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Pittoreske Taobao-Dörfer zwischen sanften Hügeln

Titelthema - Pittoreske Taobao-Dörfer zwischen sanften Hügeln
Simone Bressan: "In der Stadt ist es sehr anonym und jeder macht sein Ding. Man ist nie allein und doch sind viele einsam. Hier ist man eher für sich, aber wenn man möchte, nie wirklich allein". © Jonathan Linker

Ländliche Regionen in China und in Deutschland haben einiges gemeinsam, für ihre Zukunft allerdings sehr unterschiedliche Voraussetzungen.

Stephan Petermann01.09.2020

Im April 2019 besuchten die beiden chinesischen Journalisten Fang Hua und Qiang Li das Dorf Duchroth in Rheinland-Pfalz, um zu recherchieren mit welchen Maßnahmen sich die Bevölkerung dieser 500-Seelen-Ansiedlung verjüngen konnte – Duchroth hatte 2016 beim Landeswettbewerb von „Unser Dorf hat Zukunft“ die Goldmedaille gewonnen und damit das Interesse der Chinesen geweckt. Der entsprechende Bericht in der Allgemeinen Zeitung erwähnt, wie die beiden Chinesen die langfristige Strategie des Dorfes minutiös dokumentierten und studierten. Ihr Ansinnen und die Vorgehensweise erscheinen uns vielleicht als etwas exotisch, verdeutlichen aber das große Interesse daran, den Faktoren für eine erfolgreiche Entwicklung von ländlichen Räumen auf die Spur zu kommen.

Gleiche Motivation, anderer Ansatz

Im Februar, kurz vor dem Corona-bedingten Lockdown, hat der niederländische Architekt Rem Koolhaas im New Yorker Guggenheim Museum eine große Ausstellung eröffnet. Mit den Exponaten und Installationen in Countryside, The Future skizzieren er und der in Rotterdam ansässige Thinktank AMO einen Ausblick für ländliche Regionen rund um den Globus – es geht hier um das Zusammenspiel von Technologie, Natur, Klimawandel und Migration. Dank einer dreijährigen Zusammenarbeit mit Studenten der Central Academy of Fine Arts in Peking wird aufgezeigt, wie Investitionen seit den 1970er Jahren einen ganz erheblichen, aber bislang kaum anerkannten Einfluss auf die Transformation Chinas haben.

Verglichen mit den international bekannteren städtebaulichen Entwicklungen wie den eindrucksvollen Skylines von Shanghai, Beijing oder Shenzhen ist der chinesische ländliche Raum eine radikal neue Landschaft, genießt politische Priorität und bietet auch mit Blick auf Covid-19 und geopolitische Auseinandersetzungen eine sehr wichtige Bühne für die Entwicklung des Landes im 21. Jahrhundert.

Bayern oder Anhui?

In China fühlt man sich von der deutschen Landschaft manchmal gar nicht so weit entfernt. Ich erinnere mich daran, wie ich an Bord einer frühen chinesischen Version der ICE-Hochgeschwindigkeitszüge von Siemens auf der Fahrt von Peking nach Shanghai in den Schlaf gefallen war und aufwachte, als wir durch die Landschaft der Provinz Anhui fuhren, die der süddeutschen an manchen Stellen verblüffend ähnlich sieht. Sowohl der Zug als auch die Aussicht auf sanfte, bewaldete Hügel und pittoreske Dörfer sahen so deutsch aus, dass ich einige Zeit brauchte, um mir bewusst zu werden, dass ich in China war – die chinesischen Zeichen der Werbung auf den Sitzen halfen dann allerdings nach. Es gibt einige kulturelle Parallelen, die mit meinen eigenen Erfahrungen als „halber Deutscher“ mitzuschwingen schienen: Stolz auf eine starke Arbeitsmoral, die Art des Humors und ein guter Appetit auf Schweinefleisch. Was mir damals neu war: Auch in China konzentrieren sich ganze Dörfer oder Kleinstädte auf die Produktion manchmal unscheinbarer, aber sehr wichtiger Dinge für unseren Alltag, etwa Träger für BHs, VW-Teile, Weihnachtsdekorationen – sie alle werden zu einem erheblichen Teil auf dem Land hergestellt.

Deutsch-chinesische Parallelen

In Deutschland steht die schrumpfende Landbevölkerung seit Langem auf der politischen Agenda. Regierung und Länder sind sich dessen seit Jahrzehnten bewusst und haben seitdem verschiedene Wege entwickelt, um darauf zu reagieren, unter anderem mit dem Bundeswettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“, der seit 1961 in fast allen Ländern der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt wird. Teilnehmen können hier Orte mit bis zu 3000 Einwohnern. Ein weiteres Beispiel sind die „30 Experimente über das Umbauen, Neubauen und Selbermachen in der Provinz“ im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) in Thüringen, bei der ein engagiertes Team in einer bis dato leer stehenden Fabrik in Apolda (Architekt: Egon Eiermann) zahlreiche innovative Konzepte entwickelt, um Tausenden leer stehenden Bahnhöfen, Kirchen und Burgen zu einem neuen Nutzen zu verhelfen und ihnen damit ihre Rolle als wichtiger und lebendiger Mittelpunkt der Gemeinden zurückzugeben. Zum Beispiel mit neuen Formen des Tourismus und Ideen zur Unterstützung von Flüchtlingen.

Die Parallelen zwischen China und Deutschland zeigen sich hier deutlich, gleichzeitig gibt es aber auch einige wesentliche Unterschiede. Chinas Führung ist tief auf dem Land verwurzelt. Die meisten Funktionäre kommen entweder vom Land oder haben ihre Karriere auf dem Land aufgebaut. Die kommunistische Revolution, mit der 1949 die heutige Volksrepublik gegründet wurde, war weitgehend auch ein Sieg des ländlichen Raums über die städtischen Zentren – bis heute ein unvermeidliches und zentrales Thema chinesischer Innenpolitik. Die Reformen unter Deng Xiaoping ab 1979, die unter anderem zur Modernisierung der chinesischen Landwirtschafts-, Infrastruktur- und Dorfentwicklungspolitik führten, waren derart umfassend, dass bis zum Ende dieses Jahres Dengs ursprüngliches Ziel, alle Armut in China zu beenden, erreicht sein wird: Die Zahl der verarmten Landbewohner sank von fast 770 Millionen Ende 1978 auf 5,51 Millionen bis Ende 2019, wie aus den Daten des Staatlichen Amtes für Statistik der Volksrepublik China hervorgeht. Gleichzeitig sank auch die Armutsquote während dieses Zeitraums von 97,5 Prozent auf 0,6 Prozent.

Die massiven Investitionen schaffen jetzt eine neue Beziehung zwischen Stadt und Land. Trotz der raschen Urbanisierung schätzt China weiterhin seine kulturelle Identität, die ihren Ursprung auf dem Land hat. Ich habe noch nie einen Chinesen getroffen, der sich nicht für das Landleben interessiert. Schon vor der Coronakrise stellten Experten fest, dass sich die Entwicklung der größten Städte abflachte und in einigen Berichten von schrumpfenden Bevölkerungszahlen in Großstädten wie Shanghai und Peking ausgegangen wird.

Direktbestellungen per App

Dies ist in großem Maße auch Alibaba zu verdanken. In dem Online-Unternehmen gibt es Programme und Technologien, die speziell auf die Bedürfnisse im ländlichen Raum abgestimmt sind – Gründer Jack Ma verfügt über enge Verbindungen zum Land. Die „Rural Taobao“-App des Unternehmens stellt zwischen Verbrauchern und Landwirten, Fischern oder Fleischern via Facetime einen direkten Kontakt her, sodass Bestellungen persönlich aufgegeben und quasi über Nacht geliefert werden können. Es gibt auch eine neue Flexibilität bei der Existenzgründung in Taobao-Dörfern: Dort können die Dorfbewohner innerhalb kurzer Zeit einen Onlineshop einrichten, der an jeden Ort des Landes liefert. Dadurch wird die Notwendigkeit, in den Städten zu wohnen, noch weiter verringert. Eine weitere beliebte App von Alibaba in China ist „Antforest“. Hier werden Online-Aktivitäten, die den CO2-Fußabdruck senken, mit Punkten belohnt, die wiederum zum Pflanzen von Bäumen in Wüstengebieten verwendet werden können. In der App erhält man regelmäßig Satelliten-Updates, um beobachten zu können, wie es dem „eigenen“ Bäumchen geht.

Großes Interesse am Landleben

Dass die chinesischen Journalisten in Duchroth herauszufinden versuchten, wie man junge Menschen zurück aufs Land holen könnte, ist keine Überraschung, aber möglicherweise leichter in China als in Deutschland oder anderen europäischen Großstädten zu bewerkstelligen. Im Gegensatz zu den meisten westlichen Studenten, die wir unterrichten, haben fast alle ihrer chinesischen Altersgenossen ein großes Interesse am Landleben. Da das Leben auch in chinesischen Städten teuer, aufgrund von Umweltproblemen ungesund und zudem häufig fern jeder familiärer Bindung ist, scheint ihnen ein Leben in der Stadt auf Dauer deutlich weniger selbstverständlich und attraktiv. Hinzu kommt: In allen Schichten der Gesellschaft gibt es eine tiefe Liebe zur Natur. Verschiedene Tourismusprogramme bieten Wochenendausflüge in Nachbardörfer und Urlaub auf dem Bauernhof an, der stadtauswärts führende Verkehr in Peking am Freitagnachmittag ist berüchtigt. In den letzten Jahren ist auch das Wandern bei der neuen Mittelschicht extrem beliebt geworden und in den schönsten Gegenden schießen neue Wanderwege und -programme aus dem Boden. Umfragen unter jungen Chinesen zeigen, dass ihre Urlaubswünsche eher ländlich als städtisch geprägt sind, wobei abgelegene Gebiete wie Tibet, Qinghai und Xinjiang die Liste der begehrtesten Urlaubsorte in China anführen. Es bestehen auch enorme Ambitionen der Regierung, einen drastischen Wandel hin zu ökologischeren Anbaumethoden unter Einsatz neuer Technologien herbeizuführen.

Energieschub nutzen

Covid-19 hat erhebliche Folgen sowohl für den deutschen als auch den chinesischen ländlichen Raum, auch wenn die meisten davon noch nicht unmittelbar zum Tragen gekommen sind. In China blieben die komplexen Infrastruktur- und Produktionssysteme größtenteils intakt. Aber auch die Chinesen stellen zunehmend fest, dass einige Zwänge wie regelmäßige Bürozeiten und Pendeln überholt sein könnten und dass das Landleben zumindest für einen großen Teil der Zeit die angenehmere Lebensweise darstellt. Für traditionell denkende Chinesen vielleicht auch eine chinesischere Lebensweise. So wie die Chinesen sich Dinge bei uns abschauen, können wir auch von China lernen. Vor allem, sich auf die Freude und den Energieschub einzulassen, die die Suche nach neuen Chancen und dem Wunsch, etwas Neues zu schaffen, hervorruft. Lust bekommen? Countryside, The Future wird vermutlich über September 2020 hinaus verlängert.

Stephan Petermann

Stephan Petermann ist niederländischer Architekt mit eigenem Büro in Amsterdam. Zuvor arbeitete er bei OMA/AMO, dem von Rem Koolhaas gegründeten Architekturbüro und Think- tank in Rotterdam. Petermann ist Mitglied im Fachbeirat der IBA Thüringen.

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