Titelthema
Lieblingsfeind
Nur die Ablehnung gegen Russland hält die Nato noch zusammen. Und tatsächlich gibt es neue Konfliktfelder für West und Ost. Ein zweiter Kalter Krieg hat längst begonnen.
Die Führer der Nordatlantischen Allianz sowie die Chefs der Nato-Mitgliedstaaten sollten dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, der im Dezember den Nato-Jubiläumsgipfel in London gerettet hat, sehr dankbar sein. „Das erfolgreichste Bündnis der Geschichte“ hat sein 70-jähriges Jubiläum in einem nicht sehr guten Zustand erreicht. Zu diesem Zeitpunkt ist die Nato mit einer der schwersten Krisen aller Zeiten konfrontiert. Donald Trump, Präsident der Vereinigten Staaten, eines Landes, dessen Ressourcen und militärische Macht die Kraft und Wirksamkeit des Bündnisses seit 70 Jahren sichern, erklärt immer wieder, dass der US-Beitrag zur europäischen Verteidigung unermesslich hoch ist. Darüber hinaus macht er deutlich, dass Sicherheit ein Produkt ist wie alle anderen Exportgüter. Folglich müssen die europäischen Bündnispartner Amerika dafür bezahlen.
Die Krise ist so ernsthaft, dass der französische Präsident Emmanuel Macron den „Hirntod“ der Nato feststellt, da das Bündnis die größten Sicherheitsbedrohungen nicht erkennen und sich darauf konzentrieren kann, sie zu beseitigen. Es ging so weit, dass die Türkei am Vorabend des Gipfels, genervt durch die mangelnde Bereitschaft der Bündnispartner, ihre Vorgehensweise gegen die Kurden in Syrien zu unterstützen, die Zustimmung zu den Nato-Verteidigungsplänen für das Baltikum und Polen weiter zu blockieren drohte. Es bestand die Gefahr, dass der grundlegende fünfte Artikel des vor 70 Jahren unterzeichneten Washingtoner Vertrags, ein Artikel über eine kollektive Reaktion auf jegliche Aggressionsandrohung, möglicherweise nicht umsetzbar ist.
Auf den ersten Blick wird vor unseren Augen das langjährige Ziel der sowjetischen und dann russischen Diplomaten verwirklicht, die keine Mühe gescheut haben, die Widersprüche zwischen den Nato-Mitgliedstaaten zu verstärken. Die Ironie besteht jedoch darin, dass ausgerechnet die Vorgehensweise Russlands – die Annexion der Krim und der geheime Krieg, den es im Donbass entfacht hat – der Hauptfaktor ist, der die Solidarität des Bündnisses sicherstellt. Russland ist der Protagonist einer kurzen Erklärung, die die Standpunkte aufzeichnet, über die eine Einigung erzielt werden konnte. Es ist das einzige Land, dem aggressive Bestrebungen vorgeworfen wurden: „Die aggressive Vorgehensweise Russlands stellt eine Bedrohung für die euro-atlantische Sicherheit dar ... Wir ergreifen und werden weiterhin sorgfältig und verantwortungsbewusst Maßnahmen ergreifen, um dem Einsatz neuer Mittelstreckenraketen durch Russland entgegenzuwirken, die zur Kündigung des Vertrags über die Vernichtung von Mittel- und Kurzstreckenraketen geführt haben und ein erhebliches Risiko für die euro-atlantische Sicherheit darstellen.“
Russland vereint
Das Bündnis erlaubt zwar einen Dialog, formuliert jedoch die Bedingungen für einen solchen Dialog sehr klar: „Wir sind weiterhin offen für einen Dialog und für konstruktive Beziehungen zu Russland, wenn das Verhalten Russlands dies ermöglicht.“ Aus dem Diplomatischen übersetzt heißt dies: Der Dialog kann nicht früher wieder aufgenommen werden, als Moskau sein Verhalten ändert. In der Zwischenzeit wurden an einem Tag des Nato-Gipfels zwei russische Diplomaten aus Deutschland ausgewiesen, weil sie nicht bereit waren, bei der Untersuchung der in Deutschland begangenen Ermordung eines Mannes mitzuwirken, der im Verdacht steht, Verbindungen zu russischen Geheimdiensten zu haben.
Hier wurden lediglich die Passagen der Erklärung zitiert, die ausdrücklich von Russland sprechen. Wenn wir von indirekten Anzeichen einer Konfrontation mit Moskau sprechen, dann bestätigen dies fast alle Beschlüsse des Gipfels, nämlich der Verteidigungsplan für Polen und die baltischen Staaten, die Stellungnahme zur Transformation des Weltraums in den operativen Bereich der Nato sowie der Beschluss, Cyber- und Hybridbedrohungen entgegenzuwirken. Aus der berühmten Erklärung der Nato-Ziele des ersten Generalsekretärs des Bündnisses – to keep the Russians out, the Americans in and the Germans down – geht daher hervor, dass nur das erste Ziel, das die Eindämmung Russlands impliziert, die Einheit des Bündnisses gewährleistet.
Und man kann sagen, dass die Nato in den letzten fünf Jahren konsequent Entscheidungen getroffen hat, um diese Eindämmung zu gewährleisten. Die erste Entscheidung über den Einsatz von vier Bataillontaktikgruppen in einer neuen Trennungslinie, im Baltikum und in Polen, wurde bereits 2014 getroffen. Nur vier Jahre später wurde die Initiative „Four Thirties“ gebilligt: die Anschaffung von 30 mechanisierten Bataillonen der Bodentruppen, 30 Luftstaffeln und einer Gruppe von 30 Kriegsschiffen, die spätestens 30 Tage später eingesetzt werden sollten. Um die Truppenverschiebung zu gewährleisten, wurden zwei Befehlszentralen erstellt. Die Befehlszentrale im amerikanischen Norfolk soll den Einsatz amerikanischer Truppen sicherstellen. Eine weitere europäische Befehlszentrale soll sich mit der Truppenverlegung auf dem Kontinent befassen. Hinzu kommt auch das Versprechen, die Präsenz der Nato-Marineverbände in der Ostsee und im Schwarzen Meer zu stärken.
Die militärische Führung des Bündnisses ist gleichermaßen konsequent mit der Ausbildung von Truppen befasst, die die russische Bedrohung abwehren sollen. Im November 2018 fand das Manöver „Trident Juncture“ statt, an dem über 50.000 Soldaten, mehr als 250 Flugzeuge und 70 Schiffe teilnahmen. Das größte Kontingent, 14.000 Soldaten und Offiziere, wurde von den Vereinigten Staaten zur Verfügung gestellt. Zum ersten Mal seit 30 Jahren überschritt die amerikanische Marinegruppe mit dem Flugzeugträger „Harry Truman“ an deren Spitze den Polarkreis. Die führenden Nato-Staaten entsandten zu diesen Übungen nicht wie bisher Bataillone, sondern ganze Brigaden. So probten die Nato-Angriffsbrigaden in Nordeuropa, nur tausend Kilometer von der russischen Grenze entfernt, einen echten Krieg. Dies erfolgte nach Szenarien, die vor 40 Jahren geschaffen wurden, wenn die Truppenverschiebung aus Übersee geübt wurde, um eine Aggression abzuwehren. Vor der Ukraine-Krise gab es so etwas nicht und es war nicht einmal geplant. Wir können also sagen: Es war die russische Bedrohung, die der Nato sowohl auf politischer Ebene als auch auf Ebene militärischer Planung ein zweites Leben einhauchte.
Neuer Kalter Krieg
Sobald der erste Kalte Krieg zu Ende war, wurde es für die Nato-Bürokratie sehr schwierig, die Frage zu beantworten: Wenn die Konfrontation mit den Russen vorbei ist, warum ist dann tatsächlich ein Bündnis nötig? Es kam zu dem Punkt, dass das Bündnis ernsthaft darüber diskutierte: Ist es nicht an der Zeit, die Verteidigung des Territoriums von den Aufgaben der Nato auszuschließen? Schließlich gab es niemanden mehr, gegen den man sich verteidigen musste. Der Sinn der Existenz des Bündnisses wurde 2007 nach Putins Münchner Rede bekräftigt, in der die europäische Sicherheit erneut durch das Prisma der Konfrontation zwischen Russland und dem Westen dargestellt wurde. Nach der Krim-Annexion 2014 und dem Beginn des „geheimen“ Krieges Russlands im Donbass hat alles endlich seinen Platz gefunden. Ein neuer Kalter Krieg hat begonnen. Der Kreml versuchte zu vergessen, wie vor zwanzig Jahren Wladimir Putin, der immer noch nicht zum Präsidenten gewählt wurde, auf die Frage, ob Russland dem Bündnis beitreten könne, antwortete: „Warum nicht? Ich schließe eine solche Gelegenheit nicht aus – vorausgesetzt, die Interessen Russlands werden berücksichtigt, wenn es wie ein gleichberechtigter Partner behandelt wird.“
Heute zeigt Wladimir Putin der Nato regelmäßig seine Idiosynkrasie. Am Eröffnungstag des Londoner Gipfels erklärte er: „Heute müssen wir davon ausgehen, dass die Osterweiterung der Nato, der Ausbau ihrer militärischen Infrastruktur in der Nähe der russischen Grenzen eine der potenziellen Bedrohungen für die Sicherheit unseres Landes darstellt.“ All dies ist auf den ersten Blick nichts anderes als eine Hommage an die Vorurteile des ersten Kalten Krieges. So interpretierten westliche Staats- und Regierungschefs Putins Aussagen gegen die Nato vor der Krise 2014.
Das Problem ist jedoch viel ernster: Die Nato selbst verkörpert eine konsequente Ablehnung von allem, woran der russische Staatschef glaubt. Seine Vorstellungen von der Welt in einer primitiven Interpretation werden zur Realpolitik: Die Herrscher der Welt sitzen an einem sprichwörtlichen „Jalta-Tisch“ und entscheiden über das Schicksal kleiner, abhängiger Staaten. In seinem Weltbild verzichtet ein Staat, der der Nato beitritt, auf Souveränität und erklärt sich bereit, sich den Vereinigten Staaten zu unterwerfen. Und die Tatsache, dass die ehemaligen Staaten des Warschauer Vertrags es eilig hatten, der Nordatlantischen Allianz beizutreten, wird von Putin als Beweis dafür angesehen, dass Washington einen entscheidenden „geopolitischen“ Vorteil gegenüber Moskau erlangte, indem es seine wirtschaftliche und militärische Überlegenheit verwirklichte.
Dieser Minderwertigkeitskomplex war der Grund für die Gründung der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), die Weißrussland, Armenien, Kasachstan, Tadschikistan und Kirgisistan mechanisch vereinte. Diese Länder haben ganz andere Sicherheitsprobleme und werden sich überhaupt nicht gegenseitig schützen. Putin hielt es jedoch für notwendig, diese Karikatur der Nato zu erstellen, um zu beweisen, dass Russland wie die Vereinigten Staaten in der Lage ist, die von ihm abhängigen Verbündeten zu gewinnen. Die OVKS-Staaten nutzen jedoch gerne die wirtschaftlichen Präferenzen Moskaus, haben es aber nicht eilig, sich einer militärischen Konfrontation mit dem Westen anzuschließen. So lehnte Weißrussland das frühere Versprechen ab, Russland einen Militärflugplatz auf seinem Territorium zur Verfügung zu stellen.
In der Zwischenzeit stellt der bereits begonnene zweite Kalte Krieg Russland vor schwierige strategische Aufgaben. Die Militärreform von 2008 bis 2012 trug zur Schaffung einer Armee bei, die fähig wäre, einen lokalen Konflikt im postsowjetischen Raum zu gewinnen. Die Reformer gaben das Konzept einer Massenmobilisierungsarmee auf, das im Falle einer militärischen Bedrohung die Einberufung von Millionen von Reservisten vorsah. Alle Militärteile und Einheiten reduzierter Stärke, die diese Reservisten aufnehmen sollten, wurden entlassen. Die restlichen Einheiten waren jedoch voll besetzt. Dies sicherte ihre Dauerbereitschaft, das heißt, sie konnten einem Befehl sofort nach dessen Empfang nachkommen. Sie mussten nicht auf das Eintreffen der Reservisten warten. Diese Reformen haben die Wirksamkeit der Armee sowohl auf der Krim als auch in Syrien gesichert. Diese Brigaden reichen jedoch nicht aus, um sich der Nato entgegenzustellen.
So begann das russische Verteidigungsministerium, neue Divisionen im Eiltempo zu schaffen. Seit 2014 wurde die Schaffung von 40 neuen Divisionen angekündigt. Aber aufgrund der demografischen Situation reichen die Soldaten sicher nicht aus – die Armeestärke ist nur um 15.000 bis 20.000 Soldaten gewachsen. Daher ist das russische Verteidigungsministerium dazu verdammt, zur Praxis der Schaffung von Einheiten reduzierter Stärke zurückzukehren. Aus einer solchen Papierdivision lässt sich bestenfalls eine Bataillontaktikgruppe schaffen. Das heißt: Es ist unvermeidlich, dass die „westlich ausgerichteten“ Divisionen in reduzierter Zusammensetzung bleiben. Das heißt, sie können im Spannungsfall nur dann kampfbereit sein, wenn durch Reservisten Nachschub geleistet wird. Dies ist angesichts der aktuellen demografischen Situation im Land mehr als problematisch.
Nukleare Abschreckung
Russland trat in einen neuen Kalten Krieg ein und verlor die Ressourcen, die die Sowjetunion besaß: eine Bevölkerung militärpflichtigen Alters, die das Rückgrat einer acht Millionen Mann starken Armee bilden könnte, eine Industrie, die die Massenproduktion von Waffen aufbauen könnte, und Verbündete. Jetzt hat es nur Atomwaffen. Es ist kein Zufall, dass Wladimir Putin den Westen praktisch jede Woche daran erinnert, dass er über Waffen verfügt, die das Leben auf der Erde zerstören können. Kennzeichnend ist, dass sich die Vereinigten Staaten gerade zu diesem Zeitpunkt aus dem 1987 geschlossenen Vertrag über die Vernichtung von Mittel- und Kurzstreckenraketen zurückgezogen haben, indem sie Russland beschuldigten, ihn verletzt zu haben. Die Nato-Verbündeten unterstützten Washington, obwohl es keine öffentlich unbestreitbaren Beweise für russische Verstöße gab.
Die Chefs der Nato-Mitgliedstaaten (bis auf Emmanuel Macron) ließen den russischen Vorschlag für ein Moratorium über den Einsatz von Mittelstreckenraketen in Europa unbeantwortet. Moskau glaubt jedoch nicht, dass die Rakete 9M729 gegen den Vertrag verstößt, und setzt sie weiter ein. Es dürfte nicht verwundern, wenn die nukleare Planungsgruppe der Nato bald auf sich aufmerksam machen würde. Es ist daher nicht auszuschließen, dass Europa in naher Zukunft nicht nur für konventionelle Streitkräfte (was bereits geschehen ist), sondern auch für ein nukleares Kräftemessen zum Konfrontationsfeld wird.