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Interview

„Sind in der Lage, diesen Schock zu überstehen”

Interview - „Sind in der Lage, diesen Schock zu überstehen”
Eine reizende Landschaft: Die Republik Moldau ist ein weitgehend unbekanntes Land mit vielen Problemen auf gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und vor allem politischer Ebene. Der Außenminister der Republik sieht sein Land dennoch auf einem guten Weg in Richtung EU-Mitgliedschaft. © Pixabay

Mitten in der Krise plant Moldau seine Zukunft: Wie Außenminister Nicu Popescu das Land reformieren und an die EU heranführen will

01.10.2022

Herr Minister, welche Auswirkungen hat der russisch-ukrainische Krieg auf die Republik Moldau?

Ich denke, dass die Zeit nach dem 24. Februar 2022 sicherlich die schwierigste Periode in der Geschichte der Republik Moldau seit dem Krieg von 1992 ist. Es liegt auf der Hand, dass diese Dinge große Auswirkungen auf unsere Sicherheit, auf die Wirtschaft unseres Landes, auf unseren psychologischen Zustand als Gesellschaft, als Menschen, als Individuen haben. Im Moment können wir noch nicht alle Folgen abschätzen, aber sie sind klar und deutlich zu erkennen. Sie spiegeln sich bereits in den Rechnungen wider, die wir bezahlen, im Grad des Stresses in der Gesellschaft, in den Auswirkungen auf die Wirtschaft und auf die Entscheidungen der Investoren. 

Die erste Auswirkung dieses Krieges ist natürlich die humanitäre Krise. Die Republik Moldau hat etwa 100.000 ukrainische Flüchtlinge aufgenommen, und mehrere Hunderttausend weitere haben erste Hilfe erhalten und wurden bei der Weiterreise in andere Länder unterstützt. Welchen Beitrag hat die internationale Gemeinschaft zur Bewältigung der humanitären Krise in der Republik Moldau geleistet?

Die Behörden in Chisinau, unsere gesamte Gesellschaft wurde im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht mobilisiert. Wir haben vom ersten Tag des Krieges an Flüchtlinge aufgenommen. Seit der ersten Woche haben unsere externen Partner ihre Solidarität mit der Republik Moldau zum Ausdruck gebracht und den Beitrag unseres Landes sehr gewürdigt. Man hat uns humanitäre Hilfe und finanzielle Unterstützung angeboten, teils in Form von Zuschüssen, teils in Form von Darlehen. Von der Europäischen Union erhalten wir zum Beispiel 125 Millionen Euro, davon 90 Millionen Euro als Zuschüsse. Mit diesem Geld werden Straßen gebaut, die Zufahrtsstraße zu einer neuen Brücke nach Rumänien, Energiekosten wurden subventioniert. Aber man muss wissen, dass nicht alle Mittel sofort freigegeben werden. Diese Verfahren dauern manchmal Wochen, manchmal Monate oder sogar Jahre. Warum? Weil sie in bestimmte Projekte investiert sind.

Wenn wir über die Auswirkungen auf die Wirtschaft sprechen, dann sollten wir die moldauische Produktion erwähnen, die auf dem ukrainischen Territorium verblieben ist, den Verlust des Zugangs zum ukrainischen Markt, aber auch zu anderen Märkten im Osten und natürlich das Problem der Überlastung der Hauptrouten für Getreideexporte aus der Ukraine durch die Republik Moldau und Rumänien.

Zum Zeitpunkt des Ausbruchs dieses Krieges und der russischen Aggression gegen die Ukraine waren etwa 14 Prozent unserer Exporte für die östlichen Märkte bestimmt: Russland, Belarus und die Ukraine. Dies ist eine wichtige Zahl, insbesondere für unsere Landwirte. Diese Zahl ist jedoch viel niedriger als in der Vergangenheit, da die moldauischen Hersteller nach den russischen Embargos ihre Märkte diversifiziert haben. Seit 2014 haben wir ein Freihandelsabkommen mit der EU, und dank dieser Öffnung des europäischen Marktes ist unsere Wirtschaft allmählich viel besser in der Lage, einen solchen Schock zu überstehen. 

Ein allgemeines Problem, mit dem mehrere Länder konfrontiert sind, ist die Erpressung durch Gaspreise und -lieferungen durch Russland. Die Republik Moldau ist fast vollständig vom russischen Gas abhängig. Welche Maßnahmen ergreift die Regierung, um die Auswirkungen der Energiekrise abzumildern?

In dieser historischen Situation sind wir sehr stark von der Energiekrise betroffen. Im Oktober 2021 hatten wir eine Phase, in der es schwierig war, mit der Russischen Föderation einen neuen Vertrag über Gaslieferungen auszuhandeln, und dann haben wir zum ersten Mal in der Geschichte der Republik Moldau einige Gaseinkäufe auf internationalen Märkten getätigt, woraufhin der Vertrag mit Gazprom doch unterzeichnet wurde. Seitdem arbeiten wir verstärkt daran, einen Plan B und einen Plan C für den Fall zu haben, dass es Probleme bei der Lieferung von Rohstoffen jeglicher Art gibt. Wir kaufen bereits Strom aus der Ukraine zu. Was die Gasversorgung betrifft, so wurde in den letzten Jahren die Pipeline Iasi-Ungheni-Chisinau gebaut und fertiggestellt.

Die Beziehungen zur Russischen Föderation waren noch nie einfach, jetzt sind die Dinge noch komplizierter geworden. Wie positioniert sich die Republik Moldau in dieser Situation?

Unsere Hoffnung vor dem Krieg war es, die Beziehungen zur Russischen Föderation auf respektvolle Weise zu gestalten, indem wir auf dem Abzug der illegal auf dem Territorium des Landes stationierten russischen Truppen bestanden und die Notwendigkeit betonten, den Transnistrien-Konflikt auf der Grundlage international anerkannter Grenzen zu lösen. Es liegt auf der Hand, dass dieser Krieg die Außenpolitik aller Beteiligten kompliziert hat, auch die der Republik Moldau. Wir verurteilen die Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine aufs Schärfste. Diese Aggression ist ein großes Problem, vor allem für die Ukraine, aber natürlich auch für das Völkerrecht und für jeden Staat wie die Republik Moldau, der nicht über Atomwaffen verfügt, der keine Millionen von Menschen in seiner Armee hat.

Vor dem Hintergrund der durch den russisch-ukrainischen Krieg verursachten Instabilität hat die EU der Ukraine und der Republik Moldau den Status eines EU-Beitrittskandidaten zuerkannt. Nun muss die Republik Moldau Bedingungen erfüllen, wie etwa die Bekämpfung der Korruption, die Reform des Justizwesens und des staatlichen Beschaffungswesens und mehr. Was stimmt Sie zuversichtlich, dass es Ihnen gelingen wird, innerhalb eines Jahres Ergebnisse zu erzielen, die Sie drei Jahrzehnte lang nicht erreichen konnten?

Natürlich erwartet niemand, dass die Republik Moldau in einem Jahr zu einer neuen Schweiz oder einem neuen Belgien wird. Wir müssen jetzt zeigen, dass wir in der Lage sind, diese Maßnahmen nachhaltig und beschleunigt umzusetzen. Wir haben einen Aktionsplan verabschiedet und sind dabei, ihn umzusetzen. Durch die Verabschiedung von Gesetzen, aber auch durch die Art und Weise, wie unser Staat arbeitet, müssen wir zeigen, dass die Republik Moldau keinen anderen Weg als den in die EU sieht.

Das Gespräch führte Ludmilla Barba


Ludmila Barba ist Journalistin mit über 30 Jahren Erfahrung in Fernsehen, Radio und Presse. Sie ist Expertin für Außenpolitik und ist Chefredakteurin des öffentlich-rechtlichen Unternehmens Teleradio-Moldova.

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

Nicu Popescu ist seit August 2021 der Minister für Auswärtige Angelegenheiten und Europäische Integration der Republik Moldau. Er ist promovierter Politikwissenschaftler und war Direktor am European Council on Foreign Relations ECFR, Paris.