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Lincoln im Saloon

Titelthema - Lincoln im Saloon
The new Frontier – 1935 – (Flammende Grenze) Ein klassischer Western, der die amerikanische Besiedlung des Westens thematisiert. © imago images/everett collection

Der Populismus der 1930er Jahre war das Gegenteil des libertären Autoritarismus von heute. Über den Western von damals.

Johannes Pause01.03.2023

Die 1930er Jahre gelten als Durststrecke in der Geschichte des Western. Als 1928 der erste Tonfilm in die Kinos kam, hatten sich die ersten großen Stars des Genres längst zur Ruhe gesetzt. Das goldene Zeitalter des Western sollte erst im legendären Filmjahr 1939 anbrechen. Bis dahin dominierten Melodramen, Gangsterfilme, „Screwball Comedies“ und Musicals die Leinwand – Genres, die in den Innenraumkulissen der Studios gedreht wurden, in denen sich die Tonqualität gut kontrollieren ließ. Zudem erschütterte die Große Depression das Vertrauen der Bevölkerung in das amerikanische Projekt, sodass der tendenziell optimistische Western, der von den Pionieren dieses Projekts erzählt, als unglaubhaft erschien. Das amerikanischste aller Genres wurde zum Lieferanten von B-Filmen, die in sogenannten „Double Features“ als Vorprogramm der großen Produktionen liefen.

So zumindest erklärt die filmhistorische Forschung den zeitweiligen Niedergang des Western. Eine genaue Betrachtung des amerikanischen Kinos der 1930er Jahre zeigt jedoch, dass einzelne Motive und Themen dieses Genres gleichwohl eine große Verbreitung erfuhren. So handelt etwa der „populistische“ Film, der von Regisseuren wie Frank Capra, Leo McCarey und John Ford vertreten wurde, stets von einem „Mann des Volkes“, der sich durch ein Bewusstsein der nationalen Besonderheit und einen klaren Sinn für das moralisch Richtige auszeichnet. Für gewöhnlich entstammt er dem amerikanischen „Heartland“, also den agrarisch geprägten Teilen des Kontinents fernab der urbanen Zentren der Küsten, die für eine gefährliche Elitenkultur, für Korruption, kapitalistischen Exzess und kulturellen Identitätsverlust stehen. Auf dem Land hingegen gelten weiterhin die Gesetze der „Frontier“, also jenes Grenzlandes, in dem im 19. Jahrhundert die von den Europäern besiedelten Bundesstaaten und die noch „wilden“ Gebiete des Kontinents aufeinanderstießen.

Frederick Jackson Turner hatte im Jahr 1893 die einflussreiche „Frontier Thesis“ formuliert, der zufolge sich die amerikanische Demokratie nicht aus Theorien und Dokumenten speist, sondern aus dem gemeinschaftlichen Leben in diesem Grenzland erwachsen ist. Das ursprüngliche Gesetz Amerikas sei daher nicht das codierte Gesetz, sondern ein naturrechtlich wie religiös geprägter „Common Sense“. Selbst die Unabhängigkeitserklärung oder die „Bill of Rights“ sind aus diesem Blickwinkel sekundäre Fixierungen eines höheren Rechts, das allen Amerikanern intuitiv zugänglich ist. Aufgrund seiner Herkunft aus der Provinz steht vor allem Abraham Lincoln stellvertretend für diesen Common Sense: In Lincoln-Biopics wie Abraham Lincoln (1930) oder Young Mr. Lincoln (1939) werden vor allem seine frühen Jahre als Anwalt in Illinois dramatisiert, wo er – wie die späteren Helden der großen Western – als Vermittler zwischen den Rechtssystemen auftritt. In John Fords Klassiker aus dem Jahr 1939 etwa besteht der junge Lincoln vor Gericht darauf, nicht viel von Rechtswissenschaft zu verstehen, Richtig von Falsch aber intuitiv unterscheiden zu können. Auch in den populistischen Klassikern Frank Capras, etwa Mr. Smith Goes to Washington (1939), sind es keine Westernhelden, aber eben doch Vertreter des Westens, die das codierte Gesetz an diese intuitive Ethik zurückbinden.

Sehnsucht nach dem Geist des Westens

Was diese Helden des populistischen Kinos vom klassischen Cowboy unterscheidet, ist ihre Beredtheit: Gilt der Westernheld traditionell als Feind des Wortes, kämpfen selbst die Helden der wenigen „echten“ Western der 1930er Jahre stets mehr mit der Sprache als mit dem Colt. So etwa in Cimmaron (1931), der bis Dances with Wolves (Der mit dem Wolf tanzt, 1990) der einzige Western blieb, der mit dem Oscar für den besten Film ausgezeichnet wurde. Sein Protagonist ist nicht nur Revolverheld, sondern auch ein Volksredner, der in der Stadt Osage in Oklahoma zuerst einen Banditen erschießt und dann eine Zeitung gründet. Die Tat, die für Gerechtigkeit sorgt, geht der Schrift voraus, die Recht und Zivilisation in Osage verankern wird. Wie alle späteren Westernhelden vermag es der Held, der diese neue Ordnung erkämpft, selbst jedoch nicht, sich ihr anzuschließen – und so übergibt er die Zeitung kurzerhand seiner Frau und zieht erneut nach Westen, um erst Jahre später zurückzukehren und die nun groß gewordene Stadt vor der Korruption zu bewahren, die mit der Entfremdung vom Westen früher oder später notwendig Einzug hält.

Immer wieder geht es dem Film der 1930er Jahre darum, wie der Geist des Westens dem codierten Recht der USA wieder eingehaucht werden kann. In Leo McCareys Ruggles of Red Gap (1935) etwa gibt Charles Laughton den englischen Butler Ruggles, der von seinem adligen Herrn in einer Pokernacht an einen amerikanischen Millionär verspielt wird. Der distinguierte Diener fremdelt mit seinem neuen Leben im wilden amerikanischen Hinterland, doch am Ende des Films wendet sich das Blatt: Im örtlichen Saloon kommt die Frage nach dem Wortlaut der „Gettysburg Address“ auf, und Ruggles allein zeigt sich in der Lage, Lincolns Rede fehlerfrei zu rezitieren. Die Menschen im Saloon versammeln sich um den ehemaligen Butler, der ihnen zu einer Epiphanie Lincolns wird, und hören gebannt zu. Sie bezeugen die Transformation des Dieners zum freien Amerikaner, während auch sie selbst durch den Auftritt verwandelt werden: Durch Lincolns Worte formen sich die zerstreuten Individuen zu einem Volk, das sich seiner gemeinsamen Moral, seiner fast schon vergessenen geteilten Identität wieder bewusst ist.

Idealtypisch führt McCarey so das populistische Ideal der Erneuerung des amerikanischen Geistes durch den Mann des Volkes vor Augen. Dass er dafür einen auch damals schon klassischen Handlungsort des Western verwendet, macht deutlich, an welchen Raum und an welche Zeit dieser Geist gebunden ist: Auf der Suche nach einem Weg aus der Krise wird in den 1930er Jahren der Westen zum imaginären Ort der Erneuerung, an dem die USA sich auf ihre für alle verbindliche Moral zurückbesinnen kann. Der Populismus dieser Zeit ist somit das genaue Gegenteil jenes „libertären Autoritarismus“ unserer Tage, der nach Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey die Individuen gerade von jeder ethischen Verpflichtung freizusprechen sucht. Der Western der 1930er Jahre führt so vor Augen, wie sehr sich nicht nur die Krisen, sondern auch die populären und populistischen Reaktionen, die diese hervorrufen, im Laufe eines knappen Jahrhunderts verändert haben.

Johannes Pause
Dr. Johannes Pause ist Film- und Medienwissenschaftler. Er arbeitet als Research Scientist am Center for Digital Ethics der Universität Luxemburg. Zuletzt erschien von ihm Populismus und Kino – Politische Repräsentationen im Hollywood der 1930er Jahre, Transcript 2023, 198 Seiten, 29 Euro.