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Beschweigen, nicht verdrängen

Titelthema - Beschweigen, nicht verdrängen
"Beschweigen, nicht verdrängen" – so lautet der Titel des Beitrages von Rainer Hank. © Rotary Magazin

Hermann Lübbe meinte, die individuelle Beteiligung der Mehrheit der Deutschen am NS-Regime könne nicht öffentlich thematisiert werden, damit aus ehemaligen Parteigenossen Bürger einer Demokratie werden können.

Rainer Hank06.06.2025

Ivan Nagel, ein der Deportation ins Nazi-Vernichtungslager aus Budapest entkommener Jude und später wichtiger Theaterkritiker, und Reinhard Koselleck, Kriegsfreiwilliger in der Wehrmacht und später wichtiger Theoretiker der Geschichtswissenschaft, trafen nach dem Krieg als Studenten in Heidelberg aufeinander, wurden Freunde – und sprachen nie über ihre Vergangenheit, obwohl sie davon wussten.

Für dieses Verhalten prägte der Philosoph Hermann Lübbe – er feiert im Dezember seinen 99. Geburtstag – den Begriff „kommunikatives Beschweigen“. Die Formel stammt aus einem Vortrag Lübbes anlässlich des 50. Jahrestags der nationalsozialistischen „Machtergreifung“; er wurde anschließend unter dem Titel „Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein“ veröffentlicht. „Kommunikatives Beschweigen“ ist für Lübbe „eine Funktion der Bemühung, zwar nicht diese Vergangenheiten, aber doch ihre Subjekte in den neuen demokratischen Staat zu integrieren“.  

Lübbe wehrte sich dagegen, seinen Begriff des „Beschweigens“ mit „Verdrängen“ gleichzusetzen. Die Verbrechen der Deutschen seien in der Erinnerung stets präsent gewesen, somit nicht verdrängt worden. Das Etikett „Verdrängen“ verwandle die historisch-politische Aufgabe, „sich zum Nationalsozialismus in ein moralisch und politisch zukunftsfähiges Verhältnis zu setzen“ in eine kollektive Analyse. Einfacher gesprochen: „Verdrängung“ wäre eine moralisierende und psychologisierende Deutung; „Beschweigen“ wäre eine funktionalistische oder kontextualisierende Beschreibung des Verhaltens der Deutschen im Zusammenhang mit der Konsolidierung ihres Gemeinwesens.

Die Kehrseite des „Beschweigens“ ließe sich „Etikettieren“ nennen: die Markierung öffentlicher Personen als Nazis mit dem Ziel, die Übernahme politischer Verantwortung einzufordern. Hans Globke, Staatssekretär unter Kanzler Adenauer und Mitverfasser des Kommentars zu den Nürnberger Rassengesetzen, ist wohl das prominenteste Beispiel: Offiziell wurde seine Vergangenheit „beschwiegen“. Gleichzeitig wurde er in der deutschen Öffentlichkeit durch Autoren wie Günter Grass als Symbolfigur für die Kontinuität nationalsozialistischen Denkens „etikettiert“, wobei Grass seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS selbst erst 2006 eingestand, somit vom „Beschweigen“ profitierte. Umgekehrt ließe sich das „Beschweigen“ auch als eine Art demokratisches „Etikettieren“ verstehen: Wenn ein ehemaliger NS-Parteigenosse, nicht auf seine Vergangenheit festgelegt, sondern wie ein guter Demokrat behandelt wird, dann verhält er sich auch wie ein solcher.

Die Schatten der Vergangenheit, so Lübbe, würden umso länger, „je tiefer das Dritte Reich in den Zeithorizont“ zurücksinke, was einer elementaren Pragmatik menschlicher Vergangenheitsbezogenheit entspringe. Geredet wird erst jetzt, wo die Betroffenen tot sind. Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld hat zwar 1946 im Entnazifizierungsverfahren seine NSDAP-Mitgliedschaft bekannt, fürderhin aber öffentlich nie wieder darüber geredet.  Es hat Unseld aber auch keiner danach gefragt.

Wäre es im Dienst der Versöhnung besser gewesen, kollektiv den Deutschen ein Wahrhaftigkeitsbekenntnis über ihre Vergangenheit abzuverlangen, eine Art General-Etikettierung also? Wir wissen es nicht. Denn es gibt in der Geschichte, anders als in der Sozialwissenschaft, keine randomisierten Kontrollgruppen, die man kontrafaktisch hätte einrichten können. 

Rainer Hank

Rainer Hank, RC Frankfurt am Main-Städel, leitete 17 Jahre das Ressort Wirtschaft und "Geld & Mehr" der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Seit 2018 ist er Publizist und Kolumnist für unterschiedliche Medien, seine Kolumne "Hanks Welt" erscheint jeden Sonntag in der FAS.