Titelthema
Ohne Mathe geht es nicht
Wie die digitale Datenanalyse den Fußball verändert
Die Fragen sind einfach, und haben sich nicht verändert, seit Fußball gespielt wird: Was müssen wir eigentlich tun, um das Spiel zu gewinnen? Und welche Spieler werden uns dabei helfen? Wenn es jedoch an ihre Beantwortung geht, kommen ganz unterschiedliche Spielphilosophien und kulturelle Vorstellungen zum Ausdruck: Defensive steht gegen Offensive, Arbeit gegen Kunst, Raffinesse trifft auf Geradlinigkeit und die Anhänger kurzer Pässe auf die von langen. Auch bei der kommenden Weltmeisterschaft wird es glühende Anhänger aller Denkschulen geben. Längst existieren sie nicht mehr entlang nationaler Stereotype – manch südamerikanische Mannschaft spielt nüchtern knochenhart, während das deutsche Team unter Jogi Löws Leitung längst südländisch elegant agiert. Doch gibt es eigentlich einen richtigen Weg zum Sieg? Bislang finden sich für die Bevorzugung bestimmter Stile genauso Argumente wie für das Gegenteil. Eigentlich werden bei solchen Diskussionen eher Glaubenssätze verhandelt und keine Wahrheiten. Was wirklich zum Sieg führt, ist nicht zu beweisen. Noch nicht.
Historische Wende
Denn im Moment steht der Fußball vor einer Wende von gefühlten Wahrheiten, von reinen Behauptungen oder gar systematischen Wahrnehmungsfehlern hin zu echten Erkenntnissen, die auf der Auswertung von Daten beruhen. Eine erste Datenrevolution hat der Fußball bereits vor 20 Jahren erlebt, als plötzlich eine Flut von Zahlen zur Verfügung stand. Jeder Pass, jeder Schuss und jeder gelaufene Meter auf dem Platz wurde von Wärmebildkameras erfasst. Schnell machte sich damals der Enthusiasmus breit, dass das Spiel bald entschlüsselt sein würde. Angefeuert wurde er noch durch die Erfolgsstory aus einer anderen Sportart. Als die Geschichte des Baseball-Managers Billy Beane in Hollywood mit Brad Pitt in der Hauptrolle verfilmt wurde, wurde „Moneyball“ weltweit zum Synonym dafür, wie sich ein abgeschlagener Underdog mithilfe des richtigen Verständnisses von Daten einen Wettbewerbsvorteil verschafft. Das sollte doch auch im Fußball möglich sein!
Doch dann erwies sich Fußball im Vergleich zum Baseball als wesentlich komplexer. Es sind eben elf Spieler auf einer riesigen Fläche ständig in Bewegung, um etwas ungeheuer Kompliziertes zu versuchen: den Ball per Fuß in ein Tor zu spielen. Die Zahlen und das Spiel kamen oft nicht zusammen, sie fremdelten miteinander. Wie das so aussah, versteht man anhand der Daten eines der berühmtesten Spiele der Fußballgeschichte.
Gewonnen hat das Spiel nicht Team A, dem Team B in allen Kategorien unterlegen war. Team A verlor sogar dramatisch, denn das legendäre Halbfinale der Weltmeisterschaft 2014 gewann Deutschland gegen Brasilien mit 7:1. Die Erkenntnis daraus hieß: Die alten Strichlisten, bei der man Aktionen auf dem Platz zählt, taugen nicht, weil es keinen verlässlichen Zusammenhang zu Sieg und Niederlage auf dem Platz gibt. Ein Datenkater machte sich breit.
Doch die Digitalisierung des Spiels ist vorangeschritten, inzwischen wissen wir auch, wo genau eine Aktion auf dem Platz stattfindet. Wir zählen also nicht nur einen Pass, sondern auch von wo nach wo er gespielt wurde, wie lang er war, ob der Passgeber bedrängt wurde oder der Spieler, der ihn annahm. Die Computer sind in der Lage, mit Hunderttausenden solcher Informationen zu arbeiten, aus einer quantitativen Information ist eine qualitative Information geworden. Jedenfalls dann, wenn man die richtigen Rechenbefehle ausführt.
Die richtigen Daten entscheiden
Ende 2016 veröffentlichte der Sportinformatiker Daniel Link von der Technischen Universität in München einen wissenschaftlichen Aufsatz, in dem er das für Englische neue Wort „Dangerousity“ einführte, das man in etwa mit „Gefährlichkeit“ übersetzen könnte. Mithilfe eines aufwändigen Algorithmus und einer Fülle von Spieldaten berechnete Link, wie groß die Torgefahr ist, die das Team am Ball entwickelt. In jeder Sekunde des Spiels kann man so verfolgen, wie gut die eine Mannschaft angreift oder der Gegner verteidigt. Man kann sehen, wie der Wert beispielsweise durch ein Dribbling steigt, aber durch den anschließenden Pass zum falschen Mann sinkt. Link hatte vorher als Informatiker für den deutschen Auslandsgeheimdienst gearbeitet und später für die deutschen Beachvolleyballer ein Programm zur Gegneranalyse geschrieben – 2012 und 2016 wurden sie erst bei den Männern, dann bei den Frauen Olympiasieger. Sein Konzept der „Dangerousity“ stieß bei den Praktikern im Fußball auf großes Interesse, denn so konnten sie überprüfen, welche Aktionen auf dem Platz die Erfolgschancen erhöhen. Als Link bei einer Konferenz auf Mitarbeiter des FC Barcelona traf, luden sie den deutschen Wissenschaftler sofort ein. Sie hatten schon mit seinem Algorithmus gearbeitet, hätten da aber noch ein paar Fragen …
Auch Manchester City, der FC Liverpool oder der FC Bayern forschen inzwischen hinter verschlossenen Türen zur digitalen Spielanalyse. Sie beschäftigen entweder selbst hochrangige Wissenschaftler in den Klubs oder laden Experten für Datenanalyse und Künstliche Intelligenz zur internen Weiterbildung ein. Längst gibt es einen Wettlauf der Spitzenklubs um Wissensvorsprünge, die für einen Wettbewerbsvorteile sorgen sollen.
Hierzulande beschäftigt sich auch der Deutsche Fußball-Bund schon lange mit diesen Fragen. Der DFB wird in Frankfurt eine Akademie bauen, zu deren Aufgaben eigene Spitzenforschung gehören soll. Derzeit arbeitet vor allem das Analyse-Team der Nationalelf auf verschiedenen Feldern, um die Mannschaft optimal vorbereitet in die Spiele zu schicken. Dazu gehören nicht nur erste Versuche mit Virtual Reality bei der Schulung für das richtige Verhalten in Spielsituationen, sondern auch ein großes Datenprojekt mit der Firma SAP. Im Mittelpunkt der Fragen steht dabei, wie man auf dem Feld den Raum und damit den Gegner beherrscht. Eine Frage, die dem Konzept der „Dangerousity“ sehr ähnlich ist.
Das richtige Scouting
Noch ist das ein experimentelles Feld, die deutsche Mannschaft wird bei der WM in Russland nicht irgendwelche Computerprogramme oder deren Vorgaben abspulen. Der momentan wichtigste Einsatzbereich für Datenanalyse ist bis dahin die Spielerverpflichtung. Das erklärt auch, warum der Londoner Spitzenklub FC Arsenal im Frühjahr 2018 eine Ablösesumme in einen Scout investierte. Das hatte es in der Geschichte des Fußballs zuvor noch nie gegeben. Aber Sven Mislintat hatte als Chefscout bei Borussia Dortmund nicht nur ein Diamantenauge bei der Verpflichtung von Spielern wie Shinji Kagawa, Pierre-Emeric Aubameyang, Ousmane Dembélé oder Christian Pulisic bewiesen.
Wichtiger noch war, dass er den Prozess des Scouting nachhaltig verändert hatte. Wie das funktioniert, kann man miterleben, wenn man neben Mislintat am Computer sitzt und beispielsweise einen Linksverteidiger zu suchen beginnt. Das von Mislintat mitentwickelte Programm „Scoutpanel“ ermöglicht es ihm, aus 13.000 Spielern aus der ganzen Welt die gewünschten herauszufiltern. Die Suche verläuft mithilfe einer Fülle von Parametern, vom Alter über die Stärke der Liga und entscheidend dem Profil der Fähigkeiten: Wie offensiv soll der gesuchte Spieler sein, wieviel Flanken soll er zum Spiel beitragen, wie stark soll er im Tackling sein oder in Kopfballduellen? Mislintat hat ein Profil eingegeben, was der gesuchte Außenverteidiger können soll, und innerhalb von Sekunden schnurrt die gigantische Auswahl bald auf eine Handvoll Spieler zusammen. Selbst Parameter wie „Leistungsstabiltät“ kann er berücksichtigen, die vor allem bei jungen Spielern wichtig sind, deren Leistungen oft noch stark schwanken. Wenn man sie nicht im Blick hat, nivellieren sich starke und schwache Leistungen, und überragende Talente werden nicht erfasst. Bei Ousmane Dembélé war das so, den Borussia Dortmund nach einem Jahr für 100 Millionen Euro mehr weiterverkaufte als der Klub für ihn bezahlt hatte.
Doch Sven Mislintat ist kein Guru eines neuen Zeitalters des Datenfußballs, sondern ein Mann auf der Suche nach den besten Spielern. In Dortmund führte er bei der Verpflichtung von Spielern die Talentevaluation am Computer mit dem Expertenwissen seiner Scouts in der traditionellen Spielersichtung zusammen. Denn darum geht es auf dem Transfermarkt: bessere Entscheidungen zu treffen, für welchen Spieler man welchen Betrag zu investieren bereit ist. Und das bedeutet auch, sich nicht allein den Algorithmen zu ergeben.
Die fortgeschrittene Analyse von Daten ermöglicht es aber nicht nur, die Leistung von Spielern besser zu evaluieren, sondern auch die von Trainern. Ein Beispiel dafür ist der Schweizer Lucien Favre, der fast überall erfolgreich war. In der Schweiz gewann er mit seinen Klubs sogar Meisterschaften und Pokale, bei mittelgroßen Klubs wie Borussia Mönchengladbach in Deutschland oder dem französischen OGC Nizza konnte er zwar keine Titel gewinnen, aber produzierte solch ungeheure statistische Ausreißer, dass er dadurch zum Kandidaten für internationale Spitzenklubs wurde.
Die letzten Geheimnisse bleiben
Dass der Fußball vor einer massiven digitalen Wende steht, bedeutet nicht, dass er schon morgen entschlüsselt sein wird. Dazu bleibt das Spiel zu kompliziert und sind die zwischenmenschlichen Faktoren zu gewichtig. Ein gutes Team ohne Zusammenhalt wird es gegen eine schlechtere Mannschaft mit viel Teamgeist immer schwer haben. Aber die Datenanalyse wird den Fußball einerseits beim Verständnis der Ereignisse auf dem Platz weiter verändern. Und angesichts der gewaltigen Investitionen in Transfers ist es inzwischen geradezu fahrlässig, bei Spielerverpflichtungen darauf zu verzichten.
Oder wie Sven Mislintat, der Millionen-Scout, sagt: „Alleine ‚Moneyball‘ funktioniert nicht, aber ohne Mathematik geht es auch nicht mehr.“
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