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Nawalny ein "sakrales Opfer"?

Titelthema - Nawalny ein "sakrales Opfer"?
Wer am Kazaner Bahnhof in Moskau abseits der Menschenmassen auf den Zug warten möchte, geht am besten in den VIP-Warteraum. Er dient bis heute als offizielle Begrüßungs- und Eincheckhalle für die Passagiere des legendären Golden-Eagle-Transibirien-Expresszugs. © Frank Herfort

Der Fall Nawalny belastet das angeschlagene deutsch-russische Verhältnis zusätzlich. Die Mehrheit der Russen glaubt desn abenteuerlichen und fantasievollen Darstellungen der Politik und der regierungsnahen Medien.

01.01.2021

Es war ein Taxifahrer in Moskau, der mich in Verlegenheit brachte. "Warum setzt sich Ihre  Frau Merkel so sehr für Nawalny ein?", fragte er mich. "Welches Interesse hat sie?" Als ich ihm erklärte, dass Alexej  Nawalny mit einem verbotenen chemischen  Kampfstoff vergiftet worden sei, sagte er: "Aber  er ist doch kein Deutscher, sondern ein Russe. Und das ist ja auch in Sibirien passiert." Ich entgegnete ihm: "Der Einsatz dieses Kampfstoffs ist weltweit verboten." Als ich dann begann, von europäischen Werten und der Achtung der Opposition in einem parlamentarischen System zu reden, schaute er mich verständnislos an und meinte,  da stecke  doch etwas anderes hinter: "Vermutlich Amerika".

Damit äußerte er die Meinung vieler Russen. Demnach ist Deutschland nur so etwas wie ein Vasallenstaat der USA, ein Erfüllungsgehilfe der  Vereinigten Staaten. Washington schreibt Berlin vor, wie es sich gegenüber Moskau zu verhalten habe. "Deshalb soll doch auch Nord-Stream-II gekippt werden", erklärte mir der Taxifahrer weiter. "Damit Ihr Deutschen teures Gas aus Amerika kauft. Ganz schön dumm seid Ihr."

Ich denke, der Taxifahrer wird kaum die Debatten im russischen Parlament verfolgen. Aber er liegt anscheinend im Mainstream. Als ich das russische Fernsehen einschalte, sehe ich Jelena Panina, Abgeordnete der Duma, die kämpferisch erklärt: "Diese sogenannte Vergiftung sollte Russland und Deutschland gegeneinander aufhetzen. Ziel war es, die EU dazu zu zwingen, Sanktionen gegen Russland und gegen Nord-Stream II  zu verhängen.  Das ganze Projekt soll so  vernichtet werden."

Frau  Panina, die auch gleichzeitig am "Institut für Internationale politische und wirtschaftliche Strategien" arbeitet, legt dann noch nach und veröffentlicht eine Online-Präsentation unter dem Titel: "Wer steckt hinter dem Spiel gegen Russland?" In der Analyse heißt es, es gehe um die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen im Jahre 2024. Die Gegner Russlands würden alles tun, um die Wahlen zu stören, wenn nicht sogar zu verhindern. Respekt, denke ich. Um einen Zusammenhang zwischen der Vergiftung Nawalnys und den nächsten russischen Präsidentschaftswahlen in vier Jahren herzustellen, dazu bedarf es schon einer gewissen Phantasie und außergewöhnlichen Vorstellungskraft.

Mit der Wahrheit geht man auch in den vom Kreml gelenkten offiziellen Fernsehkanälen keineswegs zimperlich um. Fox News auf Russisch! Jeden Sonntagabend kommt die Stunde des größten Propagandisten des Landes. Dmitri Kissiliow beginnt seine Sendung "Vesti Nedeli", das "Neuste der Woche", eher harmlos. Nawalny habe das alles inszeniert, um sich selbst zurück ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zu bringen. Schon lange sei es still um den Blogger  geworden, deshalb diese angebliche Vergiftung, die er nur vorgetäuscht habe, heißt es in der äußerst beliebten Wochenschau. 

Auch dies ist eine These, der sicherlich viele Menschen in Russland zustimmen. Aber mit einer so einfachen Behauptung  würde sich Kissiliow nie zufrieden geben. Deshalb wird später noch  der Chef  des Auslandsgeheimdienstes Sergej Narischkin interviewt, und zwar anlässlich des 100-jährigen Bestehens seiner  Organisation. "Bereits vor einem Jahr", erklärt Narischkin zu meinem Erstaunen, "haben wir folgende Informationen erhalten: In einem NATO-Land, ich sage nicht einmal, dass es Deutschland war, kam es zu einem Treffen von Geheimdienstleuten. Dort wurde die Frage diskutiert, auf welche Weise man die Protestbewegung in Russland unterstützen und wiederbeleben könne." Als eine der Varianten, fährt der Geheimdienstchef fort, habe man dabei vorgeschlagen, mithilfe eines "sakralen Opfers" der Opposition in Russland wieder auf die Beine zu helfen. Dabei sei  besprochen worden, dass dieses Opfer am besten ein hochrangiger Oppositionspolitiker sein soll.

Mit anderen Worten, bereits 2019 ist  die Vergiftung Nawalnys geplant worden, und zwar von ausländischen Geheimdiensten! Verabredet habe man sich…. naja, vielleicht in Deutschland? Sollte der normale Fernsehzuschauer an der These noch eventuelle Zweifel haben, am nächsten Tag meldet sich der Vorsitzende der Staatsduma Wjatscheslaw Wolodin zu Wort. Auch der Duma-Vorsitzende geht wie selbstverständlich davon aus, dass Nawalny von ausländischen Geheimdiensten vergiftet worden sei. "Deshalb schlage ich dem deutschen Bundestag vor, darüber zu diskutieren, inwieweit seine Geheimdienste in die Ereignisse involviert sind. Auch andere Parlamente der EU sollten sich endlich mit dieser Frage beschäftigen."

Mittlerweile, so heißt es dann in den abendlichen Nachrichtensendungen, leitet die westsibirische Staatsanwaltschaft ein Verfahren ein. Dabei kommt man nun zu einem ganz anderen Ergebnis: "Es gibt keinerlei Gründe, von einer Vergiftung zu sprechen", heißt es. Als Erklärung, warum es Nawalny so schlecht gegangen war,  zitiert die Staatsanwaltschaft in dem Bericht plötzlich die Ehefrau Julia Nawalnaja. Sie soll dem Krankenhauspersonal erzählt haben, dass ihr Mann auf Diät sei, möglicherweise habe dies zu seinem "Unwohlsein" geführt. Oder eine Störung des Stoffwechsels? Nichts sei ausgeschlossen, so die Staatsanwaltschaft. Die Ehefrau habe schon länger beobachtet, dass es ihrem Mann nicht gut gehe.

Somit bleibt die Frage offen, ob es denn überhaupt eine Vergiftung gegeben hat. Unter den vielen russischen Politikern genießt Außenminister Sergej Lawrow  besonderes Vertrauen. In der Bevölkerung ist er äußerst populär. Umso wichtiger ist seine Darstellung. Auf einer seiner vielen Pressekonferenz, die in dem Nachrichtenkanal "Russia 24" live übertragen wird, erklärte der zurzeit wohl dienstälteste Außenminister der Welt: "Wir haben Grund zu der Annahme, dass das Eindringen von chemischen Kampfstoffen in seinen Körper in Deutschland oder in dem Flugzeug geschehen sein könnte, in dem er in die Charité transportiert wurde. Wie Sie sich erinnern, hieß es zuerst, er habe im Flughafen in Tomsk Tee getrunken. Plötzlich sagte Navalny selbst, dass es nicht um Tee gehe, sondern um seine  Kleidung, durch die er vergiftet wurde. Das ist Zirkus, meiner Meinung nach ein Affentheater."

Somit hat der ranghöchste Diplomat Russlands die Bundesregierung indirekt  beschuldigt, Nawalny vergiftet zu haben, wobei er vorsichtshalber noch den Konjunktiv bemüht. Meine russischen Freunde in Moskau nehmen das mit Schmunzeln zur Kenntnis und feixen eher. "Wir haben es immer gewusst, Ihr vergiftet unsere Leute", meint Sergej, der sich sonst wie viele Russen gar nicht mehr mit Politik beschäftigt. Er empfiehlt mir, am besten keinen Tee zu trinken. Zumindest nicht außerhalb der eigenen vier Wände.

Als dann  in Deutschland die Kanzlerin vor die Presse tritt und Aufklärung verlangt, sieht sich nun auch  Wladimir Putin gezwungen, Stellung zu beziehen. Auf dem "Valdai-Forum", einer exklusiven Runde von Politikern, Journalisten und Unternehmern, die einmal jährlich tagt, sagt  er dann, ohne den Namen Alexej Nawalny in den Mund zu nehmen: "Wir haben schon oft von  Vergiftungen  gehört, dies ist nicht das erste Mal. Ja, solche Vorwürfe gibt es immer wieder. Aber wenn  die Person, von der Sie sprechen, von uns  vergiftet wurde, dann  hätten  wir sie doch nicht zur Behandlung nach Deutschland geschickt? Ich persönlich habe dafür gesorgt."

Ein Argument, das für seine Anhänger ausschlaggebend ist. Mein russischer Freund Sergej meint hingegen: "Das war ein Ablenkungsmanöver. So steht Putin als Retter Nawalnys da. Ihm blieb doch nichts anderes übrig als einem Transport nach Deutschland zuzustimmen." Aber der Präsident hat noch andere "Fakten" zum Beweis russischer Unschuld. Wladimir Putin: "Zuerst hieß es, es sei Nowitschok. Dann wurde das Ganze an die OPCW, an die Internationale Organisation für das Verbot chemischer Waffen, geschickt. Und plötzlich wird uns gesagt: Das ist nicht "Nowitschok", das ist etwas anderes. Also, was nun?"

Was meint der Präsident damit? Fest steht: In ihrer Analyse hatte die OPCW ganz klar von Nowitschok gesprochen, allerdings wurde darauf hingewiesen, dass es sich um eine neuere Form des verbotenen Giftes handele. Spuren dieses  Nervengifts waren in Nawalnys Blut gefunden worden. Und die Ergebnisse der von der OPCW beauftragten Referenz-Labore stimmten mit denen der Speziallabore in Deutschland, Schweden und Frankreich überein.

In den deutschen Medien ist die Vergiftung Nawalnys tagelang der Aufmacher in den Nachrichten. Der 44-Jährige sei Opfer eines Verbrechens geworden, sagt die Kanzlerin: "Er sollte zum Schweigen gebracht werden." In Talkshows in Deutschland schlägt der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses Norbert Röttgen ein hartes Vorgehen gegen Russland vor. Andere Experten sehen die Auftraggeber direkt im Kreml sitzen.

Und was sagt das Volk? "Das Wichtigste ist doch, dass er lebt", meint mein Nachbar in Moskau, als wir im Aufzug meines Mietshauses den Fall diskutieren. "Natürlich stecken unsere Leute dahinter, wer denn sonst? Aber sie haben sich genauso dumm angestellt wie damals in Salisbury. Das haben sie auch vermasselt."

Im März 2018 wurde in Salisbury auf den russischen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter auch ein Anschlag mit Nowitschok verübt. Am Ende starb eine unbeteiligte junge Frau. Zwei Mitarbeiter des militärischen Geheimdienstes GRU wurden auf Überwachungskameras eindeutig als Täter identifiziert. Sie hätten sich nur die Kathedrale von Salisbury anschauen wollen, erklärten sie im russischen Fernsehen. Ganz Russland amüsierte sich über die Ausreden der beiden Agenten, die sich fast noch als Liebespaar outeten, hatten sie doch gemeinsam in einem Doppelbett übernachtet. Aus Kostengründen, wie sie sagten.

Oppositionelle leben in  Russland gefährlich. Die Liste der Ermordeten ist lang, sie reicht von Anna Politkowskaja bis hin zu Boris Nemzow. Nawalny ist vielen "auf die Füße getreten", Politikern, Geschäftsleuten, Staatsanwälten. Er deckte Korruption in großem Stil auf. "Hätte der Pilot nicht umgedreht und das Flugzeug entgegen aller Anweisungen in Omsk zwischengelandet, vielleicht wäre er an Bord gestorben", meint der Chefredakteur des Kreml-kritischen Radiosenders Echo-Moskwy, Alexej Wenediktow. Wann immer man das Radio anschaltete, Echo-Moskwy berichtete ausführlich. Nawalny ist bei dem Sender so etwas wie eine Kultfigur. "Die ganze Sache hat Nawalny international zu Ansehen verholfen", meint Wenediktow, "die EU erkennt ihn jetzt als offiziellen Vertreter der Opposition an. Er ist durch den Anschlag quasi legitimiert. Somit wird er zu einem Faktor der europäischen und bald auch der amerikanischen Politik gegenüber Russland." 

Dies sehen viele allerdings anders. Ich frage meinen Freund, den Buchautor und Journalisten Frank Ebbecke, der seit mehr als einem Vierteljahrhundert in Moskau lebt. Er winkt ab und meint, dass das Interesse am Fall Nawalny merklich nachgelassen hat: "Der mittlerweile leise rieselnde Schnee deckt über diese Affäre ein feines Tuch des Vergessens. Nawalny ist einigen im Wege. Ohne Frage! Allerdings  glauben die wenigsten hier, dass Putin höchst selbst hinter dem nach wie vor nicht abschließend geklärten Giftkomplott steckt. Nawalny  kann dem Präsidenten nicht einmal annähernd gefährlich werden. Nawalny ist ein blendender Rhetoriker, ein gewiefter Motivator, aber ohne ein nur ansatzweise klares Programm."

Hinzu komme, dass die russische Gesellschaft in ihrer tief verwurzelten, historisch gewachsenen Demut und Akzeptanz sich dem Unabänderlichen generell beuge, meint Ebbecke. Eine Position, die auch der Ost-Europa-Wissenschaftler Professor Johannes Grotzky vertritt. Er war mein Vorgänger in meiner ersten Zeit als Moskau-Korrespondent für die ARD ab 1989; seitdem hat er zahlreiche Bücher über Russland veröffentlicht. Er liebt Land und Leute, besucht mich regelmäßig in Moskau. Sein Urteil zu Nawalny: "Das russische Volk hat sich seit jeher mit der Macht arrangiert. Die Geschichte zeigt, dass die Opposition immer nur von einer kleinen Minderheit getragen wurde. Revolutionen in Russland – etwa die Große Oktoberrevolution - wurden von außen in das Land gebracht, quasi exportiert. Deshalb haben Bewegungen, wie sie Nawalny vertritt, auch keine Chance, von einer breiten Mehrheit unterstützt zu werden."

Allerdings sind junge Leute in Moskau und Sankt Petersburg zu Zehntausenden auf die Straße gegangen, um gegen das Regime Putin zu demonstrieren. Ich erinnere mich, wie brutal die Spezialeinheiten des Innenministeriums gegen Anhänger von Nawalny vorgingen. Der hatte zu einer verdeckten Demo, einem harmlosen "Spaziergang" auf der Moskauer Prachtstraße Tverskaya  aufgerufen. Tausende  wurden festgenommen, hunderte verurteilt. Studenten wurden von der Universität verwiesen, Arbeitsplätze gekündigt.

Die Schüler und Studenten, die für Nawalny demonstrierten, sind sympathische, gebildete junge Leute. Sie sehen in Russland keine positive Veränderung, deshalb würden mehr als 50 Prozent am liebsten das Land verlassen, um sich in Europa eine Zukunft aufzubauen. Für sie ist Nawalny eine Galionsfigur, ein mutiger Kämpfer gegen das Regime Putin. Ein junger Demonstrant damals: "Was haben wir denn für Perspektiven? Wer reiche Eltern mit Beziehungen hat, der bekommt eine Stelle in einem Ministerium oder in der Verwaltung. Ansonsten kann man als Kellner für einen Hungerlohn arbeiten, auch mit Studium! Nawalny hat die korrupte Clique angegriffen, ihre riesigen Grundstücke mit tollen Häusern in seinen Filmen gezeigt. Er ist der Einzige, der sich gegen Putin stellt. Er ist ein Held!" Wenige Minuten später wurde dieser  junge Mann, der eine russische Flagge mit sich trug, abgeführt und brutal in einen Gefängniswagen geworfen.

Die Frage ist nun: Wenn Nawalny nach Russland zurückkehrt, wird er nach dem Attentat ein anderes politisches  Standing haben? Seine Fan-Gemeinde fühlt sich bestätigt, ist doch die überstandene Vergiftung ein Beweis dafür, dass Nawalny nie aufgibt. Und dass das Regime vor ihm Angst hat.

Die Corona-Pandemie, die besonders in Moskau und Sankt Petersburg wütet, macht allerdings im Moment Großdemonstrationen unmöglich. So hat das Virus auch Nawalny erst einmal in eine Art Winterpause geschickt. Was im Frühjahr in Moskau geschieht, ist nur schwer vorherzusagen. Die Unzufriedenheit in der russischen Bevölkerung wächst, Corona hat viele Menschen in bittere Armut gestürzt. Nawalny ist zwar keine Alternative zum jetzigen Präsidenten, aber einer, der die Wut der Enttäuschten zu kanalisieren weiß. So haben bei Kommunalwahlen in Tomsk, der Stadt, in der er  vermutlich vergiftet  wurde, Anhänger von Nawalny einen Achtungserfolg erzielt und konnten ins Stadtparlament einziehen. Die Kremlpartei "Geeintes Russland" verlor hingegen deutlich.

Wie aber geht es weiter zwischen Moskau und Berlin? In  den offiziellen deutsch-russischen Beziehungen herrscht Eiszeit. Dennoch glaubt der Ostexperte Alexander Rahr nicht, dass das Verhältnis auf Dauer gefährdet ist: "Zuerst dachte ich, dass es eine nachhaltige Schädigung gibt. Mittlerweile glaube ich, es wird sich wieder einpendeln. Gottseidank ist Nawalny wieder gesund. Und zudem hat die russische Seite eingesehen, dass sie sich mit den Deutschen verständigen muss. Denn sonst hat sie  kaum einen bedeutenden Ansprechpartner in Europa. Und  Nord-Stream 2 wird gebaut. Ich vermute, in einigen Monaten werden positive Dinge passieren, die uns wieder zusammenbringen."