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Liebesgrüße aus Moskau

Titelthema - Liebesgrüße aus Moskau
Jewpatorija: Vor über 2500 Jahren gründeten griechische Kolonisten im Nordwesten der Krim die Stadt Kerkinitis. Heute ist Jewpatorija ein beliebter Ferienort. © Florian Bachmeier

Putin betrachtet die Ukraine als russisches Kernland. Doch tatsächlich erhielt der kleine Bruder vom großen immer nur Prügel.

Christoph Heusgen01.02.2022

Liebe Rotarier, wenn Sie diese Zeilen lesen, wird mit einiger Wahrscheinlichkeit die Lage an der Grenze zwischen Russland und der Ukraine weiterhin kritisch sein. Eine neuerliche Invasion der Ukraine durch Russland kann jederzeit erfolgen. Wir werden in diesen Wochen Zeuge eines Ausbruchs von Spannungen, die sich in den letzten Jahren aufgeladen haben. Zwei Bewegungen kollidieren an den unterschiedlichsten Orten, am heftigsten in der Ukraine.


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Die eine Bewegung geht von der Bevölkerung aus. Die Menschen in Russland und den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion werden der Strukturen überdrüssig, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ausgebildet haben. Bis auf die baltischen Staaten haben sich überall die alten Eliten an der Macht festgeklammert, überall dominieren Oligarchen, Kleptokraten, Angehörige der alten Nachrichtendienste, die sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichert haben und die in autoritären Systemen ihre Vermögen und ihre Macht konservieren. Die Menschen tolerieren diese Strukturen nicht länger, sie gehen auf die Straße, demonstrieren und zetteln Revolutionen an – mit unterschiedlichen Ergebnissen. Im letzten Jahr haben wir das in Weißrussland erlebt, in diesem Januar in Kasachstan. In beiden Fällen gingen die alten Systeme mit brutaler Gewalt gegen die Demonstranten vor und riefen Russland um Hilfe.

Ähnliche Entwicklungen haben wir in den letzten Jahren mit mehr oder weniger starken Gewaltausbrüchen erlebt in Kirgistan, Moldau, Armenien, Georgien und in der Ukraine. In Georgien, Moldau und der Ukraine waren die Menschen erfolgreich, allerdings um den Preis, dass sie einen Teil ihres Landes an Russland verloren: Transnistrien, Südossetien, Abchasien, die Krim, Teile des Donbass fielen als Ergebnis militärischer Auseinandersetzungen an Russland und seine Marionetten. Aber auch in den Ländern, in denen sich die Demokraten durchsetzen konnten, gehen die internen Auseinandersetzungen mit den alten Eliten weiter.

Die Gegenbewegung wird vom russischen Präsidenten Putin angeführt. Putin hat Glasnost und Perestroika nicht als Befreiung vom (Post-)Stalinismus betrachtet, sondern als Niederlage und Demütigung des russischen Reiches, das wiederherzustellen er sich geschworen hat. Und er hat damit zu Hause begonnen: Seit den landesweiten Demonstrationen gegen seine erneute Machtergreifung 2011 hat er die Opposition systematisch eingeschüchtert und verhaften, vergiften, ja umbringen lassen. Seine Hand reicht bis in den Kleinen Berliner Tiergarten, wo ein georgischer Oppositioneller am hellichten Tage vom russischen Geheimdienst getötet wurde: „Staatlichen Terrorismus“ nannte das Berliner Kammergericht dieses Vorgehen. Auch die russische Zivilgesellschaft wird systematisch ausgeschaltet. Vor wenigen Wochen wurden wir Zeuge der Schließung von Memorial, der Organisation, die die Erinnerung an die Schrecken der Stalinzeit wachzuhalten versuchte.

Von ernst zu nehmenden Gegnern keine Spur

Putin verfolgt die Wiederherstellung des Sowjetreiches unter russischer Flagge: Weißrussland hat seine Souveränität an Russland abgetreten, die kasachische Regierung musste Russland zu Hilfe rufen, ohne russische Intervention wäre im vergangenen Jahr die Niederlage Armeniens im Krieg gegen Aserbaidschan noch heftiger ausgefallen. Durch diese Aktionen macht Russland klar, wer Herr im ehemaligen sowjetischen Haus ist. Das gilt auch für Zentralasien. Putins Hauptaugenmerk richtet sich allerdings auf die Ukraine. Die dort mittlerweile erreichte Unabhängigkeit und Demokratie, die aktive Zivilgesellschaft und die Annäherung des Landes an EU und Nato sind Putin ein Dorn im Auge. In einem vulgärhistorischen Aufsatz letzten Sommer hat er allen, die es aus seiner Sicht wissen sollten, klargemacht, dass er die Ukraine, den „Kiewer Rus“, als Kernland Russlands ansieht, den er nicht gewillt ist, an den Westen abzutreten. Jetzt hat er den USA und Europa ein Ultimatum gestellt und militärische Maßnahmen angedroht. Putin perzipiert die USA als schwach, wobei der überhastete Abzug aus Afghanistan und die interne Polarisierung und Blockade in den USA ihn in seiner Annahme bestärken. Putin, der in den letzten Jahren systematisch aufgerüstet und seine Streitkräfte modernisiert hat, sieht auch Westeuropa nicht als ernst zu nehmenden militärischen Gegner an. Deswegen scheint ihm jetzt der Zeitpunkt gekommen, seine nostalgischen Großmachtträume umzusetzen.

Dass Putin mit seinen Aktionen internationales Recht verletzt, stört ihn nicht. Die Charta der Vereinten Nationen, die OSZE-Grundakte und vor allem das Budapester Memorandum von 1994 garantieren die Souveränität und die Unverletzlichkeit der Grenzen der Ukraine. Im Budapester Memorandum hatte die Ukraine die auf ihrem Gebiet stationierten Atomwaffen aufgegeben und von Russland alle Garantien für ihre staatliche Souveränität erhalten. Außenminister Lawrow hatte das Memorandum sogar als Dokument des UN-Sicherheitsrats registrieren lassen. Heute wollen Putin und Lawrow nichts mehr davon wissen. Sie drohen eine weitere Invasion an, sollte die Nato nicht ihre „Open-Door-Politik“ ändern, also die Möglichkeit etwa der Ukraine, Mitglied der Nato zu werden. Auch möchte Putin einen Rückzug aller Nato-Stationierungen auf den Stand der 1990er Jahre. Für Deutschland hieße das zum Beispiel den Rückzug der nach der russischen Ukraine-Invasion nach Litauen zum Schutz des Landes entsandten Soldaten.

Stalin ließ Millionen Ukrainer verhungern

Auch wenn eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato aufgrund des auf dem Bukarester Gipfel 2008 unter anderem von Deutschland eingelegten Grundsatzvorbehalts überhaupt nicht auf der Tagesordnung steht, das prinzipielle Recht sollte gerade der Ukraine nicht abgesprochen werden. Im Übrigen: Anders als Putin dies sieht, haben er und vor allem Stalin die Ukrainer nicht so behandelt, wie man es täte, wenn man das Land als Kern des russischen Reiches sähe. Im sogenannten Holomodor verhungerten in den 1930er Jahren etwa sieben bis zehn Millionen Menschen aufgrund Stalinscher Unterdrückung. Derselbe Stalin war es, der 1945 eine Mitgliedschaft der Ukraine in den Vereinten Nationen durchsetzte – das alles macht man nicht, wenn man die Ukraine als Teil Russlands sieht.

Die Nato, die Europäische Union und die OSZE haben in den vergangenen Wochen besonnen und vor allem gemeinsam auf die russische Aggression reagiert. Sie haben Gespräche angeboten und geführt. Sie sind bereit, über vertrauensbildende Maßnahmen zu reden, die Reduzierung von Militärmanövern oder gegenseitige Abrüstungsmaßnahmen. Gleichzeitig haben sie klargemacht, dass eine weitere Invasion der Ukraine massive Sanktionen zur Folge hätte. Gegenmaßnahmen könnten von einer Suspendierung von Nord Stream 2 über den Ausschluss russischer Banken vom Zahlungsgeschäft bis hin zu einer Bewaffnung der ukrainischen Widerstandskräfte durch die USA reichen. Nur eine gemeinsame, klare und harte Haltung kann Russland von militärischen Schritten abhalten – natürlich immer gepaart mit dem Angebot von Gesprächen.

Christoph Heusgen

Dr. Christoph Heusgen war ab 2005 außen- und sicherheitspolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Von 2017 bis 2021 war der Diplomat Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen. In diesem Februar übernimmt er den Vorsitz der Münchner Sicherheitskonferenz von Wolfgang Ischinger.