Titelthema
„Moran ist mein Goldstück“
Entführt und nach Wochen wieder frei: Moran Janai (40)
In der Familie nennen sie Moran Janai „die Kleine“. Die 40-Jährige ist das Nesthäkchen von drei Kindern einer Familie aus Beer Scheva, der größten Stadt im Süden Israels, wo sie bis zu ihrer Entführung lebte. „Meine Eltern sind am Boden zerstört“, sagt Lion. „Die Vorstellung, dass ihr kleines Mädchen entführt wurde, nicht zu wissen, ob sie zu essen und zu trinken hat, quält sie Tag und Nacht.“
Lions Schwester fuhr am Freitag zum Supernova-Musikfestival in der Nähe des Kibbuz Reim, um mit Freunden zu tanzen und ihre Schmuckkollektion zu präsentieren. Mit seinem Motto „Frieden, Liebe, Freiheit“ war die Raverparty ganz nach ihrem Geschmack. „Sie glaubt an Frieden und Liebe, versprüht immer eine positive Atmosphäre“, sagt ihr Bruder. „Und sie ist eine talentierte junge Künstlerin.“ Ein Jahr hatte Moran an ihrer ersten Schmuckkollektion gearbeitet. Auf einem Bild, das mir Lion zeigt, sieht man Moran in einem schulterfreien Sommerkleid und Sommerhut mit Armbändern, Finger-, Ohrringen und Halsketten aus Silber, die von Ethnoschmuck inspiriert sind. „Das Festival war eine große Sache für sie. Sie freute sich so sehr.“
Lion und seine Familie waren auf dem Rückweg von einem Urlaub in London, als sie im Flugzeug von den massiven Raketenangriffen der Hamas erfuhren. Nach der Landung in Tel Aviv sah er, dass seine Schwester versucht hatte, ihn zu erreichen. „Sie rief meinen Vater an. Sie erzählte ihm, dass sie angegriffen würden. Sie war in Panik, rannte um ihr Leben.“ Später rief sie noch einmal die Mutter an. „Sie und ihre Freunde schrien in panischer Angst. Sie weinte und bat unsere Mutter um Verzeihung. Dann ging ihr Akku aus. Es war das letzte Mal, dass wir von ihr hörten.“
Am Sonntag fährt Lion aus Zentralisrael zu den Eltern nach Beer Scheva. Er und seine andere Schwester rufen Freunde an, die mit Moran auf der Party waren und das Massaker überlebten. Von ihnen erfahren sie, dass die Gruppe mehrmals in einen Hinterhalt geraten war und sich schließlich trennte, um sich an verschiedenen Orten zu verstecken. Zusammen durchforsten sie das Internet nach Hinweisen auf Moran. Am Sonntagnachmittag entdecken sie dann ein Tiktok-Video. Zusammengekauert sitzt Moran in einem Graben in einem Feld mit Büschen. Zweimal blickt sie total verängstigt in die Kamera, hält flehend ihre Hände nach oben. „Hier ist eine jüdische Hündin. Das ist eine“, sagt der Sprecher atemlos. „Filme, filme“, sagt ein zweiter.
Unendlicher Schmerz
„Es sind schreckliche neun Sekunden. Einfach nur schrecklich.“ Es ist das letzte Lebenszeichen der Schwester. Lion und seine Schwester Lea können seitdem nicht mehr arbeiten, ihre ganze Energie gilt der Suche nach ihrer jüngeren Schwester. Manchmal schäme er sich, über seine Schwester zu sprechen, sagt der 46-Jährige mit dem grau melierten Vollbart und den zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haaren. Ältere Männer und Frauen und Kinder seien verschleppt worden. Manche seien verletzt oder brauchten Medikamente. „Das ist bedrückend. Aber Moran ist meine Schwester, mein Goldstück.“
Wie so viele Angehörige von Geiseln hofft Lion, dass internationale Diplomatie etwas bewirken kann. „Persönlich glaube ich an Frieden. Aber hier geht es nicht um Politik. Unschuldige Menschen wurden brutal attackiert und entführt. Das ist eine humanitäre Frage, die alle angeht.“
Neben ihrer Kunst kümmerte sich die Schwester um Straßentiere. „Sie arbeitete als Freiwillige in einem Tierheim, fütterte Katzen und Hunde. Auch zu Hause hat sie viele Tiere. Tiere sind ihre große Leidenschaft“, sagt Lion. „Moran ist eine so friedliebende und hilfsbereite Person. Der Schmerz, nichts über ihr Schicksal zu wissen, ist unerträglich.“
Inga Rogg
Hinweis: Der Artikel wurde vor der Freilassung Moran Janais geschrieben.