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Nicht nur die Stalinallee

 - Nicht nur die Stalinallee
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Die Proteste im Sommer 1953 waren mehr als der 17. Juni. Sie waren umfassender als lange angenommen.

Arnd Bauerkämper23.05.2023

In der Erinnerung wird die Erhebung, die im Juni 1953 die SED-Herrschaft in der DDR erschütterte, bis heute mit Berlin – und hier besonders mit der Stalin-Allee – verbunden. Außerdem hat sie sich auf den 17. Juni konzentriert. Demgegenüber ist weitgehend ausgeblendet worden, dass der Aufstand auch ländliche Regionen erfasste, schon Anfang Juni begann und keineswegs mit der Verhängung des Ausnahmezustandes durch die sowjetische Armee am 17. Juni abgeschlossen war. Im Kalten Krieg war der Tag aber in beiden deutschen Staaten zu einem Symbol geworden. In der DDR befürchteten die Machthaber eine erneute Protestwelle gegen ihre Herrschaft. Als besonders schädlich wurde im "Arbeiter-und-Bauern-Staat" ein erneuter Streik von Arbeitern nach dem Vorbild des Ausstandes in der Karl-Marx-Allee gehalten. Auch in der Bundesrepublik herrschte eine Fixierung auf diesen Ort und das Datum vor. Aus der Perspektive der westdeutschen Eliten hatte die Erhebung nämlich die "totalitäre" Diktatur der SED völlig diskreditiert. Insgesamt hat sich damit auch im vereinigten Deutschland eine Erinnerung festgesetzt, die den breiteren zeitlichen und räumlichen Rahmen zumindest vernachlässigt hat. Demgegenüber werden im Folgenden Voraussetzungen, Formen und Folgen der Erhebung in ländlichen Regionen der DDR skizziert.

Voraussetzungen

In den späten 1940er Jahren hatte die 1945/46 von der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) und der KPD durchgesetzte Bodenreform auf dem Lande einen kaum zu bewältigenden Problemstau verursacht, der sich vor allem in der zunehmenden Zahl zurückgegebener Neubauernstellen widerspiegelte. Aber auch "Großbauern" mit jeweils mehr als 20 Hektar Landbesitz, gegen die das SED-Regime seit 1948 wirtschaftliche Belastungen und zunehmend auch Zwangsmaßnahmen verhängt hatte, verließen ihr Land. Insgesamt schwoll die Unzufriedenheit über das hohe Ablieferungssoll, das den alteingesessenen Bauern auferlegt wurde, in den frühen 1950er Jahren zum offenen Protest an. Ihm verlieh der erzwungene Zusammenschluss, den die Ost-Berliner Machthaber am 9. Juli 1952, verkündeten, kräftig Auftrieb.

1952/53 wurden überwiegend noch kleine Produktionsgenossenschaften (LPG) gegründet. Die Flucht vieler bedrängter Bauern, die von wirtschaftlichem Bankrott bedroht waren oder zur Kollektivierung gezwungen wurden, verursachte zusammen mit dem Scheitern der Frühjahrsbestellung schließlich eine akute Versorgungskrise. Angesichts der alarmierenden Nachrichten verlangte die sowjetische Parteiführung, die nach dem Tod Stalins (5. März 1953) einen wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR fürchtete, die Kollektivierungspolitik vorerst einzustellen. Unter dem Druck der sowjetischen Parteiführung untersagte das Zentralkomitee der SED schon am 26. Mai 1953 die Bildung neuer LPG in der DDR. Demgegenüber sollte Einzelbauern wirtschaftliche Unterstützung gewährt werden. Am 9. Juni nahm das Politbüro die forcierte Kollektivierungspolitik öffentlich zurück. Außerdem konnten enteignete Landwirte die Rückgabe ihres Eigentums beantragen. Trotz dieser Zugeständnisse hatte die SED-Führung aber das Vertrauen der Bauern – und anderer Gruppen der ländlichen Gesellschaft – verloren. Es kam deshalb im Juni 1953 auch in Dörfern zu Streiks und Protesten.

Der Aufstand

Schon im Frühjahr 1953 war in der DDR auf dem Land die Unruhe gewachsen, und vereinzelt registrierten Kreisleitungen der Partei Arbeitsniederlegungen, besonders in den LPG sowie in den staatlichen Maschinen-Traktoren-Stationen und Volkseigenen Gütern. Angesichts dieser Ausgangslage ermutigten die Nachrichten über die Arbeiterproteste am 16. und 17. Juni besonders Dorfbewohner im Umland der Städte zu umfassender Kritik an der SED-Diktatur.

Vielerorts erhoben Dorfbewohner offenbar zunächst vorrangig wirtschaftliche Forderungen, bevor Demonstrationen und Kundgebungen eskalierten und dabei auch politische und persönliche Freiheit, der Rücktritt von Spitzenfunktionären der SED und sogar die Wiedervereinigung Deutschlands verlangt wurden. In der Dynamik des Protestes auf dem Lande verschärfte sich die Abwehr der Kollektivierungspolitik. Landwirte verlangten, die LPG aufzulösen, verhaftete "Großbauern" freizulassen, zur Wirtschaftsfreiheit zurückzukehren und das privatbäuerliche Eigentum wiederherzustellen. Der Protest gipfelte schließlich in gewalttätigen Angriffen auf Repräsentanten und Symbole der staatssozialistischen Diktatur, so am 17. und 18. Juni in den Kleinstädten Jessen, Zossen und Mühlhausen. Überdies wurden in einzelnen Gemeinden Amtsgebäude wie Rathäuser und Gemeindeämter von Bauern besetzt, zum Beispiel in Friesack (Bezirk Potsdam) und Ludwigsdorf (Bezirk Dresden). Diese politische Opposition zielte direkt auf den Herrschaftsanspruch des Regimes. So verlangten Dorfbewohner wiederholt unverblümt den Rücktritt der SED-Führung. Dorfbewohner nutzten die offene Krise des SED-Regimes aber auch, um sich für zuvor erlittenes Unrecht und Demütigungen zu rächen oder Alltagskonflikte auszutragen.

Die Folgen

Der Zerfall Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften und die Kündigung von Mitgliedern hielten weit über den Juni 1953 hinaus an. In der DDR lösten sich schon bis Oktober 274 LPG auf. Vom 30. Juni bis 31. Dezember 1953 ging die Zahl der Kollektivbetriebe insgesamt von 5.074 auf 4.691 um rund acht Prozent zurück. Da die örtlichen Parteifunktionäre dem gesellschaftlichen Druck, der sich in den Gemeinden und unter den Mitgliedern gegen die Kollektivierungspolitik und -arbeit richtete, nicht gewachsen waren, konnten sie den von vielen erwünschten Zusammenbruch von LPG vor allem im Sommer 1953 kaum verhindern.

Auch die Rückgabe von Höfen an zuvor enteignete Bauern wirkte auf dem Lande als offenes Eingeständnis des Scheiterns der SED-Landwirtschaftspolitik. Der abrupte Kurswechsel der SED-Führung ermutigte Landwirte und andere Bevölkerungsgruppen in den Dörfern zu weiteren Forderungen, während Parteifunktionäre, Mitarbeiter der Staatssicherheit und viele Polizisten verunsichert waren.

Auch wenn neue Unruhen auf dem Lande im Herbst 1956 nicht unmittelbar von der Volkserhebung des Sommers 1953 ausgelöst wurden, zeigen sie die gewachsene Protestbereitschaft unter den verbliebenen selbständigen Bauern, aber auch die Unzufriedenheit vieler LPG-Mitglieder. So geriet die Kollektivierungspolitik erneut in eine Krise, wenngleich das Ausmaß abweichenden Verhaltens auf dem Lande geringer blieb als drei Jahre zuvor. Jedoch stellten Dorfbewohner im Herbst 1956 vielerorts das enge Bündnis zwischen der DDR und der Sowjetunion in Frage. Insgesamt zeitigte das Protestpotential, das sich bereits im Frühjahr 1953 auf dem Lande entwickelt hatte, erhebliche Folgen, die weit über den 17. Juni hinauswirkten. 70 Jahre später sollte auch an die hier erläuterten, bislang vernachlässigten Aspekte der Volkserhebung erinnert werden.

Arnd Bauerkämper

Arnd Bauerkämper ist Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte der DDR vorgelegt.