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Selbstfeier Amerikas?
Jahr für Jahr elektrisiert der Super Bowl Millionen Football-Fans auf der ganzen Welt. In den USA begehen viele Fans dieses Sportspektakel wie einen gemeinsamen festlichen Jahreshöhepunkt.
Während des vergangenen Jahrzehnts ist der Super Bowl, das Endspiel um die Meisterschaft der Berufsspieler im American Football, von einem nationalen Ritual der Vereinigten Staaten zu einem globalen Medienereignis aufgestiegen. So selbstverständlich geht inzwischen sein Name Millionen von Zeitgenossen mit ganz verschiedenen Muttersprachen über die Lippen, dass man leicht das aus zwei ganz verschiedenen Gründen angebrachte Erstaunen über so viel geläufige Beliebtheit vergisst. Erstaunen vor allem, weil wir doch einer Gegenwart angehören, die – zumal in Europa – darauf hält, jegliche Nachahmung oder auch nur Anerkennung des amerikanischen Lebens hinter sich gelassen zu haben. Jene „ehemalige Weltmacht“, hört man immer wieder, befinde sich in einem Zustand tiefster Krise, der jeglichen Führungsstatus ausschließe. Wie sollen wir dann aber die intensive Resonanz eines Spektakels erklären, das man nicht zu Unrecht als „Selbstfeier Amerikas“ gedeutet hat? Hinzu kommt noch, dass ein Mit-Vollziehen des Super Bowl als Ritual und als ästhetische Erfahrung an komplexe Wissensvoraussetzungen gebunden ist, die sich außerhalb der amerikanischen Gesellschaft kaum erwerben lassen.
Differenzierung vom Rugby
Rituale können wir als Choreografien definieren, mit denen die präsenzkulturelle, auf körperlicher Teilnahme und nicht auf begrifflichem Verstehen beruhende Dimension unserer Existenz Beziehungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellt. Wenn Verstehenskultur aus der Perspektive von Geschichte auf positiv oder negativ zu bewertende Veränderungen setzt, so betonen Rituale Kontinuität und Identität innerhalb von Variationen. Als Ritual ist der Super Bowl in die amerikanische Sportwelt unter einer Prämisse von Vielfalt eingebettet, die sich von der unbestrittenen Dominanz des Fußballs – etwa im kontinentalen Europa und in Südamerika – abhebt. Den vier großen amerikanischen Mannschaftssportarten gehören je jahreszeitlich verschiedene Strecken von kollektiver Aufmerksamkeit, unter denen die „March Madness“ im College-Basketball, die Play-offs zum Stanley Cup im Eishockey während des späten Frühjahrs, die Baseball World Series im frühen Herbst und schließlich die College-„Bowl Games“ und der Super Bowl des American Football um die Jahreswende herausragen.
Die andere oft übersehene Besonderheit hinsichtlich der Ritualstruktur des amerikanischen Sports liegt in der tatsächlich gleich hohen Beliebtheit der College- und Profi-Versionen von Basketball und von American Football, obwohl es selbstredend zutrifft, dass nur Elitespieler aus College-Mannschaften den Sprung in die Profi-Ligen schaffen. Kein Mannschaftssport der Frauen hat hingegen bisher auch nur annähernd aufgeschlossen, trotz wachsender Unterstützung durch Politik und Medien, trotz regionaler Begeisterung für Frauen-College-Basketball und trotz einer landesweiten Aura der Fußball-Nationalmannschaft. So verfolgt der typische amerikanische Fan weiterhin die insgesamt sechs Spielzeiten in den vier zentralen männlichen Mannschaftssportarten, wobei jeweilige Präferenzen von Biografie und Temperament abhängen.
Deutlicher noch als im Basketball sind – wohl aus historischen Gründen – die Unterschiede zwischen den beiden Versionen von American Football ausgeprägt. Dessen Differenzierung vom Rugby vollzog sich seit den 1870er Jahren ausschließlich an klassischen akademischen Institutionen (Princeton, Harvard und Yale spielten führende Rollen), und erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts begannen zwei rivalisierende Profi-Ligen ernsthaft an Beliebtheit zu gewinnen. Aus ihrer Fusion zur „National Football League“ ergab sich der erste, 1967 ausgetragene Super Bowl. Doch NFL und Super Bowl haben bei aller gekonnten Brillanz ihrer medialen Inszenierung nie auch nur in Ansätzen die Faszination der an jeweilige Städte und Stadien gebundenen „Bowl Games“ in den Wochen vor und nach Jahresende verdrängt, zu denen die etwa 60 besten College-Mannschaften nach arkanen Regeln eingeladen werden. Unter ihnen kommt dem seit 1902 am 1. Januar stattfindenden „Rose Bowl“ in Los Angeles als ältestem Match ein spezieller Rang zu.
Gewalt und strategische Intelligenz
Die bei traditionsbewussten Fans umstrittenen nationalen College-Meisterschaften zwischen jeweils vier Teams folgen und überschneiden sich mit den Profi-Endrunden bis hin zum Super Bowl, der in diesem Jahr, später denn je, auf den 13. Februar angesetzt ist. Dass sich diese Intensitätszeit des American Football, der über das letzte halbe Jahrhundert den Baseball als beliebtestem Zuschauersport überholt hat, um die Jahreswende vollzieht, legt eine nur selten formulierte These nahe. In einer nationalen Kultur mit immer stärker werdender Betonung ihrer intern spannungsvollen Pluralität, in einer Kultur, die nicht mehr geschlossen am christlichen Kalender und seinen Festen festhält, könnte American Football als regional wie sozial differenzierte Folge von Einzelritualen zwischen Bowl Games und Super Bowl die Stelle eines Gesamtrituals zum Jahresübergang und Jahreshöhepunkt erobert haben.
Diese Funktion macht die eigentümliche Festlichkeit plausibel, welche das NFL-Endspiel und seine längst zur hohen Messe der Popmusik gewordenen Halbzeitaufführungen durchdringt. Um nun aber den Zusammenhang zwischen dem Rahmen und dem Inhalt des Super-Bowl-Rituals zu erfassen, müssen Zuschauer aus der Fußball-Monokultur auf mindestens drei ästhetisch relevante Besonderheiten des American Football vorbereitet sein: auf die Kombination von Gewalt und an Schach erinnernder strategischer Intelligenz als Fokus; auf die stakkatoartige Segmentierung des Spielflusses; und auf die mit hohem Risiko verbundene Möglichkeit dramatischer Wendungen in der Dominanz der einen oder anderen Mannschaft.
Gewalt im wörtlichen Sinn, als körperliche Besetzung von Räumen gegen den direkten Widerstand anderer Körper, gehört zum American Football und zum Rugby, weil die dort – im Gegensatz zum Fußball – erlaubte Ballbeherrschung mit den Händen anders nicht zu brechen ist. Unter den Gewaltakten der den Ball nach vorne treibenden Spieler in offensiver und der sie aufhaltenden Spieler in defensiver Position allerdings schätzen kompetente Fans nur die „clean hits“, das heißt Bewegungen, die andere Körper mit maximaler Genauigkeit, kürzester Berührungsdauer und irreversibler Wirksamkeit treffen. Im Lauf der American-Football-Geschichte hat die Herausforderung, solch vielgestaltige Gewalt als Matrix des Spiels zu überwinden und auszuhebeln, dann eine prinzipiell unendliche Entwicklung komplexer strategischer Varianten durch die Trainer provoziert. College-Mannschaften und Profi-Mannschaften müssen pro Saison jeweils mehrere Hundert neue Spielzüge einüben, was dem in den statistikbesessenen Vereinigten Staaten etablierten Wissen entspricht, dass Football-Spieler – aus der Außensicht durchaus überraschend – unter allen Athleten über den höchsten durchschnittlichen Intelligenzquotienten verfügen.
Anders als der durch individuelle Intuitionen fortgesetzte Fluss des Fußballs werden die vorausgeplanten, aber den Gegner überraschenden Spielzüge im Football durch Auszeiten segmentiert, deren akkumulierte Dauer weit über den 60 Minuten reiner Spielzeit liegt. Entgegen einem etwas wohlfeil „kulturkritischen“ Gerücht dienen solche Unterbrechungen freilich nicht allein der Integration von Fernsehwerbung, sondern ermöglichen erstens die strategische Koordination der Mannschaften mit ihren Betreuern und motivieren zweitens einen vom Endergebnis abgelösten Ehrgeiz einzelner Spieler, in den mikrostrukturellen Situationen zu glänzen. Der Unterhaltungswert des American Football hängt deshalb weitgehend von der Bereitschaft seiner Zuschauer ab, jenes strategische Denken und jene potenziellen Dramen der einzelnen Spielsegmente in ihrer Vorstellung mitzuvollziehen.
Irrwitzige Wendungen am Ende
Was nun den Gesamtverlauf von Spielen angeht, halten über die Jahre optimierte Regeln des American Football die Entscheidung über Sieg oder Niederlage bis kurz vor Schluss weitgehend offen. Eine deutlich im Rückstand liegende Mannschaft hat etwa die Chance, nach den verkürzenden sieben Punkten für einen „Touchdown“ ihrer Offensive weiter im Ballbesitz zu bleiben, wenn sie beim nächsten Spielzug mit einem Pass an sich selbst die Gefahr akzeptiert, den Gegner in eine strategisch besonders günstige Position zu bringen. Nicht selten gerät so die Endphase eines Matches zur nervenaufreibenden Konkurrenz zwischen maximaler Risikobereitschaft auf der einen und Risikominimierung auf der anderen Seite.
Und eben als Spiel um Risiko, individuelle Selbstüberbietung, strategische Intelligenz und Gewalt inszeniert der American Football im Super-Bowl-Rahmen Dimensionen von Existenz, die man einst für „amerikanische Tugenden“ hielt – und die immer noch, Weltmachtkrise hin oder her, eine Nation mit den besten Universitäten und der stärksten Militärmacht repräsentieren können. Freilich gibt es Grund zu der Vermutung, dass sich die Amerikaner selbst allmählich an diesem Schauspiel sattsehen. Football ist nicht allein unter politisch korrekten Bürgern und vor allem aufgrund langfristig wirksamer Gehirnverletzungen ins Gerede gekommen, seit 2014 nehmen auch die Einschaltquoten der nationalen Super-Bowl-Übertragungen zögernd, jedoch beständig ab.
Ein Effekt globaler Ironie?
Soll man es da für einen Effekt globaler Ironie ansehen, dass gleichzeitig die internationale Super-Bowl-Faszination zunimmt? Könnte sie Symptom einer vorbewussten Sehnsucht nach jener Existenzform und ihren angeblich abgelegten Tugenden sein, von der sich die Vereinigten Staaten gerade zu verabschieden beginnen?
Vier Stunden lang wird die Welt jedenfalls am 13. Februar ein Selbstbild feiern, das vielen Amerikanern nicht mehr geheuer ist.
Hans Ulrich Gumbrecht ist der Albert Guérard Professor in Literature, Emeritus, an der Stanford University und Distinguished Professor of Romance Literatures an der Hebrew University, Jerusalem (2020–2023).