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Titelthema

Nur mit dem Volk

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Nach 75 Jahren gehen die Blicke nicht nur zurück, sondern auch nach vorn: Gibt es das Grundgesetz in 25 Jahren noch? Gedanken zur Zukunft der deutschen Verfassung

Jochen Theurer24.04.2024

I. Machtgewinner und -verlierer

75 Jahre nach seinem Inkrafttreten hat sich das im Grundgesetz ursprünglich angelegte, relativ gut austarierte Machtverhältnis zwischen den fünf obersten Verfassungsorganen Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung, Bundespräsident und Bundesverfassungsgericht zum Teil massiv verschoben. Absoluter Machtgewinner ist dabei die Bundesregierung, größter Machtverlierer ist der Bundestag.

Verantwortlich dafür sind nicht so sehr die fast 70 Verfassungsänderungen, durch die sich der Umfang des Grundgesetzes mehr als verdoppelt hat. Viel entscheidender waren die gewaltigen Entwicklungen in nahezu allen Lebensbereichen, vor allem aber in technologischer Hinsicht: 1949 gab es weder Computer noch Satelliten, Internet, Digitalisierung oder Künstliche Intelligenz. Diese Bereiche sind hochkomplex und spielen mittlerweile in allen relevanten Politik- und Lebensbereichen eine große Rolle. Um sinnvolle politische Entscheidungen zu treffen und praxistaugliche Gesetze zu erlassen, müssen die jeweiligen Akteure sich deshalb entsprechend informieren und beraten lassen.

Über die dazu erforderliche Manpower verfügt heute nur noch die Bundesregierung, weil sie als einziges Verfassungsorgan direkt auf das Wissen und die Kompetenz von über 100.000 Mitarbeitern im Kanzleramt, in den 15 Bundesministerien und in den vielen nachgeordneten Behörden des Bundes zugreifen kann. Im Gegensatz dazu hat der Bundestag erheblich viel weniger Personal (ca. 3.000 Mitarbeiter) und Budget (1,2 Milliarden Euro) und kann den aktuell 735 Abgeordneten deshalb auch nur relativ weniger Informationen und Gutachten zur Verfügung stellen. Die Bundestagsabgeordneten sind deshalb heute faktisch nicht mehr in der Lage, komplexe Gesetzesentwürfe selbst zu erarbeiten. Die meisten Gesetze werden darum seit vielen Jahren von der Bundesregierung in den Bundestag eingebracht.

 

Hinzu kommt, dass sich durch die Gründung der Europäischen Union (EU) und die damit einhergehende stetige Übertragung von Hoheitsrechten von den Nationalstaaten auf die EU eine ganz neue Rechtsordnung über dem Grundgesetz entwickelt hat. Und dieser Prozess ist noch längst nicht zu Ende. Je mehr Gesetzgebungszuständigkeiten in den kommenden Jahren auf die EU übergehen, desto weniger echte Entscheidungsbefugnisse verbleiben dem Bundestag.

II. Schon murrt das Volk

Diese schleichende Entmachtung des Bundestags dürfte bei nicht wenigen Menschen zu einem Gefühl fehlender Selbstwirksamkeit im Hinblick auf die wichtigsten das Gemeinwesen betreffenden Entscheidungen führen. Bereits jetzt lassen einige Umfragen aus dem Jahr 2023 daran zweifeln, ob das Grundgesetz im aktuellen Zustand immer noch in bester Verfassung ist. So hat die Friedrich-Ebert-Stiftung herausgefunden, dass mittlerweile die Mehrheit der Deutschen (73 Prozent) glaubt, dass die Demokratie in Deutschland zu schwerfällig ist. 66 Prozent halten den Staat in Bezug auf seine Aufgaben und Probleme für überfordert. Und 51 Prozent sind der Ansicht, dass sich der Zustand der Demokratie in den letzten Jahren in Deutschland verschlechtert hat. Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur (dpa) wäre sogar nur jeder Zehnte bei einem Angriff auf Deutschland zum Kriegsdienst bereit – während fast jeder vierte Deutsche das Land so schnell wie möglich verlassen würde.

Über diese Entwicklung sollte man nicht leichtfertig hinweggehen. Denn eine Verfassung, die von der Mehrheit der Menschen nicht mehr aktiv unterstützt wird, hat – zumindest in einer Demokratie – keine große Zukunft.

III.  Die Zukunft des Grundgesetzes

Die Regelungen des Grundgesetzes sind wie jedes andere Gesetz auch „elastisch“ und können von kreativen Juristen immer wieder so ausgelegt werden, dass sie auch neue, bislang unbekannte Sachverhalte lösen können. Das haben die Richter am Bundesverfassungsgericht in den letzten 75 Jahren regelmäßig bewiesen. Bei Bedarf „erfindet“ Karlsruhe auch schon mal neue Grundrechte. Solange die Bürger und Politiker damit einverstanden sind und die Lösungen im Ergebnis akzeptieren, ist das ja auch kein Problem. Aber wenn nicht?

Um den faktischen Machtverlust des Bundestags wenigstens teilweise zu kompensieren, sollte spätestens in der nächsten Legislaturperiode die Möglichkeit von Volksabstimmungen auf Bundesebene eingeführt werden. Dadurch könnten die Bürger in Deutschland im Einzelfall korrigierend eingreifen und hätten wieder das Gefühl, dass ihr Wille angemessen im politischen System berücksichtigt wird. Die Schweiz beweist seit Jahrzehnten, dass dies ein praktikables Mittel ist, die Zustimmung der Bevölkerung zum politischen System dauerhaft hochzuhalten.

Richtig eng wird es für das Grundgesetz erst, wenn die führenden Politiker mit dem System selbst nicht mehr zufrieden sind. Das erscheint angesichts der aktuellen Feierlaune weit hergeholt – aber wer weiß, was in 25 Jahren alles passiert? Vielleicht beschließt die Bundesregierung zusammen mit ihren Amtskollegen in naher Zukunft, dass alle nationalen Streitkräfte in eine europäische Armee eingegliedert werden, die unter dem Oberkommando eines EU-Verteidigungskommissars steht und über deren Einsatz allein die Kommission entscheidet. Die bislang für Auslandseinsätze der Bundeswehr vom Bundesverfassungsgericht zwingend verlangte Zustimmung des Bundestags wird abgeschafft.

Vermutlich würden dagegen viele Friedensaktivisten Verfassungsbeschwerde erheben – und auch Recht bekommen. Denn der sogenannte Parlamentsvorbehalt über Einsätze der Bundeswehr gehört nach der langjährigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum „unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes“ und darf deshalb weder abgeschafft noch auf die EU übertragen werden.

Der Bundesregierung bliebe dann nur noch eine legale Möglichkeit, ihr Ziel zu erreichen: Artikel 146. Dieser steht ganz unscheinbar am Ende des Grundgesetzes und besagt, dass das Grundgesetz seine Gültigkeit verliert, wenn eine Verfassung in Kraft tritt, die vom deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist. Also entwirft die Bundesregierung den Text für eine neue Verfassung, die es ermöglicht, beliebig viele Hoheitsrechte auf die EU zu übertragen. Dann bringt sie ein Gesetz in den Bundestag ein, wonach das Grundgesetz durch diese neue Verfassung abgelöst werden soll. Bundestag und Bundesrat stimmen zu. Und wenn das Bundesverfassungsgericht abschließend bestätigt, dass die Voraussetzungen von Art. 146 GG erfüllt sind und das Grundgesetz durch die neue Verfassung abgelöst wurde, würden die meisten Menschen in Deutschland das wohl akzeptieren – und das Grundgesetz wäre Geschichte.

Jochen Theurer
Regierungsdirektor Dr. Jochen Theurer hat über Artikel 146 Grundgesetz promoviert, war Anwalt in einer der großen deutschen Wirtschaftskanzleien und ist derzeit beim Regierungspräsidium Stuttgart tätig.