Titelthema
Mehr Stabilität, mehr Chaos
Müssen Teile der Produktion wirklich nach Europa zurückgeholt werden? Ein Plädoyer für mehr Globalisierung und mehr Deglobalisierung.
Auf der ganzen Welt, insbesondere in den turbokapitalistischen Wohlstandsregionen, wird ein Trend klar: Höher, schneller, billiger, mehr. Aber so geht es nicht weiter. Ein digitaler Tsunami trifft auf ausgediente Geschäftsmodelle. Statt einer zehnjährigen Parallelisierung von Niedergang und Blüte, werden in den kommenden zehn Monaten radikale Umwälzungen stattfinden. Politisch bleibt keine Zeit mehr gegenzusteuern.
Das Virus ist brutal, trifft insbesondere das „Unkraut“ – Bereiche und Unternehmen, welche vor der Pandemie überfälligen Umstellungen nicht gewachsen waren, auf Wachstumshypothesen spekuliert haben oder sich auf eine technologische Welt nicht vorbereitet hatten. Aber einige Rosen und Lilien bleiben auch nicht verschont. Ein Jobwunder nach dem Prinzip des rheinischen Grundgesetzes „Et hätt noch immer jot jejange“ wird nicht kommen. Die Welt muss regionaler, aber auch globaler werden. Wir brauchen mehr Stabilität und gleichzeitig mehr Chaos: Jetzt werden Handlungshelden gesucht.
Ein großes Missverständnis?
Die Weltwirtschaft 1910: 30 Prozent des weltweiten Handels findet zwischen Nationen statt. Auch wenn Deutschland als „Exportweltmeister“ eine überdurchschnittlich hohe Außenhandelsquote hat (88,7 Prozent im Jahr 2018), schaffen wir es weltweit bis heute nicht, auf mehr als rund 30 Prozent zu kommen. Die Welt war also nie wirklich globaler als 1910.
Zunehmend viele Unternehmen beschäftigen sich seit Jahren mit Themen wie „Backshoring“ und „Insourcing“. Ähnlich wie in der Finanzkrise von 2008/2009 werden Geschäftsmodelle jetzt auf ihre Robustheit getestet. Die Pandemie erzeugt Wirkung, ist aber nicht die Ursache. Sie enthüllt die eigentlichen Herausforderungen der De-/Globalisierung und ihre Missverständnisse.
Der Mittelstand lebte als Weltmarktführer mit einmaligen Produkten: „Quality made in Germany“, welche trotz Sprachbarrieren, kulturellen Unterschieden und höheren Transaktionskosten durch einmalige Produkte alles kompensieren konnte. Mit Innovations- und Erfindergeist konnte eine Erfolgsgeschichte geschaffen werden. Heute können allerdings monopolistische Vorteile kaum erzielt werden und lokale Player steigen bereits nach Monaten mit ähnlichen Produkten in den Wettbewerb ein.
Nicht nur bei der technologischen Entwicklung wurde geschlafen, es scheint so, als ob ein bequemerer Weg mit Hoffnung auf unendliches Wachstum für bereits entwickelte Produkte bevorzugt wurde. Mangelnder Innovationsgeist und fehlende Risikobereitschaft wurde mit illusionären Wachstumshypothesen kompensiert. Während in Asien und in anderen aufstrebenden Regionen die Patentanmeldungen steigen, wird in Deutschland seit Jahrzehnten eine Stagnation und sogar ein Rückgang verzeichnet.
Währenddessen schreitet die rapide Globalisierung in Sachen Informationsaustausch, die Verbindung und Verbreitung von Digits, voran. Die großen Tech-Konzerne treiben die Globalisierung. Bei einer radikalen Umwälzung entstehen neue Gewinner und Verlierer. Großkonzerne, die auf eine starke Fragmentierung gesetzt haben, wie etwa Siemens und VW, werden ihre Stärken ausspielen, lokale Player übernehmen und mit neuen Geschäftsmodellen wachsen.
In Deutschland begrüßt man Tesla, ein Unternehmen, das der deutschen Autoindustrie zeigt, wie man vom Auto- zum Technologiekonzern wird, während der Mittelstand lernt, mit Daten-Mietmodellen Wissen über Kunden zu erlangen. Es bleibt nichts anderes übrig, denn ob wir wollen oder nicht – Amazon & Co. haben längst die Daten. Sie werden die neue Geschichte aber nicht alleine schreiben können, weshalb Nischen mit Raum zur Weltklasse bleiben und neue mikro-nationale Unternehmen hervorbringen werden. Eine Win-win-Situation. Kleine Gebühren im Tausch für Milliarden von Transaktionen, und jeder konzentriert sich voll auf seine Kernkompetenz.
Große globale Marken wie zum Beispiel McDonald’s stoßen auf lokale agile Wettbewerber, die durch ihre lokale Zugehörigkeit an Präsenz gewinnen und große Player verdrängen. Auch im digitalen Bereich werden zunehmend eigene Lösungen entwickelt. So wird der Mobilitätsdienstleister Uber in vielen Märkten von lokalen Lösungen verdrängt – von Ola in Indien bis zu Free Now in Deutschland.
Die Grenzen des Lokalen
Lokaler Käse vom Markt ist gut, wird aber keine 50 Millionen Menschen beschäftigen. 100.000 neue Mitarbeiter bei Amazon ersetzen heute Millionen Beschäftigte in Handelsunternehmen, und wenn die Produktion zurückgeholt wird, herrscht nach wie vor Darwinismus. Die „technologische Hand“ wird jegliche Formen ineffizienter menschlicher Arbeit suchen, finden und ersetzen.
In der Maskenproduktion in Europa entstehen kaum Arbeitsplätze, und zu glauben, dass die Enkelkinder in Herzogenaurach in Zukunft die Schuhe nähen, wäre irrsinnig. Der Einsatz von Technologie und der damit verbundene Effizienzgewinn kompensieren nicht das Volumen an Arbeitsplätzen, die wegfallen. Die künstliche Intelligenz wird kein Jobwunder hervorbringen. Sogar die Wartung und die Softwareentwicklung wird in Zukunft die Maschine selbst übernehmen. Der digitale Tsunami rollt auf uns zu. Es werden nur noch die Messis und Ronaldos der Softwareentwicklung benötigt werden.
Jetzt heißt es: Zurück zur Hackermentalität der Nachkriegszeit. Ein neues Wirtschaftswunder, geprägt von Erfindergeist, muss her. Die Zukunft ist technologisch. Neue Technologien wie etwa in der Quantentechnologie und neue Geschäftsmodelle in Bereichen wie Pharma, Medizin, Umwelt und Energie müssen entwickelt werden. Eine Kapitalisierung auf immaterielle Güter ist gefragt. Und dafür braucht es Kreativität.
Alle bevorstehenden Herausforderungen, ob Umwelt, der Umgang mit exponentiellen Technologien oder die Bekämpfung von Pandemien, können nur gemeinsam gelöst werden. Dies setzt gleiche Bedingungen voraus, welche durch den Aufbau von neuen globalen Institutionen – entkoppelt von Marktkräften und durch den Austausch von Informationen mit Vertrauen – geschaffen werden müssen.
Spätestens seit Covid-19 muss klar sein: das 50-jährige Nickerchen ist vorbei. Die Deglobalisierung tötet Wachstumshypothesen und die Illusionen auf himmlische Luftschlösser durch rasche globale Skalierung. Es wird eine Welt der Lokalisierung bei gleichzeitiger radikaler Globalisierung werden. Wir leben in einer Parallelgesellschaft, in der altes System-Denken und Absolutheiten permanent hinterfragt werden müssen. Die Chance für Deutschland liegt darin, beides zu vereinen. Ein interdisziplinärer Dialog zwischen Nerds, Freaks und intellektuellen Rebellen mit Risikobereitschaft und offenen Mindsets muss entstehen – damit meistern wir die Gleichzeitigkeitsgesellschaft. Ich wähle den Optimismus: Lasst uns jetzt die Zukunft gestalten!
Buchtipp
Quantenwirtschaft:
Was kommt nach der Digitalisierung?
Econ, 2019, 336 Seiten, 22 Euro
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