Porträt
Nicht laut, aber klar und sehr klug
Sie ist eine wichtige Stimme gegen Antisemitismus und Rassismus in Deutschland. Die gebürtige Innsbruckerin Mirjam Zadoff leitet das NS-Dokumentationszentrum in München.
Vor wenigen Stunden ist sie von einer Japan-Reise nach München zurückgekehrt. Ihr Terminkalender lässt keine Pause zu. Gerade noch hat sie es zu unserem Treffen geschafft. Mir gegenüber sitzt Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums in München, eine Aufgabe, die sie im Jahr 2018 übernommen hat und die angesichts eines wachsenden Antisemitismus in Deutschland beinahe täglich an Bedeutung gewinnt.
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So wie die gebürtige Innsbruckerin eine besondere Präsenz ausstrahlt, die dem, was sie sagt, stets Eindringlichkeit, und dem, wozu sie schweigt, ebenso Bedeutsamkeit verleiht, so sind ihre Voraussetzungen für ihren heutigen Verantwortungsbereich herausragend, ohne dass sie im strengen Sinn geplant gewesen wären.
Kosmopolitisches Leben
Es begann mit dem Studium der Geschichte und Judaistik in Wien. Für sie war das wohl ein ziemlich naheliegender Gedanke angesichts der braunen Vergangenheit Österreichs. 2006 promovierte sie in München mit dem Thema Nächstes Jahr in Marienbad. Gegenwelten jüdischer Kulturen der Moderne. Diese Arbeit war offenbar außergewöhnlich, denn sie wurde von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften mit dem Preis der Peregrinus-Stiftung ausgezeichnet. Es folgte die Habilitationsschrift Der rote Hiob. Das Leben des Werner Scholem. Thema ist der jüdische KPD-Politiker, der 1940 im KZ Buchenwald ermordet wurde. Mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit holte ihn die Historikerin aus der Vergessenheit zurück. Dieses Projekt, sagt sie, habe für sie eine ganz besondere Bedeutung. Von 2014 bis 2019 lehrte und forschte Mirjam Zadoff als Professorin für Geschichte und Inhaberin des AlvinH.-Rosenfeld-Lehrstuhls für jüdische Studien an der Indiana University, Bloomington. Gastprofessuren und Fellowships in Berkeley, Zürich, Berlin, Augsburg, London und Jerusalem gaben diesem Intensiv-Lebenslauf seine Abrundung.
Der vergleichende Blick der Historikerin und ein kosmopolitisches Leben führen bei der Österreicherin zu einer besonderen Betrachtung von Antisemitismus und Rassismus hierzulande, aber auch weltweit. Die Befassung mit der Geschichte schärft in besonderer Weise ihren Blick auf die besorgniserregenden Ereignisse der Gegenwart. Sie verlangt jedoch wissenschaftliche Objektivität. Diese als reine Lehre durchzuhalten, ist schwierig, vermutlich unmöglich angesichts des Terrorangriffs der Hamas, angesichts antijüdischer Parolen und Drohungen in Deutschland und in ganz Europa. Mirjam Zadoff kennt das Problem nur zu gut: „Die Trennung zwischen Wissenschaft und Emotion ist enorm schwierig, eigentlich ist sie nicht möglich.“
Unser Gespräch bestätigt diese Einschätzung. Es ist so vieles, was sie in diesen Tagen und Wochen bewegt, beunruhigt und – auch wenn sie nicht so tief in ihre Seele blicken lässt – wohl auch erschüttert. Da ist der Fall Aiwanger. Wie konnte man in Bayern so schnell wieder zur Tagesordnung übergehen? Warum ist alles so schnell in Vergessenheit geraten? Warum, fragt sie, wählen die Menschen gegen ihre ureigenen Interessen, wenn sie AfD wählen? Tief beunruhigt zeigt sie sich über den weltweiten Rechtsruck und darüber, dass rechtsextremes Gedankengut bei einer wachsenden Zahl von Bürgerinnen und Bürgern gerade auch in Deutschland als etwas Normales empfunden werde. Sie kennt Amerika gut und traut sich daher auch ein belastbares Urteil zu: Die USA seien ein gespaltenes Land, der Rassismus und der Antisemitismus auch dort auf dem Vormarsch.
Wachsende Polarisierung
Nach dem 7. Oktober, dem Terror-Angriff der Hamas auf Israel, aber auch schon in den Monaten davor sieht sie eine „wachsende Polarisierung in der deutschen Gesellschaft. Dringend notwendige Allianzen innerhalb einer diversen und vielfältigen Gesellschaft gehen in diesen Tagen verloren. „Das erfüllt mich mit großer Sorge.“ Eine wachsende Zahl von Jüdinnen und Juden in Deutschland hätten nach dem Anschlag das Gefühl, dass sie hier nicht mehr sicher seien. Wie sehr sie selber die Sorge um ihre Familie umtreibt, lässt sie nicht erkennen.
Ich frage die Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München, wie man die Erinnerung an die Verbrechen der Nazis wachhalten wolle, wenn die letzten Zeitzeugen nicht mehr unter uns sind. Sie spricht von einem „Kraftakt aus der Vergangenheit in die Zukunft, um die Lücke zu schließen, die die Augenzeugen des Verbrechens hinterlassen, die Menschlichkeit, die sie einforderten“. Dies sei eine der schwierigsten Aufgaben für die nächsten Jahre.
Mirjam Zadoff ist eine der wichtigsten Stimmen gegen Antisemitismus und Rassismus in diesem Land – nicht laut, aber klar und sehr klug.
Sigmund Gottlieb
Zur Person
Dr. Mirjam Zadoff (RC München-Friedensengel) wurde in Innsbruck geboren und studierte in Wien Geschichte und Judaistik. Nach Promotion und Habilitation forschte und lehrte sie bis 2019 an der Indiana University in Bloomington und hatte diverse Gastprofessuren und Fellowships im In- und Ausland inne. Seit 2018 ist sie Direktorin des NSDokumentationszentrums in München.
Der Autor
Prof. Sigmund Gottlieb, RC München-Harlaching,
ist Journalist und war von 1995 bis 2017 Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens.
2020 erschien sein Buch „Stoppt den Judenhass!“ (Hirzel)