Titelthema
Scheinpolitik oder Kompromiss
Bei den Koalitionsverhandlungen geht es darum, einen guten und ehrlichen Kompromiss zu finden. Warum spricht niemand offen darüber?
Wir spüren in unserer Gesellschaft heute viel Unbehagen und Unwillen bis hin zur grundsätzlichen Entfremdung größerer Gruppen. Eine vielgestaltige Zersplitterung macht sich bemerkbar, die soziales Vertrauen blockiert und Solidarität schwächt. Diese Entwicklung hat begonnen, das gemeinsame Handeln sogar in so elementaren Lebensfragen wie der Coronapandemie zu blockieren. Die etwa 20 Prozent hartnäckigen Impfverweigerer, die eine wirksame Pandemiebekämpfung zum Schaden aller verhindern und dennoch von Politik und Medien resigniert hingenommen werden, sind ein Warnsignal. Ein beträchtlicher Teil der jüngeren Generation hingegen lebt mit dem Grundgefühl, ihr Leben und das ihrer Kinder werde durch eine Politik der Verdrängung existenzieller ökologischer Risiken akut gefährdet, die durch täuschendes Scheinhandeln und faule Kompromisse die natürlichen ökologischen Voraussetzungen der menschlichen Zivilisation infrage stellt.
Symbolische Beschwichtigungspolitik
Auch interessierten und gut vorinformierten Menschen fällt es heutzutage immer schwerer, die verflochtenen Vorgänge in der Welt des Politischen, deren tatsächliche Ergebnisse und den Anteil der unterschiedlichen Akteure an ihnen zu verstehen und tragfähig zu bewerten, wodurch die Unzufriedenheit mit dem Zustand der Welt wächst. Nicht zu Unrecht werden der neue Populismus, verdrehte, aber eingängige Weltdeutungen wie das „Querdenken“ und – sehr viel berechtigter und ernster zu nehmen – die heftige Klimaprotestbewegung der jungen Generation mit dieser Entwicklung in Verbindung gebracht. Da kommt etwas auf ungute Weise ins Rutschen. Eine pauschale, aber in Wissenschaft und Politik durchaus beliebte Erklärung für diese besorgniserregende Entwicklung ist, dass dies vor allem an der unübersichtlichen, aber auch unvermeidlichen Komplexität der modernen Gesellschaft liege. Wir müssten eben alle „erwachsen werden“, uns mit den komplizierten Gegebenheiten abfinden, auch dort, wo wir sie nicht mehr ganz durchschauten. Hohe Ansprüche auf Übersicht, Klarheit, Verantwortung für die vorgefundenen Zustände und deren zielstrebige Veränderbarkeit passten einfach nicht mehr in die moderne Welt.
Das alte Mittel der großen Inszenierung
Besonders bedenklich für die Demokratie ist der verbreitete Eindruck, dass es sich ausgerechnet in den heikelsten Grundfragen des Lebens und Zusammenlebens wie Gerechtigkeit und Umwelt bei vielem von dem, was offiziell als politischer Erfolg dargestellt wird, oft eher um symbolische Beschwichtigungspolitik handelt als um wirkliche Erfolge. Die Herstellung und die Darstellung des Politischen passen nicht mehr recht zusammen – man fühlt sich getäuscht. Darin besteht ein durchaus von seriösen Beobachtern geteilter Vorwurf der Umweltbewegung gegen die UN-Umweltgipfel: viel Schaupolitik, wenig Substanz, wenn auch gegen den Willen zahlreicher ernsthaft bemühter Teilnehmer.
In dieser Not greift die Politik mithilfe der Medien gern zu bewährten Inszenierungen, damit wenigstens in den Vorstellungen der Bürger ein positives Bild entsteht. Dazu gehören vor allem das sogenannte Framing, die unbewusste Vorprägung der Wahrnehmung von Ereignissen durch ihre kalkulierte sprachliche Einrahmung und die Inszenierung von Scheinereignissen. Für Letzteres scheint der Klimagipfel in Glasgow wieder zum Paradebeispiel zu werden, mit der Tendenz, dass die unbeirrte Durchführung dieser hochaufwendigen Veranstaltungen mit den Auftritten der großen politischen Prominenz schon ihrerseits als Haupterfolgsmeldungen in Szene gesetzt werden. Das kostet Vertrauen. Eine problematische Rolle bei der Vermittlung von Politik spielt heute ja ohnehin ihre symbiotische Verschränkung mit den Massenmedien, ergänzt durch die erregten Querschläge der irreführend so genannten „sozialen“ Medien. Beide sind auf je eigene Weise die ausschlaggebenden Mittler zwischen Gesellschaft und Politik, aber keineswegs als eine Art Spiegel, der die Ereignisse getreulich abbildet, sondern nach Art einer Theaterbühne, auf der äußerst selektiv nach den Spielregeln der Maximierung von Aufmerksamkeit dramatisierend, personalisierend, unterhaltsam inszeniert wird, was die politischen und medialen Hauptakteure für uns auswählen. Davon leben beide, die Politik, weil ihr das Zuwendung und Legitimation sichern soll, und die Medien, weil es Quote und Umsatz bringt.
Diese wechselseitige Abhängigkeit ist voller Spannungen und Widersprüche. Aufseiten der Politik führt die Schlüsselrolle des Mediensystems zum nie endenden Versuch, ein Höchstmaß an Kontrolle über ihre Darstellung in den Medien zu erobern. Zu diesem Zweck „mediatisiert“ sie sich mit Energie und professioneller Beihilfe beständig aus Leibeskräften selbst, sie rückt ihre Schauseite gleich selbst ins Zentrum. Beide gemeinsam reduzieren die unverdauliche Komplexität der Welt auf einzelne Schaustücke wie prominente Akteure, herausgehobene Ereignisse, spektakuläre Konflikte. Dabei gewinnt die Schau, die inszenierte „Darstellung“ des Politischen, oft Vorrang vor seinen Inhalten, der „Herstellung“ – nicht selten ersetzt sie diese ganz oder zu ausgewählten Teilen. Was hinter der Medienbühne läuft, sieht das Publikum nicht.
Versprechen und Verführung
Das Inszenierungsgerangel war in Deutschland im Verlauf des diesjährigen Bundestagswahlkampfs gut zu beobachten, als es nach dem Willen der großen Parteien um die Entscheidung zwischen einer „Zukunftskoalition“ und einer „Fortschrittskoalition“ gehen sollte – Begriffe, die von der Klärung der wirklichen Alternativen eher ablenkten. In der Wahl selbst setzte sich ein Trend fort, der die politischen Verhältnisse im Land und eine rationale Wahlentscheidung der Bürger in der Sache kompliziert gestaltet. Die beiden großen Volksparteien sind zu mittelgroßen Parteien geschrumpft, die für die Bildung von Regierungsmehrheiten auf eine Koalition mit mindestens zwei der ihrerseits größer gewordenen „Kleinparteien“ angewiesen sind, von denen aber die infrage kommenden Grünen und Liberalen in einigen Grundfragen nicht nur unterschiedlicher Meinung sind, sondern entgegengesetzten politischen Lagern angehören. Die SPD ist als Wahlsieger am Zug und wagt erstmalig auf Bundesebene den Versuch einer Ampel-Koalition „für den Fortschritt“. In diesem Framing liegen ein großes Versprechen und eine ebenso große Verführung. Das Versprechen kann in der gegebenen Konstellation nur begrenzt eingelöst werden, denn die für die SPD besonders wichtige Reduzierung der sozialen Ungleichheit durch höhere Steuerbelastungen der Spitzeneinkommen und Vermögen ist mit der FDP nicht möglich, und die konsequentere Beschleunigung und Ausweitung der Umstellung auf erneuerbare Energien findet ihre sozialen Grenzen bei der SPD und ihre „wirtschaftspolitischen“ bei der FDP.
Das tägliche Verschwiegenheitstheater
Was aber dennoch durchgesetzt werden kann, ist keineswegs wenig. Einstweilen nehmen die Verhandler, um das Publikum bei Laune zu halten, bei einer kuriosen Variante der Unterhaltungsinszenierung Zuflucht. Sie haben, um schon mal eine mediale Anzahlung auf den erwarteten Erfolg ihrer Arbeit zu erzielen, sozusagen als Vorgeschmack ihrer Verlässlichkeit, komplettes Schweigen über den Fortgang ihrer Verhandlungen gelobt – und feiern nun fast unentwegt die Einlösung dieses Versprechens mit einem fast täglich aufgeführten „Verschwiegenheitstheater“, als wenn das schon der erste große Erfolg in der Sache wäre. Das tut keinem weh, macht aber viele hellhörig. Für die Aufnahme ihres tatsächlichen Verhandlungsergebnisses beim Publikum wird es auf etwas anderes ankommen. Wenn am Ende bei den entscheidenden Fragen der Klimapolitik die „Bemühensgarantien“ gegenüber den „Vollzugsgarantien“ überwiegen wie so oft, werden viele das als Mogelpackung einordnen. Worauf es für die Wahrung der Glaubwürdigkeit angesichts des unvermeidbaren Zwangs zu weitgehenden Kompromissen ankommen wird, ist ein unverbrämter, offener Umgang damit.
Natürlich müssen alle drei Parteien gemessen an ihrem Wahlkampf eine ganze Menge Federn lassen. Sie sollten daher ehrliche Rechenschaft darüber ablegen – soweit die Substanz ihrer Ergebnisse das zulässt –, inwiefern es sich dabei um einen guten und nicht um einen faulen Kompromiss des bloßen gefälligen Framings handelt. Die Parteien sollten nicht Zuflucht bei einem schillernden Narrativ suchen müssen, das scheinbar alle Widersprüche zwischen den großen Verheißungen und den kleinen Münzen der anvisierten Reformen glättet. Wenn sie stattdessen anhand ihrer wichtigsten Ergebnisse die politische Weisheit bestätigen können, dass der gute Kompromiss nun mal die Verwirklichungsform des Ideals auf Erden ist, nur dann können sie anstelle von Verdruss den Respekt für ihr gemeinsames Projekt wachsen lassen.
Thomas Meyer ist emeritierter Professor für Politikwissenschaften an der Universität Dortmund. Bis Sep- tember 2021 war er Chefredakteur der Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. 2015 erschien in der Edition Suhrkamp: Die Unbelangbaren. Wie politische Journalisten mitregieren.