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Porträt

Sehnsucht nach Autonomie und Anerkennung

Porträt - Sehnsucht nach Autonomie und Anerkennung
Ein kurdischer Staat in seiner Heimat Syrien ist sein Lebensthema: Younes Bahram © Amac Garbe

Seit mehr als 100 Jahren leiden Kurden in Syrien unter kolonialistischen Entscheidungen und ihren Nachwirkungen. Ein Porträt des Dresdner Rotariers Younes Bahram

01.10.2017

Als die Täler ich wiedersah, weitete sich mein Herz vor Freude. Endlich, endlich war mir nah, wonach ich mich immer sehnte.“ So beginnt das kurdische Gedicht „Bittere Heimkehr“. Geschrieben wurde es von Younes Bahram. Gemeint ist sein Sehnsuchtsland, seine erste Heimat: Westkurdistan in Syrien. In seiner zweiten Heimat, Deutschland, arbeitet der Politiker am Aufbau eines autonomen Kurdistans in Syrien. „In mir wohnen zwei Seelen. Ich bin Dresdner genauso wie Kurde“, sagt Younes Bahram und schmunzelt schelmisch. „Aus politischen Gründen durfte ich keine Ausbildung in meiner syrischen Heimat machen. Ich musste mein Land verlassen und kam nach Sachsen. Es war damals eine Reise in einen fremden Kulturkreis mit einer fremden Sprache, und ich war völlig mittellos und sehr einsam. Tagelang, nächtelang hatte ich starkes Heimweh.“

Zehn Jahre kein Kontakt zur Familie
Das war 1985, als der 18-jährige syrische Kurde Younes Bahram gerade das Abitur bestanden hatte. In seiner Stadt setzte er sich für das kurdische Neujahrsfest ein. Der Weg zum Studium wurde ihm aus politischen Gründen versperrt. Durch die intensiven Bemühungen seines Vaters, der Kontakt zum Internationalen Solidaritätskomitee der DDR hatte, kam er nach Dresden, in einer Zeit, in der die syrische Staatsführung mit einer gewaltigen Anstrengung versuchte, das nordsyrische Kurdengebiet zu arabisieren.

Zehn Jahre lang hatte Bahram keinerlei Kontakt zu seiner Familie und seinen Freunden. Telefonate waren zu gefährlich und wurden abgehört, Besuche unmöglich. Die Heimat blieb dennoch im Herzen. Was bedeutet sie ihm heute?  

„Heimat ist inzwischen nicht mehr nur unser Gebirgsland“, sagt Younes Bahram entschieden. Zu Hause sei er nun auch in dem Land, das ihn vor mehr als der Hälfte seines Lebens aufnahm: Deutschland. Er sei glücklich, dass er zwei Heimaten habe. In Westkurdistan seien seine kulturellen Wurzeln. In Deutschland konnte er sich das erfüllen, was ihm in Westkurdistan nicht möglich war: Er durfte Radiologie und später Politologie sowie Soziologie studieren, konnte eine Familie gründen. „Ich bin froh, dass ich in Europa in Frieden und in einer Demokratie leben darf“, sagt Bahram. Hier hat er eine Kurdin geheiratet und drei Kinder großgezogen. Zu Hause spricht die Familie viel über Syrien und Kurdistan. Für die Kinder sei es besonders spannend, etwas über die erste Heimat ihres Vaters zu erfahren. „Zu Hause sind wir Kurden, Syrer. Wenn man uns besucht, sind wir die typischen Orientalen, und draußen sind wir auch Dresdner und Europäer“, sagt er und fügt stolz hinzu: „Wir sind ‚multi‘“.

Engagement für Demokratie
Wenn Younes Bahram über Kurdistan spricht, differenziert er sehr genau: „Unser Land Kurdistan erstreckt sich zwischen dem Iran, Irak, der Türkei und Syrien. Geografisch gesehen. Politisch gesehen, gibt es diesen Staat momentan nur im Herzen aller Kurden. Deshalb kämpfen wir für einen Föderalismus. Strukturen, wie es sie im Irak gibt, bilden wir auch seit 2015 in Rojava, dem syrischen Teil Kurdistans.“

Rojava sei die Wiege der Menschheit, Mesopotamien. Hier legten einst die Franzosen und Briten die sogenannten Sham-Ebenen mit Kurdistan zusammen. Das müsse man sich in etwa so vorstellen wie die Verschmelzung von Tschechien und der Slowakei. „Diese Aufteilung hat auf Kosten der Ethnien stattgefunden“, beklagt Bahram, und das habe Folgen, denn seitdem sei das Schicksal Kurdistans fest an Syrien gebunden. Dabei sei die westkurdische Region ethnisch und religiös gesehen ein Mosaik verschiedenster Bevölkerungsgruppen, bestehend aus einer Mehrheit von Kurden. Araber wurden neu angesiedelt, auch Assyrer und – nicht zu vergessen – die Aramäer.

Entlang des Flusses Xabur (Khabur) ließen sich Christen nieder. „Diese fruchtbare Ebene mit Weinplantagen, Granatapfelbäumen, Olivenhainen, Obst- und Gemüseplantagen, Getreide und Baumwolle gilt seit Langem als ‚Nahrungskorb Syriens‘“, schwärmt Bahram. Was sie darüber hinaus wertvoll mache, seien die Erdöl- und Gasvorkommen, die freilich bislang unter Kontrolle des Assad-Regimes stünden. Bis 2012 habe diese Region im Durchschnitt mehr als 14 Milliarden Euro jährlich abgeworfen. Der angestrebte neue Staat namens Rojava werde leicht seine rund vier Millionen Einwohner ernähren können, zeigt sich Bahram optimistisch.

Doch er räumt zugleich ein, dass der angestrebte Weg in eine neue Staatlichkeit voller Hürden ist. Nicht nur, weil die Weltgemeinschaft, wie er sagt, noch nicht offen sei für diese Idee. Es sind vor allem kulturelle und religiöse Gründe, die die Umsetzung einer nach westeuropäischem System verfassten Demokratie zu schwierig machen. In einer islamisch oder islamistisch geprägten Region sei das nicht einfach, sagt er. Seit Jahrhunderten hätten in der Region Rassismus und Nationalismus im Vordergrund gestanden oder eben die Diktatur geherrscht. Um demokratische Verhältnisse zu erreichen und alle Bevölkerungsgruppen zu integrieren, sei von engagierten Kurden eine Dachorganisation gegründet worden. „Diese föderalistische demokratische Selbstverwaltung unterzeichnete 2014 in Qamischli einen Volksvertrag“, sagt Bahram. „Er ist unsere kurdische Verfassung.

Inzwischen haben wir zahlreiche Organe und Institutionen analog westeuropäischen Demokratien gegründet“, erklärt er weiter. Bei Konflikten entscheide eine Gerichtsbarkeit nach den Grundlagen der kurdischen Gesetze. Das Zivilrecht fuße auf französischem Vorbild. Die Religion sei von der Staatspolitik getrennt. Und: Frauen sind zu 100 Prozent gleichberechtigt. Überall gebe es Doppelspitzen – vom Schulleiter bis zum Staatspräsidenten. Sie alle haben eine Kollegin zur Seite. Auf diese Regelung ist Younes Bahram besonders stolz.

Das Projekt „Rojava“
Das angestrebte neue Staatsgebilde soll allerdings nicht Westkurdistan heißen, sondern Rojava. Bahram begründet das mit dem Wunsch, dass unter diesem Namen alle Menschen unterschiedlicher Konfession friedlich zusammenleben sollen, so wie es lange Tradition in der Region war. Dafür stehe auch das kurdische Friedensgebet. „Im gemeinsamen Gebet setzten jüngst die Prediger dreier Religionsgruppen in Westkurdistan ein symbolisches und zukunftsweisendes Zeichen“, erzählt Bahram. Entsprechend der föderalen Struktur hat das Projekt „Rojava“ elf Landesvertretungen europaweit eingerichtet. Younes Bahram arbeitet seit gut einem Jahr hauptberuflich für die deutsche Vertretung in Berlin. Aktuell befinde man sich in internationalen Gesprächen, mit den USA genauso wie mit Russland. Ein internationales Echo sei vorhanden, der Weg zum Ziel jedoch noch weit und dornig.

Bahram lässt offen, ob die Kurden sich Dankbarkeit erhoffen für ihren gefährlichen militärischen Einsatz gegen den sogenannten Islamischen Staat in Südkurdistan und bei der Rückeroberung von Mossul. „40 Prozent der kurdischen Kämpfer sind Soldatinnen“, erklärt Younes Bahram. Bei ihnen kämpften Christen (Aramäer und Assyrer), Muslime und Jesiden vereint. Die Kurden scheinen damit zu schaffen, was dem Westen derzeit nur schlecht gelingt: zu zeigen, dass Religion keine Grenzen kennt.

Younes Bahram selbst stammt aus einem muslimischen Elternhaus, fühlt sich aber keiner Konfession verbunden. Sein Lieblingsort in Dresden ist die wiederaufgebaute Frauenkirche. „Diese Kirche ist ein Symbol dafür, was Menschen alles schaffen können“, sagt Bahram, der in diesem Moment ein besonders stolzer Dresdner ist.


 

Zur Person

Dr. Younes Bahram (RC Dresden-Blaues Wunder) wurde 1967 in Westkurdistan/Syrien geboren. Um vor politischer Verfolgung zu fliehen, kommt er 1985 in die DDR, nach Dresden. An der TU Dresden studierte er Radiologie, Politologie und Soziologie und arbeitete als medizinisch-technischer Assistent, Dolmetscher und Journalist. Seit 2016 engagiert er sich für "Rojava", ein neues föderales Staatengebilde in Westkurdistan. Bahram ist verheiratet und hat drei Kinder.


Autorinnen: Alexandra Prinzessin zur Lippe und Katrin Fiedler