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Tichys Denkanstoss

Postfaktisch ist das demokratische Zeitalter

Tichys Denkanstoss - Postfaktisch ist das demokratische Zeitalter
Roland Tichy © Illustration: Jessine Hein / Illustratoren

Wie ein aktueller Debattenbegriff die Grundlagen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung untergräbt

01.01.2017

„Postfaktisch“ ist das Wort des Jahres 2016. Es war Bundeskanzlerin Angela Merkel, die den Begriff postulierte und popularisierte, gar ein postfaktisches Zeitalter ausrief. Nur: Was folgt daraus? Zunächst klingt es ganz harmlos: dass nämlich Fakten gegenüber Gefühlen eine unter­­geord­­nete Rolle spielen. Schon der griechische Philosoph Epiktet, der 50–138 lebte, hatte fest­ge­stellt: „Nicht die Tatsachen bestim­men über das Zusammen­leben, son­dern die Meinungen über die Tat­sachen“.

Der Streit als Normalfall
Es ist das Wesen demokratischer Politik: Aus Sachverhalten können unterschiedliche Schlüsse gezogen werden. Deshalb streiten wir entlang der großen Linien: Ist mehr oder weniger Staat die Antwort auf Probleme? Verstaatlichung oder Privatisierung? Verschärft linksrum das Problem, oder liegt die Zukunft rechts, oder ist sie grün angepinselt? Die offene Gesellschaft lebt vom Diskurs darüber; und ihre Offenheit zeigt sich darin, dass sie Fehlentwicklungen auch wieder korrigiert – was aller­dings auch nicht alle Beteiligten überzeugen wird.

Nehmen wir als Beispiel den Tsunami, der die japa­nischen Kernkraftwerke zerstörte: Hat dies etwas an der faktischen Sicherheit deutscher AKWs geändert? Solange kein Tsunami an Rhein, Main, Weser oder Neckar zu fürchten ist: nein. Geändert hat sich das Gefühl, dass die Risiken eben doch unbeherrschbar erscheinen. Angela Merkels „Atomausstieg“ war also ein Triumph des Gefühls über die Fakten – eine „postfaktische Entscheidung“. War es nun eine richtige Entscheidung? Die Befürwor­ter bejahen – schließlich ist das Ende des Atomkraftzeitalters jetzt unumkehrbar. Die Gegner verneinen und verweisen auf die Kos­­ten – 1000 Milliarden sollen es sein, hat Merkels Aus­stiegsminister Altmeier vor­gerechnet; dazu die Belas­tung von Menschen und Umwelt durch Windmühlen, neue Hochspannungsleitungen, gigantische Monokulturen von Mais für die Verbrennung zu „Bio-Gas“. Wer hat Recht? Was wiegt mehr – und wer ist jetzt postfaktisch unterwegs? Postfaktisch sind immer die anderen.

Gefährlich sind die Schlussfolgerungen, die jetzt draus gezogen werden, wenn „falsche Meinungen“ staatlich sanktioniert werden sollen. Falschmeldungen, die früher verharmlosend „Ente“ genannt oder in der Häufung zur Propa­ganda wurden, heißen heute „Fake News“.

Früher konnten nur Regierungen und Zeitungen oder Rundfunk­sender Fake-News konstruieren – mit dem Internet neuerdings auch die Bürger. Manche sind tatsächlich empörend – aber auch jeder Zeitungsleser wundert sich häufig genug über erkennbare Falschmeldungen. In ihrer schwierigeren Form sind Falschmeldungen nicht immer „falsch“ – sie sind oft nur anders gewichtet, aus anderer Pers­pektive oder Betroffenheit richtig und gleichzeitig falsch. Die eine, reine Wahrheit zu erkennen ist uns nicht gegeben.

Die Demokratie setzt dagegen den Diskurs – die ständige Debatte, die oft laut, irritierend oder gar verletzend sein kann. Die Diktatur hingegen kennt das Wahrheitsministerium: Georg Orwell hat es mit dem visionären Roman „1984“ in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts beschrieben. Das postfaktische Zeitalter ist das demokratische. Wir sollten es gegen die Alternativlosigkeit verteidigen.