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Interview

„Schlafwandler wie 1914“

Interview - „Schlafwandler wie 1914“
Stehen wir vor einem neuen kalten Krieg? Marinekadett in St. Petersburg © Daniel Biskup

Über das Gefahrenpotential des aktuellen Konflikts zwischen dem Westen und Russland - ein Gespräch mit General a.D. Harald Kujat

01.05.2018

Herr Kujat, die – ohnehin seit Jahren schlechten – Beziehungen zwischen dem Westen und Russland wurden in den letzten Wochen durch den Giftanschlag auf den russischen Ex-Agenten Skripal und die jüngste Eskalation in Syrien noch einmal erheblich belastet. Was geschieht hier gerade?

Die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland haben sich in der Tat dramatisch verschlechtert. Obwohl sich während des Kalten Krieges zwei hoch gerüstete Blöcke gegenüber standen, war die internationale Lage durch ein stabiles Gleichgewicht der Kräfte und gegenseitige politische Berechenbarkeit gekennzeichnet. Die Gefahr der heutigen Situation besteht vor allem darin, dass sich Russland und die Vereinigten Staaten nicht mehr als stabilisierende Führungsmächte übergreifender, wenngleich entgegengesetzter Systeme oder auch Ideologien, aber doch gegenseitig respektierter strategischer Interessen wahrnehmen, sondern sich als Vertreter nationaler Interessen begreifen.

Nach dem Ende des Kalten Krieges gab es eine Phase, in der gegenseitiges Vertrauen aufgebaut und sogar eine strategische Partnerschaft zwischen der NATO und Russland mit einer engen politischen Abstimmung und militärischer Zusammenarbeit aufgebaut wurde. Die Chancen gegenseitiger Berechenbarkeit, vor allem aber des Vertrauens sind heute weitgehend vertan. Stattdessen hat eine Ära zunehmender politischer Spannungen und militärischer Konfrontationen zwischen den Großmächten begonnen, mit der Wiederkehr eines Wettrüstens, in das inzwischen auch China eingetreten ist. Unter Nutzung neuester Technologien sowohl in den konventionellen wie in den nuklearen Waffensystemen führt uns die innere Dynamik dieses Rüstens unter der ständigen Drohung menschlichen und technischen Versagens immer näher an jenen „Point of no Return“ heran, den zu überschreiten niemand wirklich wagen oder wollen kann.

Welchen Anteil haben die jeweiligen Seiten an dem Konflikt?
Russland strebt nach einer langen Schwächeperiode wieder nach politischem Einfluss und Anerkennung als Großmacht, insbesondere im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Die Durchsetzung russischer strategischer Interessen, beispielsweise gegenüber der Ukraine oder im Nahen und Mittleren Osten stößt jedoch auf den Widerstand des Westens. Die Antwort an ein wieder politisch selbstbewusstes und militärisch erstarktes Russland sollte jedoch nicht der Versuch einer Isolation, beispielsweise durch Ausschluss aus den G8-Konsultationen oder der Suspendierung des NATO-Russland-Rates sein. Und Sanktionen sind keine Politik, sondern dokumentieren die Abwesenheit von Politik. Vielmehr gilt es, gemeinsam Wege aus den Krisen und Konflikten unserer Zeit zu suchen. Dazu gehört auch, wo immer notwendig und vertretbar, zu einem Interessenausgleich bereit zu sein.

Wie sehen Sie das derzeitige Verhalten der politischen Führung des Westens?
Helmut Schmidt hat schon vor einigen Jahren den Mangel an qualifizierten Politikerpersönlichkeiten in Führungspositionen beklagt. Offenbar mangelt es vielen  heutigen Politikern an der sicherheitspolitischen Weitsicht und dem strategischen Urteilsvermögen um die Gefahr zu erkennen, dass wir bei fortgesetzter Eskalation ähnlich 1914 wie Schlafwandler in einen militärischen Konflikt taumeln könnten.

Aber kann der Westen, der sich immer als Wertegemeinschaft verstanden hat, tatenlos zusehen, wenn er mit Berichten über Verbrechen gegen die Menschenrechte konfrontiert wird?
Nein, das sollte er nicht. Mit einem militärischen Einsatz muss aber immer ein politisches Ziel verbunden sein. Der Luftangriff der Vereinigten Staaten, Frankreichs und Großbritanniens ist jedoch ein Rückschlag für die Friedensbemühungen in Syrien und für eine politisch stabile, demokratische Lösung. Einer humanitären Intervention sind sehr enge Grenzen gesetzt. Die Abschreckung von der künftigen Anwendung von Giftgas ist keine hinreichende Begründung. Ansonsten ist das Bombardieren eines souveränen Staates eine völkerrechtswidrige Aggression, wenn es nicht der Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta dient oder auf der Grundlage eines Beschlusses des UN-Sicherheitsrates erfolgt. Kein Staat kann sich darauf berufen, dass ein Beschluss ja nicht zustande kam. Ansonsten könnte jeder Staat, beispielsweise auch Nordkorea, dieses Recht für sich in Anspruch nehmen. Das Völkerrecht ist kein Selbstbedienungsladen, seine Regeln gelten für alle Staaten gleichermaßen. Übrigens ist die humanitäre Lage nirgendwo so dramatisch wie im Jemen. Hier misst der Westen offensichtlich mit zweierlei Maß.

Wohin der Konflikt sich entwickelt, vermag noch niemand zu sagen. Unstrittig ist, dass wir uns seit geraumer Zeit in einem Informationskrieg befinden. Wie glaubwürdig sind die jeweiligen Positionen?
Der Bundespräsident hat vor einigen Tagen beklagt, dass es keine Vertrauensbasis zwischen dem Westen und Russland gibt. Eine wesentliche Ursache dafür ist der Informationskrieg, der Antagonismus von Provokation und Gegenprovokation, Verdächtigung und Beschuldigung, Drohung und Gegendrohung, von Sanktionen und Gegensanktionen. Die Politiker müssen verstehen, dass man den damit verbundenen Gefahren nur begegnen kann, wenn nicht weiter an der Eskalationsschraube gedreht wird. Wenn man sich um Entspannung und um beiderseitiges Vertrauen bemüht. Vertrauen entsteht aber nur durch gemeinsam gesuchte Wahrheit. Und es ist vor allem die Wahrheit, die in den letzten Jahren unter die Räder gekommen ist. Man könnte auch etwas zynisch sagen, vor dem zweiten Irak-Krieg hat man sich immerhin noch darum bemüht, Beweise zu konstruieren. Heute wird erwartet, dass die Menschen Vermutungen als hinreichenden Grund für einen Konflikt anerkennen.

Wie kann die Lage entschärft werden?
Die gegenwärtigen Konflikte können nur durch eine enge Zusammenarbeit der Vereinigten Staaten und Russland gelöst werden. Aber auch Europa und insbesondere Deutschland können dazu einen Beitrag leisten. Die Geschehnisse in der Ukraine und in Syrien dürfen uns nicht gleichgültig sein. Deshalb ist es wichtig, die bewährten politischen Mechanismen wieder zu aktivieren.
Ich denke dabei vor allem an das G8-Forum. Zudem sollten Sanktionen und Gegensanktionen, die einer engeren Zusammenarbeit im Wege stehen, abgebaut werden. Vertrauensbildende militärische Maßnahmen tragen ganz entscheidend dazu bei, dass die Eskalationsschraube sich nicht weiter dreht und auch komplexe militärische Situationen nicht außer Kontrolle geraten.

Das Interview führte René Nehring.


 Mahnende Worte

„Mit 17 Jahren wurde ich im Januar 1945 noch in den Volkssturm gezwungen, um gegen die Russen zu kämpfen. Nach vier Jahren Kriegsgefangenschaft kam ich in ein geteiltes Deutschland zurück. Aus all meinen Erlebnissen begleitete mich eine Erkenntnis – es sollte nie wieder Krieg und Faschismus geben. In den 1960-er Krisenjahren stellte sich und uns der russische Dichter Jewgeni Jewtuschenko die Frage „Meinst du, die Russen wollen Krieg?“. Eine solche Frage steht nun wieder im politischen Raum und vor unseren Völkern. Die Welle von Sanktionen gegen Russland läuft und soll die wirtschaftliche Stabilität treffen. Die Diplomatie ist auf Eskalation gerichtet und nicht auf Verständnis und Dialog. 2004 war ich als Mitglied des Europäischen Parlaments zu einer Diskussion im NATO-Hauptquartier zu Fragen der politischen und militärischen Situation. Was mich bewegte war der Ring, der sich um Russland zog und heute zieht und die chinesische Mauer, die immer höher wird. Was soll nun, wo Sanktionen laufen und diplomatische Gespräche keinen Platz haben, geschehen? Soll nun das Feld der militärischen Konflikte und des Krieges ein nächster Schritt sein? Was wir brauchen ist Vertrauensbildung und nicht Konflikte und Gefahren.“

Hans Modrow, von November 1989 bis April 1990 letzter Vorsitzender des Ministerrates der DDR, gegenüber dem Rotary Magazin am Rande einer Veranstaltung des Deutsch-Russischen Forums Mitte April in Berlin.