Titelthema Nordkorea
Mann ohne Skrupel
Während Kim Jong Un im Luxus schwelgt, hungert sein eigenes Volk.
Kim Jong Un lächelt breit und klatscht begeistert. Er beobachtet gerade, wie die Hwasong-18, Nordkoreas modernste ballistische Interkontinentalrakete, neue Rekorde aufstellt. Wir schreiben den 13. Juli. Die Rakete, deren Name "Mars" bedeutet, erreicht eine Höhe von 6648 Kilometer – doppelt so hoch wie beim ersten Start dieser Art von Rakete im April und erstaunliche 16 Mal so hoch wie die Internationale Raumstation. Sie flog rekordverdächtige 74 Minuten lang.
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Für Kim, der seit seiner Vorstellung als nächster nordkoreanischer Staatschef im Jahr 2009 unterschätzt wurde, war dies der nächste Triumph. Der heute 39-jährige Kim hat allen Prognosen getrotzt. Er hat die Vorhersagen widerlegt, dass er im Alter von 27 Jahren und ohne militärische oder politische Erfahrung nicht in der Lage sein würde, die Kontrolle über diesen heruntergekommenen Staat zu behalten. Einen Staat, der von einem Regime von Männern geführt wird, die ihre Posten schon vor seiner Geburt innehatten. Kim hat sich als ebenso machiavellistisch erwiesen wie sein Vater und sein Großvater vor ihm, indem er zynisch zuließ, dass die Korruption gedeiht und die Nomenklatura reich wird, während er denjenigen, die ihn herausfordern, Grund zur Angst gibt. Er ist ein Mann, der seinen eigenen Onkel durch ein Erschießungskommando töten und seinen Halbbruder einen qualvollen Tod durch eine verbotene chemische Waffe erleiden ließ.
Warnung vor Nahrungsmittelknappheit
Er hat sich auch einer Reihe von internationalen Sanktionen widersetzt, die darauf abzielen, der Führung des Regimes den Luxus zu nehmen und ihr die Möglichkeit zu nehmen, ihr Waffenprogramm zu finanzieren und zu verbessern. Wie der jüngste Start der Hwasong-18 gezeigt hat, ist Kim in der Lage, alle benötigten Teile zu beschaffen, und er hat keine Skrupel gezeigt, Nordkoreas knappe Ressourcen in die Raketenentwicklung zu stecken. Dies geschieht zu einer Zeit, in der humanitäre Organisationen vor einer ernsten Nahrungsmittelknappheit in Nordkorea warnen, die auf geschlossene Grenzen, extreme Wetterbedingungen und Misswirtschaft in der Landwirtschaft zurückzuführen ist. Es droht eine Wiederholung der Hungersnot der 1990er Jahre, bei der schätzungsweise zwei Millionen Menschen ums Leben kamen.
Und er hat bisher den Vorhersagen einer wirtschaftlichen Notlage nach der strengsten Covid-Reaktion der Welt getrotzt, die selbst für die Verhältnisse eines Landes, das lange Zeit als "Einsiedlerreich" bekannt war, als extrem bezeichnet werden muss. Das Land schloss Mitte Januar 2020 seine Grenzen vollständig, noch bevor Wuhan abgeriegelt wurde. Noch immer gibt es nur sehr wenig Handel über die Grenze. Doch Kim hat mit Hilfe seines widerwilligen Gönners nebenan in China einen Weg gefunden, die Kassen des Regimes ausreichend zu füllen, um sich über Wasser zu halten.
Und so macht Kim weiter. Er genießt das Leben in seinen verschiedenen königlichen Palästen im ganzen Land und verbringt zweifellos große Teile seines Sommers in Wonsan, wo die Kims eine luxuriöse Anlage am Meer haben. Ein überdachtes Hafenbecken beherbergt die Jachten der Familie und über ein Dutzend Jetskis. Es gibt ein Basketballfeld und einen Hubschrauberlandeplatz. Und Kim Jong Un hat es auch nicht weit zu einem kleinen Flugplatz, so dass er das Urlaubsrefugium seiner Familie bequem mit seinem Privatflugzeug erreichen kann. Selbst bei Raketenstarts muss er nicht auf den Komfort seiner Strandresidenz verzichten. Seine Waffeningenieure rollten ihm einmal eine Rakete auf einer mobilen Abschussbasis direkt vors Haus, so dass er den Start Richtung Japan grinsend vom Schreibtisch aus verfolgen konnte.
Hier an seinem Privatstrand veranstaltete Kim Jong Un 2014 auch eine Schwimmübung für die höchsten Kommandeure der Marine. Die Männer, sämtlich im Pensionsalter, tauschten ihre weißen Uniformen und Mützen gegen Badehosen, liefen ins Meer und schwammen fast fünf Kilometer weit, als gälte es, eine Schlacht zu schlagen.
Es war ein merkwürdiges Bild. Der neue Führer, der gerade erst dreißig geworden war, saß am Strand hinter einem Tisch und beobachtete durch ein Fernglas, wie sich Männer, die doppelt so alt und deutlich schlanker waren als er, auf seine Anweisung hin in die Fluten stürzten. Ein Jungspund ohne militärische Meriten zeigte den altgedienten Kadern, wer der Boss war. Dafür gab es keinen besseren Ort als seine höchsteigene Domäne in Wonsan.
Er zeigt keine Anteilnahme für die Entbehrungen, die er seinen Landsleuten zufügt – niemand würde ihn für unterernährt halten – und fährt mit den neuesten Mercedes Benz Autos herum. Dann war da noch der Mantel, den seine Tochter Ju Ae, die vermutlich elf oder zwölf Jahre alt ist, zu einem Raketenstart Anfang des Jahres trug: Es handelte sich offenbar um eine schwarze Steppjacke von Christian Dior, die im Einzelhandel 2800 Dollar kostet.
Im vergangenen Jahr hat Kim seine kleine Tochter häufig zu Raketenstarts und militärischen Veranstaltungen mitgenommen, darunter auch zu einem Festbankett, bei dem sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand und die oberste Führungsriege der Armee ihr buchstäblich applaudierte. Es ist höchst ungewöhnlich, einem jungen Kim ein derartiges Profil zu geben. Das Gesicht von Kim Jong Un tauchte erst Ende 2010 in der Öffentlichkeit auf, als die nordkoreanischen Staatsmedien ein Foto von ihm mit dem Militär veröffentlichten. Der damals 26-Jährige war gerade zum Vier-Sterne-General ernannt und in hohe Ämter des Regimes berufen worden.
Aber Kim nimmt seine Tochter seit November letzten Jahres zu allen möglichen Veranstaltungen mit, als das Mädchen Hand in Hand mit ihrem Vater bei einem Raketenstart spazieren ging. In den staatlichen Medien wird sie nicht namentlich genannt, sondern einfach als "das beliebteste" Kind bezeichnet. Ihr Aussehen deutet darauf hin, dass Kim sie darauf vorbereitet, die vierte Generation seiner Familie zu werden, die diesen anachronistischen kommunistischen Staat regiert. Nordkorea ist eine streng patriarchalische Gesellschaft. Es war schon ungewöhnlich genug, dass ein Mann in seinen 20ern an die Macht kam, aber die Vorstellung eines weiblichen Führers scheint unmöglich.
Kim Jong Un wuchs in einer extrem zerrütteten Familie auf. Sein Vater hatte mehrere Kinder von mehreren Frauen, aber er hielt sie alle getrennt. Die Kinder lebten in verschiedenen Häusern, wurden von Lehrern unterrichtet und waren auf die Gesellschaft verschiedener Hausangestellter angewiesen. Obwohl sie keine Freunde hatten, fehlte es ihnen an nichts anderem. Sie hatten Lego und anderes aus Europa importiertes Spielzeug, sie hatten ihre eigenen Zoos mit Tieren, sie genossen importierte Mangos und frisches Sushi, während ihre Landsleute buchstäblich hungerten.
Bei der Feier zu seinem achten Geburtstag überreichte der Vater von Kim Jong Un dem kleinen Jungen eine echte Generalsuniform und kündigte an, dass er eines Tages der Führer des Landes werden würde. Ein Lied namens "Footsteps" wurde gespielt, und echte Generäle salutierten und verbeugten sich vor dem Kind, erzählten mir zwei Personen, die bei der Feier dabei waren, als ich für mein Buch über Kim recherchierte. Kim Jong Un hatte gar keine Chance, wie ein normales Kind aufzuwachsen, so wie sich alle um ihn herum verhielten. Und er gewöhnte sich schnell daran, Befehle zu erteilen.
Die extreme Isolation war ein wesentlicher Grund dafür, dass die Kim-Kinder in eine Schule in der Schweiz geschickt wurden. Dort konnten sie, als Diplomatenkinder ausgegeben, zumindest einige Jahre lang ein relativ normales Leben führen. Kim Jong Un besuchte Freunde zum Spielen und verbrachte Stunden auf dem Basketballplatz in Liebefeld bei Bern.
Erfolg war nicht sicher
Kim kehrte im Alter von 16 Jahren nach Pjöngjang zurück und lebte in relativer Abgeschiedenheit und Anonymität, bis er an seinem 25. Geburtstag als Thronfolger vorgestellt wurde. Sein Vater, Kim Jong Il, war krank, so dass die Nachfolgeplanung beschleunigt werden musste. Während Kim Il Sung, der Gründungspräsident Nordkoreas, ein Vierteljahrhundert damit verbrachte, seinen Sohn auf die Übernahme seines Amtes vorzubereiten, hatte Kim Jong Il kaum zwei Jahre Zeit, dasselbe für seinen Sohn zu tun. Der zunehmend kranke Jong Il versuchte, führende Militärs und Parteifunktionäre davon zu überzeugen, dass sein pummeliger, in der Schweiz ausgebildeter Sohn die beste Person für die nächste Führung Nordkoreas sei. Sein Erfolg war alles andere als sicher, als Kim Jong Il Ende 2011 starb.
Kim Jong Un nutzte geschickt das institutionelle Wissen hochrangiger Beamter so lange aus, bis sie ihm nicht mehr nützlich waren. Der Propagandachef verschwand still und leise. Der Verteidigungsminister wurde vor den Augen einer Menschenmenge von einer Flugabwehrkanone in die Luft gesprengt. Das ist eine deutliche Botschaft an alle, die Kim Jong Un die Führung streitig machen wollen.
Indem Kim Jong Un nun seine junge Tochter der Öffentlichkeit vorstellt, gibt er allen Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass irgendwann ein Kim der vierten Generation am Ruder ist. Passend dazu befördert er seine Schwester, sie ist inzwischen sein Kampfhund Nummer eins, der wütende öffentliche Äußerungen gegen die Vereinigten Staaten und Südkorea macht, und ernennt eine Frau zur Außenministerin. Kim Jong Un zeigt diesem patriarchalischen System, dass Frauen Machtpositionen bekleiden können.
Es ist auch kein Zufall, dass bislang alle öffentlichen Auftritte von Kim Ju Ae auf militärischen Veranstaltungen stattfanden. Das Kim-Regime ist seit mehr als sieben Jahrzehnten an der Macht, weil es in der Lage ist, zurückzuschlagen, wenn es angegriffen wird – sei es, indem es Seoul, die südkoreanische Hauptstadt mit 20 Millionen Einwohnern gleich hinter der Grenze, mit Artillerie beschießt oder indem es eine seiner Raketen auf ein bestimmtes Ziel richtet. Kim versucht nun, seine Tochter mit dieser militärischen Macht zu verbinden, die für das Überleben des Regimes von zentraler Bedeutung ist.
Kann das funktionieren? Es ist schwer vorstellbar, dass das moralisch bankrotte und finanziell klamme nordkoreanische Regime noch Jahrzehnte überleben kann. Andererseits war es Anfang 2012 schwer vorstellbar, dass Kim Jong Un in der Lage sein würde, einen Staat zusammenzuhalten, der schon vor Jahrzehnten hätte zusammenbrechen müssen, sei es durch eine verheerende Hungersnot oder den Tod des Staatsgründers oder den Zusammenbruch der Sowjetunion. Wenn ich in den Jahren, in denen ich mich mit der Kim-Familie beschäftigt habe, eines gelernt habe, dann ist es, dass wir sie auf eigene Gefahr hin unterschätzen.
Anna Fifield ist Asien-Pazifik-Redakteurin der Washington Post. Sie war Büroleiterin der Post in Peking und Tokio und verbrachte zuvor 13 Jahre bei der Financial Times, wo sie als Korrespondentin in Asien und im Nahen Osten und dann als Korrespondentin im Weißen Haus während der Obama-Präsidentschaft tätig war. Anna Fifield war von 2013 bis 2014 Nieman Journalism Fellow an der Harvard University und gewann 2018 den Shorenstein-Preis der Stanford University für herausragende Leistungen in der Berichterstattung über Asien. Ihr Buch über den nordkoreanischen Führer Kim Jong Un, The Great Successor, erschien 2019 und wurde in 24 Sprachen übersetzt. Der deutsche Buchtitel lautet „Kim: Nordkoreas Diktator aus der Nähe.“ Anna Fifield stammt aus Neuseeland.
Buchtipp
Anna Fifield
Kim – Nordkoreas Diktator aus der Nähe
Edition Körber 2020,
416 Seiten, 24 Euro