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Philosophieren heißt, frei denken und frei leben zu lernen
Hegel war der Begründer einer modernen Logik und legte die Grundsteine für zahlreiche Disziplinen. 250 Jahre nach seinem Geburtstag scheint seine Denkweise uns immer noch einen Schritt voraus.
Am 27. August 2020 feiern wir den 250. Geburtstag von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Er kann als der Großmeister der neuzeitlichen Philosophie gelten, als der berüh teste moderne Philosoph. Vernunft und Freiheit bilden die beiden Grundpfeiler, auf denen Hegels Philosophiegebäude errichtet wurde. Im Denken der Freiheit liegt der Kernimpuls seines vielfach verschlungenen Lebens- und Denkweges. Hölderlin sprach von der „Freiheit heilig Ziel“, Schelling von der „Freiheit als A und O der Philosophie“ und Schiller vom „Reich der Vernunft als eines Reichs der Freiheit“. Im Anschluss an diese schwäbischen Geistesverwandten, jenem laut Heinrich Heine „blühenden Wald großer Männer, der dem Boden Schwabens entsprossen, jenen Rieseneichen, die bis in den Mittelpunkt der Erde wurzeln und deren Wipfel hinaufragt bis an die Sterne“, lautete Hegels Credo: Philosophieren heißt, frei leben zu lernen.
Immer im Zentrum der Philosophie
Der Lebensweg des Philosophen beginnt mit Kindheit und Jugend in der herzoglich-württembergischen Residenzstadt Stuttgart, wo Lehrer und Professoren schon das Talent des Gymnasiasten erkennen, führt über die Studienjahre im Universitätsstädtchen Tübingen, hier zusammen mit Hölderlin und Schelling beim Studium der Theologie und in der hochkarätigsten Studentenbude der Philosophiegeschichte, hin zum Hofmeister- und Hauslehrerdienst im schweizerisch-aristokratischen Bern und der idyllischen Rousseau-Landschaft am Bieler See sowie in der geldaristokratischen freien Reichsstadt Frankfurt am Main, wo im Bund der Geister – Hölderlin, Sinclair, Zwilling und Hegel – neue Denkexperimente gewagt werden. Von der unbezahlten Privatdozentur und dem Zusammenwirken mit Schelling in Jena, der Hauptstadt der Philosophie um 1800, sowie der fulminanten Krönung durch ein philosophisches Jahrtausendwerk, der Phänomenologie des Geistes, führt der Weg nach Franken ins neue Königtum Bayern, zuerst als Zeitungsredakteur im katholischen Bamberg, dann als Schulrektor und Gründer des ersten humanistischen Gymnasiums Deutschlands ins protestantische Nürnberg, wo Hegels Hauptwerk Die Wissenschaft der Logik erscheint. Dann folgt die erste Professur im romantischen Heidelberg, verbunden mit der Veröffentlichung der ersten Enzyklopädie, und schließlich das Wirken im königlich-preußischen Mittelpunkt, in Berlin und seiner Universität, mit dem Aufstieg zum herausragenden Philosophen des Zeitalters.
Ein bedeutender Vordenker
Hegel hat vier Werke allerersten Ranges publiziert: Erstens die Jenaer Phänomenologie des Geistes als die faszinierendste Abhandlung, zweitens die Bamberger und Nürnberger Wissenschaft der Logik als das zweifellos bedeutendste fundamentale Werk, das eine moderne Logik bietet, drittens die Heidelberger und Berliner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften als das zentrale systematische Opus, welches die Grundzüge der Gesamtarchitektonik zeichnet, sowie schließlich viertens die Berliner Rechtsphilosophie, die wirkungsmächtigste und umstrittenste Schrift. Um nur einige ganz wenige hochkarätige Juwelen aus diesen Hegelschen Schatztruhen zu erwähnen: Zusammen mit Schelling leitet er in Jena das wohl hochkarätigste Seminar der Philosophiegeschichte und prägt mit seinen fulminanten Beiträgen eine der wichtigsten philosophischen Zeitschriften überhaupt, das mit Schelling herausgegebene Kritische Journal der Philosophie. Er legitimiert mit seiner furiosen Phänomenologie den Anfang des Philosophierens und ist der Begründer einer modernen Logik. Er liefert maßgebliche Bausteine für eine philosophische Theorie des Zeichens und der Sprache. Er gilt Ernst Gombrich zufolge als Vater der Disziplin Kunstgeschichte; Hegels Malerei-, Musik- und Literaturästhetik ist bis heute einschlägig und in ihrer philosophischen Tiefe anerkannt. Seine Berliner Vorlesungszyklen sind legendär geworden, die Berliner Studenten schreiben markante Hegelsche Sätze an die Mauern des Universitätsgebäudes. Er entwirft Grundlinien für eine Gesellschafts- und Staatstheorie der Moderne, mit der epochemachenden Unterscheidung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat revolutioniert er das philosophische Denken des Politischen und wird zu einem der Gründerväter der Soziologie. Er konzipiert die erste und bis heute tiefgründigste philosophische Theorie eines sozialen Staates, letztere neben der innovativen philosophischen Logik wohl sein bedeutendster Beitrag zum Denken in der modernen Zeit.
Relevant in jeder Gegenwart
Der renommierte französische Philosoph Michel Foucault schrieb über die bis heute höchst umstrittene Wirkung Hegels: „Aber um Hegel wirklich zu entrinnen, muss man ermessen, was es kostet, sich von ihm loszusagen, muss man wissen, wie weit uns Hegel insgeheim nachgeschlichen ist, und was in unserem Denken vielleicht noch von Hegel stammt; auch muss man ermessen, inwieweit auch noch unser Anrennen gegen ihn seine List ist, hinter der er uns auflauert, unbewegt und auf uns wartend.“
Prof. Dr. Klaus Vieweg ist Professor für Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Forschungsschwerpunkte: deutscher Idealismus, besonders Hegel. Er lehrte unter anderem in Seattle, Pisa, Prag, Tokio, Kyoto, Shanghai und Rom.