Die Autorität des Staates im Internet
Permissivität 2.0
Freiheit, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung sind Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Der Grundsatz, dass jeder nach seiner Fasson selig werden soll, gilt dem Grunde nach auch im Zeitalter des Internet. Bei allen Schutzpflichten, die er hat, ist der Staat nur bedingt für Art und Umfang der Freiheitsausübung des Einzelnen verantwortlich. Die Möglichkeiten, die das Internet bietet, scheinen nahezu unbegrenzt zu sein: Es ist ein Ort, an dem Freundschaften geschlossen, Kontakte gepflegt und Ideen geboren werden. Durch das Internet ist eine neue Form der Öffentlichkeit entstanden. Diese neuen Freiheiten gilt es zu nutzen.
Freiheit darf dabei freilich nicht als Ellenbogenfreiheit missverstanden werden. Zu den zentralen Werten, die wir alle auch im Netz beachten sollten, gehören gegenseitiger Respekt und Rücksichtnahme. Der Staat kann für diese Werte werben und sie befördern, anordnen kann er sie nicht. Unsere bestehende Rechts- und Werteordnung begrenzt die Freiheit des Einzelnen, wo anderen Schaden zugefügt wird. Die rasante Entwicklung des Netzes bringt andererseits in nie gekanntem Tempo Veränderungen hervor. Wir müssen uns als Gesellschaft dieser Veränderungen bewusst sein und sie berücksichtigen, wenn wir dafür Sorge tragen wollen, dass trotz – oder gerade wegen – aller freien Entfaltung im Netz ein Ausgleich zwischen kollidierenden Rechten und Interessen möglich bleibt.
Nutzen und Gefahren des Internet
Angebote wie soziale Netzwerke, Online-Festplatten und Geodatendienste gehören zu unserem täglichen Leben. Das Internet dient heute auch als wichtige Plattform der Meinungs- und Kommunikationsfreiheit. Zahlreiche Angebote des Internet haben presseähnlichen Charakter und können somit demokratiestärkend wirken. Beispiele aus totalitären Staaten belegen dies.
Der Nutzen der globalen Vernetzung ist allgemein anerkannt; jedoch geht die Angst vor dem Ausverkauf deutscher Datenschutzstandards um. Nicht selten werden dabei auch Ängste geschürt. Einerseits soll sich der Staat heraushalten, anderseits einmischen. Es kommt hier also auf die richtige Mischung zwischen Selbstregulierung und Gesetzgebung, zwischen Eingriffsverwaltung und staatlichen Anreizen an. Mit Schwarzweißmalerei ist ein so komplexer Lebensbereich wie das Internet nicht erfassbar.
Nehmen wir beispielsweise das Spannungsverhältnis zwischen Anonymität und Identifizierbarkeit. Wir sind es im Alltag gewohnt, grundsätzlich unbeobachtet zu handeln. Anderseits zeigt der freie Bürger sein Gesicht, nennt seinen Namen und hat eine Adresse. Beides steht in unserer Gesellschaft in natürlichem Einklang. Dies sollte auch im Internet gelten. Das Recht des Bürgers, grundsätzlich unbeobachtet zu sein, muss ebenso gelten, wie es umgekehrt keine schrankenlose Anonymität geben darf. Auch bei den Verantwortlichkeiten gilt es sorgsam abzuwägen. Neben den Nutzern haben die Anbieter eine eigene Verantwortung für die Sicherheit des Netzes. Wer Dienste bereitstellt, die ein Gefährdungspotenzial in sich tragen, der wird für diese Risiken grundsätzlich einzustehen haben. Wir müssen bei Regelungen, die das Internet betreffen, stets unsere bestehende Rechtsordnung im Auge behalten und dürfen nicht vorschnell jeder neuen Entwicklung ein neues Gesetz entgegenhalten. In vielen Fällen werden wir die bestehenden Regeln auf Online-Gegebenheiten übertragen können. Wir prüfen daher sorgsam, in welchen Bereichen es wirklich neuer Regelungen bedarf. Denn auch, wenn es manchmal anders wahrgenommen wird: Das Internet ist keine andere Welt, sondern ein bedeutsamer Teil unserer bestehenden Welt.
Internationale Problemlösung
Ähnlich, wie dies seit der globalen Notsituation im Zusammenhang mit der Finanzkrise geschehen ist, werden wir uns mit dem Internet global auseinandersetzen müssen. Das bedeutet jedoch nicht, dass nationale Bemühungen aussichtslos wären. Zum einen lassen sich trotz des grenzüberschreitenden Charakters des Internet viele Fragen auf nationaler Ebene lösen. So wird etwa der Datenschutz-Kodex zu Diensten wie Google Street View auch von internationalen Konzernen unterzeichnet, obwohl er (zunächst) nur für Deutschland gilt. Hier zeigt sich: Um Zutritt auf den deutschen Markt zu erlangen, sind Unternehmen durchaus bereit, die geltenden nationalen Spielregeln anzunehmen. Zum anderen können wir mit nationalen Ideen, deren Tragfähigkeit wir im eigenen Land unter Beweis stellen, auch den internationalen Diskurs prägen.
Ebenso wie für den einzelnen Bürger und für die Wirtschaft stellt sich auch für den Staat immer wieder die Frage nach der Vertraulichkeit und Integrität der im Netz verfügbaren Systeme und Daten.
Aus diesem Grund hat die Diskussion um die Internet-Plattform Wikileaks grundsätzlichen Charakter. Wir müssen unser Bewusstsein für Öffentlichkeit, Privatheit und zuweilen auch Vertraulichkeit im Zeitalter des Internet schärfen. Ich bin sicher, dass wir hier mit dem Gesetz zum Schutz vor besonders schweren Eingriffen in das Persönlichkeitsrecht erste klare und ausgewogene Vorgaben schaffen werden. Dabei zeigt die Debatte um die Veröffentlichungen durch Wikileaks die Wichtigkeit von klaren Grenzen. Bei den meisten Dokumenten, die von Wikileaks veröffentlicht werden, geht es um Dokumente staatlicher Stellen und um staatliche Kommunikation, die nicht selten rechtswidrig und teilweise anonym von Mitarbeitern herausgegeben wurden. Wikileaks ist damit die radikalste Form einer erzwungenen und ungeordneten Transparenz. Diesen Radikalismus lehne ich ab, gerade weil Transparenz ein zu wichtiges Gut ist. Sie ist eine rechtsstaatliche und demokratische Errungenschaft. Die Bundesregierung hat sich zur Aufgabe gemacht, den freien Zugang zu Informationen der Verwaltung zu verbessern. Mit den seit jeher bestehenden Akteneinsichtsrechten des Einzelnen, dem Informationsfreiheitsgesetz sowie der elektronischen Verfügbarkeit von durch die Verwaltung erhobenen Daten sind wir beim Open Government auf gutem Weg. Ein Beispiel für Open Data ist die Online-Datenbank des Statistischen Bundesamtes: 166 Millionen Daten sind hier frei zugänglich, voll dokumentiert und können ohne Restriktionen weiterverwendet werden. Auch das GeoPortal Bund, über das man auf dezentral verteilte Geodatenbestände und Geowebdienste der Verwaltungen in Bund und Ländern zugreifen kann, ist ein weiterer Baustein.
Transparenz und Geheimhaltung
Allgemein gilt: Die Transparenz des Staatshandelns ist eine Grundbedingung des demokratischen Rechtsstaats. Geheimhaltung ist damit allerdings nur auf den ersten Blick inkompatibel. Kein Staat kann es sich erlauben, schlechthin alles offen zu legen, allen zu allem Zugang zu gewähren. Im Bereich der Diplomatie und der Sicherheitsbehörden sind daher Geheimhaltungsinteressen allgemein anerkannt. Ein Grundzweck des Staates, die Erhaltung der inneren und äußeren Sicherheit, und seine Funktionsfähigkeit erfordern zwingend die Geheimhaltung bestimmter Informationen. Auch die freiheitliche Demokratie kann darauf nicht verzichten. Dass Wikileaks auf der Basis von Indiskretionen Fremdeinblicke in klassifizierte Dokumente gewährt, ist zu missbilligen. Die gesetzlichen Regelungen zum Geheimschutz und das Verbot des Geheimnisverrats müssen darum offline wie online gelten. Denn sie sind in einem demokratischen und rechtstaatlichen Verfahren zustande gekommen und eine demokratische Kontrolle der „geheimen Bereiche“ ist in Deutschland gewährleistet – mit dem Parlamentarischen Kontrollgremium und der G10-Kommission. Diese Form der Kontrolle stellt auch sicher, dass wichtige Sicherheitsinteressen, die im Einzelfall mit dem Schutz von Leib und Leben von Informanten einhergehen, gewahrt bleiben. Dies ist bei Wikileaks nicht der Fall. Wikileaks mag einzelne Dokumente kennen, die ihnen zugespielt werden. Sie kennen aber nicht die größeren Zusammenhänge. Die Gefahr, mit der Veröffentlichung erheblichen Schaden anzurichten, ist groß. Es geht aber nicht nur um „Staatsgeheimnisse“. Es geht hier auch um die Rechte des einzelnen Bürgers. In einem modernen, hoch komplexen Rechtsstaat werden zwangsläufig Informationen über Bürger aktenkundig oder von diesen abverlangt. Das gilt nicht nur für die Steuererklärung, sondern im Prinzip für jeden Verwaltungskontakt. Hier hat jeder ein Recht darauf, dass seine Informationen vertraulich behandelt werden und nicht etwa über Umwege wie Wikileaks anderen zugänglich gemacht werden. Auch hier ist der Rechtsstaat gefordert und es werden Grenzen für „freien Zugang“ offenkundig. Es gibt also gute Gründe für die Geheimhaltung bestimmter Daten – sowohl für den Staat als auch für den Bürger. Diese Gründe sind nicht obsolet geworden, weil es das Internet und Wikileaks gibt. Die Aufgabe lautet, diese Geheimhaltungsinteressen in ein vernünftiges Gleichgewicht mit den berechtigten Forderungen nach mehr digitaler Transparenz zu bringen. Wie in diesem Bereich werden auch bei anderen Fragen im Bereich der Netzpolitik der Erfolg und die Akzeptanz staatlichen Handelns davon abhängen, wie gut der Ausgleich zwischen widerstreitenden Interessen gelingt. Freiheit und Verantwortung für den einzelnen, Freiheitssicherung und Ordnung der Freiheit durch den Staat – , das sind gute Maßstäbe nicht nur, aber auch im Internet.