtpolitik gleichzusetzen. Viele Russen aus der Kulturwelt haben ihre Ämter niedergelegt, haben Protestbriefe unterschrieben, sind geflohen. Ich nenne ihre mir bekannten Namen nicht, um sie nicht weiter zu gefährden.

Unangemessen erscheint mir auch, die vielen in Europa arbeitenden russischen Künstler wie Wissenschaftler zu einer Pro- oder Contra-Putin-Stellungnahme zu zwingen oder sie zu entlassen. Nein, es ist nicht ihr Krieg, es ist Putins Krieg.

Hilfreich sind die vielen Solidaritätsveranstaltungen mit ukrainischer und russischer Kunst. Ebenso wichtig ist es, die oft unterbrochenen offiziellen Beziehungen mit russischen Kultureinrichtungen auf privater Ebene fortzusetzen. Nicht zuletzt sollten wir den vielen geflohenen Künstlern zu Arbeitsmöglichkeiten verhelfen, also ihr Selbstwertgefühl stützen. Das Fazit: Wir müssen die Türen offen halten! 

Kathinka Dittrich van Weringh
Dr. Kathinka Dittrich van Weringh arbeitete bei den Goethe-Instituten in Barcelona, New York und Amsterdam, als Abteilungsleiterin in der Zentrale in München und zuletzt als Gründungsleiterin des Goethe-Instituts in Moskau (1989–1994). Anschließend wurde sie Kulturdezernentin der Stadt Köln.