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Wo die Zeit noch stillsteht – über die Renaissance des „Nature Writing“

Naturverbunden ist heute nur der Leser

Richard Kämmerlings30.04.2016

„Gesellschaft scheint sehr natürlich und einfach – kann ich nicht einfach unter Menschen spazieren wie im Wald?“ So schrieb Henry David Thoreau im Dezember 1840 in sein Tagebuch und scheint damit so etwas wie ein geheimes Sehnsuchtsmotiv unserer eigenen Epoche zu formulieren: „Natürlich und einfach“, das hätten wir alle gern, betreiben Yoga und vergöttern Bio, stehen im Stau und träumen dabei vom Wald, der nichts von uns will, dem wir aber auch egal sind: Bäume hupen nicht und drängeln auch nicht mit der Lichthupe, wenn wir das Tempo der Gegenwart für einen Moment nicht mitgehen wollen. 

In Gesellschaft also wie im Wald? Nicht erst seit der Entstehung der modernen Soziologie weiß man, dass eine Menschenmenge anderen Gesetzen folgt als eine Gruppe von Bäumen. Und heute scheint die reale und virtuelle Dauerkommunikation so fordernd und überfordernd, dass die Sehnsucht sehr groß ist, die Menschen durch Laub- und Nadelhölzer und unsere komplizierte Interaktion durch ein Spazieren zwischen stummen Riesen zu ersetzen.

Kompensation für Naturferne
Dass der überraschende Erfolg der Zeitschrift Landlust – entgegen allen Trends vom aussterbenden Medium Papier – eine Art Kompensation für Naturferne einer urbanen Elite ist, wurde oft genug bemerkt, nicht selten mit kulturkritischem, ironischem Unterton: Weil der zum Eigenheim im Speckgürtel gekommene Workaholic zwar noch Äpfel von Birnen, aber nicht mehr den Apfel- vom Birnbaum unterscheiden kann, braucht er, verpackt zwischen Landmodetrends und Hausrezepte, Nachhilfe über Dinge, die für unsere Großeltern noch zur Allgemeinbildung gehörten. Für die mit Hungerwintern vertraute Kriegs- und Nachkriegsgeneration war Gartenbau ebenso wie das Konservieren noch eine Überlebenstechnik. Grüner Daumen? Als man noch Nutzgärten bestellte, wo man heute auf dem Sitzrasenmäher seine Runden dreht, hatte man alle Hände voll zu tun.

Auf dem Buchmarkt ist die wunderbar gestaltete „Naturkunden“-Reihe des Berliner Matthes & Seitz Verlags das auffälligste und intellektuell anregendste Pendant zum „Landlust“-Trend. Doch schon am Bestsellererfolg von banaleren Werken „Das geheime Leben der Bäume“ des Försters Peter Wohlleben kann man ablesen, dass an der neuen Faszination an der Natur mehr dran ist als der Wunsch, die Entfremdung von bäuerlichen Lebensgrundlagen durch die Rückkehr zu Omas Einweckmethoden aufzuhalten. Es geht um die Zeit selbst: Bäume sind Agenten der Entschleunigung; indem ihre Lebenszyklen den des Menschen so überragen wie die Wipfel den Wanderer, können sie zum Surrogat eines verloren gegangenen Ewigkeitsbezugs werden. „Ach, als sich alle einer Mitte neigten / und auch die Denker nur den Gott gedacht“, klagte Gottfried Benn in seinen „Statischen Gedichten“ und wusste, dass der Dynamik der Neuzeit nicht zu entkommen ist.

In den „Naturkunden“ von Matthes & Seitz gibt es neben Essays über Krähen, Esel, Insekten oder Klassikern der Pflanzenmalerei ebenfalls ein Bäumebuch: „Das Leben der Mächtigen. Reisen zu alten Bäumen“ von Zora del Buona, das noch einiges mehr über den Zeitgeist verrät. Hier werden die Bäume einerseits individualisiert – es geht nicht um den Kollektivsingular Wald, den alten deutschen Mythos, sondern tatsächlich um einzelne, jahrhundertealte Exemplare – und andererseits auratisiert: „Mächtig“ ist eine Kategorie der Erhabenheit. Bäume sind nicht einfach groß, sondern sie machen den Betrachter klein, entheben ihn dadurch aber auch seines Alltags. Auch der neue wutbürgerliche Kampf gegen das Fällen alter Bäume leiht seine Energie aus dieser Macht des uns so fremden Lebewesens.

Kulturelle Konstruktionen
Natur ist immer (menschengemachte) Kultur, und die Natürlichkeit des Menschen ist immer eine kulturelle Konstruktion – das ist eine Grundeinsicht moderner Anthropologie. Dennoch vermeinen wir im Nature Writing, in Schriften von Emerson, Thoreau, Jürgen von der Wense und ihrer heutigen Nachfolger eine Einheit von Subjekt und Welt zu finden, die am Ursprung der Moderne verloren ging. Daher kommt der latente Verdacht, Naturschriftstellerei hafte ästhetisch wie politisch etwas Konservatives, ja Reaktionäres an. Doch wer die Klassiker genau liest, wird feststellen, dass es immer um die Suche nach der bereits verschwindenden oder verlorenen Natur geht, immer nur um das Losziehen, nicht ums Ankommen. Wie Hans Jürgen von der Wense formulierte: „Denn was ist und was war mein Leben? Ich bin gewandert, gewandert (...) weiter, ewig weiter, kein Ziel, denn alles ist Aufbruch, und wenn der Abend sich über mich senkt, so ist es der Morgen von drüben“. Jedes Wandern in der Natur ist stets auch Lebensreise, Sinnbild für das menschliche Leben als (zeitlich begrenzte) Wanderschaft auf der Erde. Naturverbundenheit ist ein Ideal, kein tatsächlich erreichbarer Dauerzustand.

Das gilt beispielsweise auch für die Werke Robert Macfarlanes, eines der spannendsten zeitgenössischen Vertreter des Nature Writings. Seine „Karte der Wildnis“, erschienen im vergangenen Jahr, selbstverständlich, bei Matthes & Seitz, dokumentiert den Versuch, auf den britischen Inseln Orte zu finden, die auf den gängigen Karten nur noch als graue, unzugängliche Fläche eingetragen sind: „Die meistbenutzte englische Karte ist der Straßenatlas. Wenn sie ihn aufschlagen, sehen Sie ein Netz aus Autobahnen und Straßen, das das gesamte Land überzieht. Beim Anblick dieses Dickichts von Straßen kann einem der Gedanke kommen, dass die Hauptelemente, aus denen die Landschaft heute besteht, Asphalt und Benzin wären.“

Wense schlug seine Schneisen durch die deutschen Mittelgebirge zwischen Paderborn und Göttingen, Harz und Vogelsberg strikt nach Messtischblatt. 1932 hatte er im auf den ersten Blick unscheinbaren nordhessischen Städtchen Karlshafen sein Urerlebnis und wanderte fortan bis kurz vor seinem Tode 1966 Tausende Kilometer – weise predigend, dass es für die Welterfahrung nicht auf die Größe des Radius ankommt und schon gar nicht auf touristische Prominenz: „Denn die Erd-Natur ist und bleibt den Menschen und grade den besten heute ganz unbekannt, da sie die Gelegenheit nicht wahrnehmen, sie zu erfahren. … Es ist stilvoll und teuer, in Ragusa gewesen zu sein, und man kann viel davon erzählen. Aber mir gilt, wer in Pömbsen war. Und wer davon schweigt“, schrieb Wense in einem Brief, der in dem posthumen Werk „Wanderjahren“ abgedruckt ist. Geschwiegen hat er natürlich nicht, sondern ähnlich wie Thoreau mit seinen Tagebüchern ein gewaltiges, kaum zu überblickendes Werk hinterlassen. 

Angeblich sieht man beim Reisen ja nur das, von dem man zuvor gelesen hat. Bei diesen großen Wanderern lernt man, dass man nur dort wirklich war, worüber man auch danach geschrieben hat. An den Standard von Maniacs wie Wense kommen wir heute schon konditionell nicht mehr heran. In seinem neuen Buch „Alte Wege“ zitiert Macfarlane die Schätzung Thomas De Quinceys, dass der englische Romantiker William Wordsworth „280.000, vielleicht sogar 300.000 Kilometer gelaufen sei“. Macfarlane begnügt sich mit „tausend und mehr“ und auch er erreicht sein wahres Ziel nie. Denn er will auf alten Wegen gehen, „um Fährten in die Vergangenheit zu finden, nur um immer und immer wieder in der Gegenwart zu landen“. 

Das Ideal der Naturschriftstellerei ist die Identität von Wandern und Schreiben. Bindeglied ist die Idee, dass der Autor ein Leser wiederum der Natur selbst ist; man könnte auch sagen ein Medium, das die Distanz zwischen primärer (womöglich göttlicher) und sekundärer (menschlicher) Schöpfung, also zwischen Natur und Kunst überbrückt. Man liest im Buch der Natur, Macfarlane schreibt: „Der Schnee war erstaunlich gut lesbar. Jede Fährte schien eine rückwärts zu lesende Abhandlung, eine Reihe von Hinweisen auf vergangene Geschehnisse.“ Bei Thoreau heißt es in verblüffender Parallelität: „Diese schlichte Schneedecke auf dem Eis des Teichs hat nicht das Weiß eines unbeschriebenen Blatts, sondern eines ungelesenen.“ (Eintrag vom 19. Dezember 1840).

Wir Wochenendtrip-Naturburschen und Off-Road-SUV-Fahrer glauben nicht mehr an eine „lesbare“ Natur, in der eine Geschichte abseits der Geschwindigkeit der Gegenwart erzählt wird. Wir folgen den alten Wegen mit Google Maps und nehmen dann den ICE, im Gepäck einen schönen, buchkünstlerisch wertvollen Band mit Illustrationen von Blüten und Blättern, die wir im Botanischen Garten kaum wiedererkennen würden. 

Die Renaissance des Nature Writings stammt aus einer Verlusterfahrung: Die Landschaft trägt immer deutlicher die Spuren der Zeit, auch die Narben und Wunden von Zersiedelung, Windparks und schnurgeraden Bahntrassen. In Büchern glauben wir sie noch zu finden – die Zeitlosigkeit der Natur, die den Galopp des Fortschritts in einer ästhetischen Erfahrung für einen Moment zum Verschwinden bringt und uns Atem holen lässt. Zugespitzt gesagt: Das Buch bringt uns nicht zur Natur zurück, es tritt vielmehr an ihre Stelle. 

Richard Kämmerlings

Richard Kämmerlings ist Leitender Redakteur bei der Zeitungsgruppe Die Welt/Welt am Sonntag. Er verantwortet u.a. die Beilage „Literarische Welt“. 2011 erschien bei Klett-Cotta „Das kurze Glück der Gegenwart. Deutschsprachige Literatur seit ‘89“.