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Rotbarts Erbe
Vor 900 Jahren wurde Friedrich Barbarossa geboren. Das Leben des Stauferkaisers hatte europäische Dimensionen – und wirkt bis heute nach.
Im Dezember 1122 wurde Friedrich Barbarossa geboren. Der Geburtstag des Stauferkönigs, der seit 1155 als Kaiser an der Spitze des Heiligen Römischen Reiches stand, jährt sich somit 2022 somit zum 900. Mal. Das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster nimmt dieses Jubiläum zum Anlass für eine Sonderausstellung „Barbarossa – Die Kunst der Herrschaft“ in Münster und im nahen Cappenberg. Obwohl Westfalen nicht zu den Regionen gehört, in denen sich der Stauferkaiser besonders lange und häufig aufhielt, ist eine Ausstellung anlässlich seines Geburtstags hier durchaus sinnvoll. Denn aus Stift Cappenberg stammt das Denkmal, das am deutlichsten auf die Taufe und damit die Geburt des Kaisers hinweist: die sogenannte Taufschale Friedrich Barbarossas. Auf dieser Jahrzehnte nach der Taufe geprägten Silberschale ist dargestellt, wie Friedrich Barbarossa von dem Adeligen Otto von Cappenberg aus der Taufe gehoben wird. Otto, der später selbst Propst des von ihm und seinem Bruder Gottfried gegründeten Stifts Cappenberg wurde, wollte damit offenkundig an die Taufe und damit die Geburt des Kaisers erinnern.
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Barbarossa als Erinnerungsort
Ungewöhnlich daran ist nicht nur, dass diese Memorialschale geprägt wurde, sondern dass Geburt und Taufe überhaupt eine solche Aufmerksamkeit erfuhren. Denn für mittelalterliche Menschen war der Todestag, als Tag des Übergangs in das neue, ewige Leben, bei Weitem erinnerungswürdiger als der Geburtstag. In der Regel ist deshalb selbst über den Geburtstag eines Kaisers wenig bis nichts bekannt. In Cappenberg jedoch stellte man nach der Kaiserkrönung Friedrich Barbarossas gerne die Verbindung des nunmehr berühmten Täuflings mit dem Stift heraus – auf diese Weise hob man Geburt und Taufe aus dem Vergessen. In gewisser Hinsicht wurde damit Barbarossas Geburtstag als bis heute erinnerungswertes Ereignis erst geschaffen.
In der Erinnerung an historische Ereignisse und Personen können sich verschiedene Schichten überlagern, ihnen kann durch Absichten lange vergangener Zeiten Bedeutung zugemessen werden, die bis in die Gegenwart den Blick und das Interesse prägen. Auch die Tatsache, dass der Stauferkaiser Friedrich Barbarossa noch heute die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit findet, ist nur zum Teil seiner objektiven historischen Bedeutung geschuldet. Friedrich Barbarossa ist ein Erinnerungsort deutscher und europäischer Geschichte, dem erst die nationale Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts Bedeutung zuschrieb, nur deshalb ist er nicht ebenso wie viele seiner Vorgänger und Nachfolger dem Vergessen anheimgefallen. In der deutschen Geschichtsdeutung dieser Zeit stand Friedrich Barbarossa für den Glanz und die Größe einer geeinten nationalen Vergangenheit im Mittelalter, die man in der Gegenwart zu erneuern hoffte. Barbarossa wurde deshalb in den politischen Diskussionen des 19. Jahrhunderts zu einer viel beschworenen Erinnerungsfigur. In dem preußischen König Wilhelm I. aus dem Hause Hohenzollern, der 1871 zum ersten Kaiser des neuen deutschen Kaiserreiches wurde, sei der „Rotbart“ (Barbarossa) als „Weißbart“ (Barbablanca) wiederauferstanden. In Gedichten, in Romanen, in Schauspielen und Opern wurde diese glanzvolle nationale Vergangenheit immer wieder aufgerufen. Das Kyffhäuserdenkmal in Thüringen steht bis heute eindrücklich für diese nationale Vereinnahmung der staufischen Kaiserzeit in der Person Friedrich Barbarossas.
Das Erbe des Nationalismus
Häufig übersehen wird hingegen, dass die Stauferzeit und Friedrich Barbarossa nicht nur ein Erinnerungsort deutscher, sondern auch europäischer Geschichte sind. In Italien gehört der Kampf der freiheitsliebenden Kommunen unter der Führung Mailands gegen den deutschen Friedrich Barbarossa ebenso zum nationalen Geschichtsbild wie in Osteuropa. In Polen, Böhmen, Mähren und Schlesien wurde und wird die Eigenständigkeit oder die Abhängigkeit nationaler Geschichte vom Reich anhand von Schüsselszenen aus der Zeit Barbarossas erörtert. Auch im Westen des Reiches, im Osten Frankreichs (im Elsass, in Lothringen oder im Burgund) sowie in Teilen Belgiens und der Niederlande kommt dem Staufer historisch gesehen Bedeutung zu; und wenn er in den nationalen Geschichtserzählungen kaum Erwähnung findet, dann ist auch das bezeichnend. Man kann sich vor dem Hintergrund des europäischen Einigungsprozesses durchaus die Frage stellen, welche Funktion die Erinnerung an Friedrich Barbarossa, diesen Heros nationaler Geschichtskultur der Kaiserzeit, heute noch haben kann.
Eine erste Antwort des Historikers könnte darauf verweisen, dass Friedrich Barbarossa als Erinnerungsort für das Trennende europäischer Nationen eine Erfindung des 19. Jahrhunderts ist, die mit dem historischen Kaiser nur wenig gemein hat. Gleichwohl gehört dieser geteilte Blick auf die Vorgeschichte heutiger Nationen im Mittelalter zum europäischen Erbe, er ist Teil des kollektiven kulturellen Gedächtnisses heutiger Nationalstaaten. Dieses ambivalente Erbe des Nationalismus muss man kennen, um sich damit auseinandersetzen zu können. Dass man es nicht einfach ignorieren kann und dass es nicht ausreicht, einfach neue Narrative an die Stelle der alten zu setzen, gehört mit zu den Gründen für die Spannungen, denen das europäische Projekt gegenwärtig ausgesetzt ist. Deswegen kann eine Lösung des Problems nicht darin bestehen, Friedrich Barbarossa gleichsam in eine Rumpelkammer überholter nationaler Geschichtsmythen zu verbannen und darauf zu hoffen, dass er vergessen wird. Das würde weder der anhaltenden Wirkmächtigkeit nationaler Geschichtsbilder noch der tatsächlichen historischen Bedeutung des Staufers gerecht werden. Im schlimmsten Fall wäre bei derartiger Ignoranz eine Wiedergängerei des untoten Kaisers zu befürchten oder seine Instrumentalisierung durch Ewiggestrige, man denke nur an die „Kyffhäusertreffen“ des rechten Flügels der AfD in Thüringen. Die Auseinandersetzung mit Friedrich Barbarossa darf also nicht bei der Dekonstruktion des Geschichtsbildes des 19. Jahrhunderts stehen bleiben, sondern muss einen Schritt weiter gehen und erklären, wer Friedrich Barbarossa war und was an seiner Zeit aus heutiger Sicht bemerkenswert sein könnte.
Es gelang, Vielfalt zu integrieren
Friedrich stammte aus einer schwäbischen Adelsfamilie, die innerhalb von drei Generationen in weniger als einem Jahrhundert von obskuren Anfängen bis zur Königs- und Kaiserwürde aufstieg. Dieser Aufstieg vollzog sich in einer Zeit, die durch tiefgehende politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Veränderungen geprägt war. Im staufischen Jahrhundert verdoppelte sich die Bevölkerung Mitteleuropas; allenthalben entstanden neue Siedlungen – Städte und Dörfer, Handel und Gewerbe blühten auf. Die Universitäten wurden als Orte höherer Bildung erfunden und neues Wissen generiert. An den Höfen der Fürsten und Könige wurde die volkssprachliche Dichtung gepflegt: der Minnesang und Epen wie der Parzival oder das Nibelungenlied. Mit dem Rittertum bildete sich zudem das Idealbild eines verchristlichten Kämpfers aus. All dies wirkte weit über das Mittelalter hinaus nach.
Das staufische König- und Kaisertum war Teil dieser dynamischen Entwicklung, eines Wandels, der sich nicht sinnvoll in späteren nationalen Grenzen verstehen lässt, sondern eine gesamteuropäische Dimension hatte. Eine solche Dimension hatte auch das Reich, dem die Staufer vorstanden. Mit der schwäbischen Enge der Anfänge hatte dieses am Ende des 12. Jahrhunderts kaum mehr etwas zu tun; von der Nord- und Ostsee bis nach Sizilien, von Friesland bis nach Polen, Böhmen und Ungarn erstreckte sich die direkt oder indirekt ausgeübte Macht des Kaisers. Dieses Reich war kein „deutsches“, sondern das „Römische Reich“ des Mittelalters. Es stand einerseits in antiken Traditionen, war andererseits aber genuin hochmittelalterlich. Imperien wie dieses waren politisch großräumige Gebilde, die weit über die späteren nationalen Grenzziehungen ausgriffen. Gekennzeichnet waren sie dadurch, dass sie es vermochten, Vielfalt zu integrieren: eine sprachliche und rechtliche Diversität, eine Mannigfaltigkeit politischer Ordnungen von der sich selbst verwaltenden Kommune bis zum Fürstentum – und nicht zuletzt verschiedene Religionen, neben der lateinisch-christlichen Dominanz auch das orthodoxe Christentum oder jüdische und muslimische Minderheiten. Aus einer solchen Sicht verdient das staufische Imperium durchaus auch heute noch Interesse, dann zwar nicht mehr als Vorgeschichte deutscher Hegemonie in Europa, wohl aber als spezifisch vormoderner Versuch, eine weite Teile Europas umfassende Herrschaft über alle Divergenzen hinweg zu etablieren. Über die Möglichkeiten und Grenzen solcher Versuche im hohen Mittelalter kann das Leben Friedrich Barbarossas durchaus Aufschluss geben.
Prof. Jürgen Dendorfer lehrt seit 2011 Mittelalterliche Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist das europäische Hochmittelalter und das Reich der Staufer.