Tichys Denkanstoss
Postfaktisch ist das demokratische Zeitalter
Wie ein aktueller Debattenbegriff die Grundlagen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung untergräbt
„Postfaktisch“ ist das Wort des Jahres 2016. Es war Bundeskanzlerin Angela Merkel, die den Begriff postulierte und popularisierte, gar ein postfaktisches Zeitalter ausrief. Nur: Was folgt daraus? Zunächst klingt es ganz harmlos: dass nämlich Fakten gegenüber Gefühlen eine untergeordnete Rolle spielen. Schon der griechische Philosoph Epiktet, der 50–138 lebte, hatte festgestellt: „Nicht die Tatsachen bestimmen über das Zusammenleben, sondern die Meinungen über die Tatsachen“.
Der Streit als Normalfall
Es ist das Wesen demokratischer Politik: Aus Sachverhalten können unterschiedliche Schlüsse gezogen werden. Deshalb streiten wir entlang der großen Linien: Ist mehr oder weniger Staat die Antwort auf Probleme? Verstaatlichung oder Privatisierung? Verschärft linksrum das Problem, oder liegt die Zukunft rechts, oder ist sie grün angepinselt? Die offene Gesellschaft lebt vom Diskurs darüber; und ihre Offenheit zeigt sich darin, dass sie Fehlentwicklungen auch wieder korrigiert – was allerdings auch nicht alle Beteiligten überzeugen wird.
Nehmen wir als Beispiel den Tsunami, der die japanischen Kernkraftwerke zerstörte: Hat dies etwas an der faktischen Sicherheit deutscher AKWs geändert? Solange kein Tsunami an Rhein, Main, Weser oder Neckar zu fürchten ist: nein. Geändert hat sich das Gefühl, dass die Risiken eben doch unbeherrschbar erscheinen. Angela Merkels „Atomausstieg“ war also ein Triumph des Gefühls über die Fakten – eine „postfaktische Entscheidung“. War es nun eine richtige Entscheidung? Die Befürworter bejahen – schließlich ist das Ende des Atomkraftzeitalters jetzt unumkehrbar. Die Gegner verneinen und verweisen auf die Kosten – 1000 Milliarden sollen es sein, hat Merkels Ausstiegsminister Altmeier vorgerechnet; dazu die Belastung von Menschen und Umwelt durch Windmühlen, neue Hochspannungsleitungen, gigantische Monokulturen von Mais für die Verbrennung zu „Bio-Gas“. Wer hat Recht? Was wiegt mehr – und wer ist jetzt postfaktisch unterwegs? Postfaktisch sind immer die anderen.
Gefährlich sind die Schlussfolgerungen, die jetzt draus gezogen werden, wenn „falsche Meinungen“ staatlich sanktioniert werden sollen. Falschmeldungen, die früher verharmlosend „Ente“ genannt oder in der Häufung zur Propaganda wurden, heißen heute „Fake News“.
Früher konnten nur Regierungen und Zeitungen oder Rundfunksender Fake-News konstruieren – mit dem Internet neuerdings auch die Bürger. Manche sind tatsächlich empörend – aber auch jeder Zeitungsleser wundert sich häufig genug über erkennbare Falschmeldungen. In ihrer schwierigeren Form sind Falschmeldungen nicht immer „falsch“ – sie sind oft nur anders gewichtet, aus anderer Perspektive oder Betroffenheit richtig und gleichzeitig falsch. Die eine, reine Wahrheit zu erkennen ist uns nicht gegeben.
Die Demokratie setzt dagegen den Diskurs – die ständige Debatte, die oft laut, irritierend oder gar verletzend sein kann. Die Diktatur hingegen kennt das Wahrheitsministerium: Georg Orwell hat es mit dem visionären Roman „1984“ in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts beschrieben. Das postfaktische Zeitalter ist das demokratische. Wir sollten es gegen die Alternativlosigkeit verteidigen.