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Standpunkt

Darf man bei Rotary offen sprechen?

Standpunkt - Darf man bei Rotary offen sprechen?
Rainer Hank, RC Frankfurt am Main-Städel, Clubpräsident 2023/24 © Lucas Bäuml

Ja, denn man muss nicht alles sagen, findet Rainer Hank. Aber dafür braucht es Mut und innere Freiheit. Nicht alle Clubfreunde wissen, dass es mehrere Wahrheiten gibt

Rainer Hank01.12.2023

Ein jüdischer Freund, Mitglied eines Berliner Rotary Clubs, erklärt mir jüngst, warum er es vorziehe, im Kreis der Rotarier mit seiner Meinung hinterm Berg zu halten. Er unterstütze komplett die aktuelle israelische Politik und deren militärisches Ziel, die Terroristenorganisation Hamas zu vernichten (er benützt ein härteres Wort). Nicht, dass er sich nicht traue oder gar Angst habe, dies zu sagen. Aber er wolle die Freundschaft nicht gefährden, zumal mit denen im Club, von denen er wisse, dass sie sehr israelkritisch seien. Seine Meinung zu sagen berge die Gefahr, dass eine in Jahren gewachsene Freundschaft zerbrechen könne. Dieses Risko wolle er nicht eingehen.


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Ich höre mich widersprechen, sichere ihm meine volle Unterstützung zu und merke zugleich, dass ich gut reden habe. Mein Widerspruch geht kein Risiko ein. Er müsste es ja tun.

Man muss nicht alles sagen. Es gibt in unserer Gesellschaft einen Authentizitätswahn, der beklemmen kann. Die päpstliche Kurie in Rom hatte im 17. und 18. Jahrhundert in kniffligen Situationen die Formel „nihil esse respondendum“ parat, man solle einfach gar nichts sagen. Nicht alles zu sagen ist keine Lüge, sondern womöglich ein Gebot der Klugheit. Dass nach 1945 hierzulande die Schuld an den Naziverbrechen – mit einem Begriff des Philosophen Hermann Lübbe – „kommunikativ beschwiegen“ wurde und Täter und Opfer sich über das Geschehen vielfach nicht austauschten, kann man skandalisieren, man kann es aber auch interpretieren als Vorsichtsmaßnahme zur Rettung persönlicher Freundschaften und des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Sprechverbote und -gebote sind kein gutes Zeichen

Doch alles im Leben hat seinen Preis. Der Preis solch kommunikativen Überschweigens heißt Entfremdung, im Extremfall führt das zu Sprachlosigkeit. Die vielfältigen Sprechverbote und -gebote, die seit einigen Jahren nicht zuletzt an den Universitäten aufgestellt werden („Cancel-Culture“), sind kein gutes Zeichen. Am Ende geht, was eigentlich geschützt werden sollte („Safe Space“), durch Nichtsagen verloren: die Freundschaft. Und die Gesellschaft zerbricht.

In jenem mediterranen Raum, in dem die terroristische Gewalt sich nach dem 7. Oktober 2023 nicht zum ersten Mal entladen hat, wurde in der Antike unter dem Namen Parrhesie ein Konzept der freien Rede entwickelt und gelebt. Wörtlich heißt Parrhesie „Rede von jedem oder über alles“. Es geht darum, dass in bestimmten Situationen Menschen, die normalerweise keine Autorität zu reden hatten, weil sie zum Beispiel niedriger gestellt waren als andere, sich trotzdem freimütig äußern konnten. Hartmut Leppin, ein Frankfurter Althistoriker (und rotarischer Freund), der über die Parrhesie kürzlich ein schönes Buch geschrieben hat, übersetzt den griechischen Begriff mit „Freimut“ – lieber als mit dem für moderne Menschen naheliegenden Begriff der „Redefreiheit“: „Ein altertümliches Wort, aber es passt sehr gut auch zu dem Gedanken, dass man innerlich frei sein soll, um sich parrhesiastisch zu äußern.“

Freimut, so meine Empfehlung, wäre ein passender Ausdruck für die Zumutung, bei Rotary offen zu sprechen. Zum Frei-Mut gehört Mut. Er ist mit Risiken verbunden. Freundschaften können zerbrechen. Die vorausgesetzte „innere Freiheit“ ist zugleich die Maßgabe, dass nicht alles gesagt werden muss. Ein Bekenntniszwang ist nicht vorgesehen; er wäre das Gegenteil von Freimut.

Freimut setzt indessen einen Raum voraus, der Mehrdeutigkeit ausdrücklich zuzulassen bereit ist. Man nennt das heute Ambiguitätstoleranz. Ganz zu Recht ist in den aktuellen Debatten das arrogant-herablassende „Ja, aber“ als Ausdruck der Teilnahmslosigkeit kritisiert worden, wo es einfach nur darum gegangen wäre, klar und eindeutig die Barbarei der HamasTerroristen zu verurteilen und solidarisch mit Israel und den Juden zu sein. Mit Ambiguitätstoleranz sollte das dünkelhaftfeige „Ja, aber“, das sich um eine Stellungnahme drückt, nicht verwechselt werden. Freimut setzt den Willen voraus, die Wahrheit zu sprechen, eine innere Wahrhaftigkeit.

Indessen gibt es nie die eine Wahrheit. Absolutheitsansprüche, das kennen wir aus den Religionen, führen geradewegs in die Intoleranz und landen am Ende bei der Gewalt. Kontextualisieren ist im öffentlichen Diskurs inzwischen in Verruf geraten, weil sich dahinter bei vielen die Absicht zu erkennen gab, den palästinensischen Terror, wenn nicht zu billigen, dann zumindest als verständlich zu plausibilisieren, mithin einen einzigen Kontext verbindlich zu machen. Das ist Unfug: Ambiguitätstoleranz braucht die Offenheit für den argumentativen Wettbewerb sich widersprechender oder ergänzender Kontexte. Max Born, der aus einer großbürgerlichen deutsch-jüdischen Familie stammende Quantenphysiker, nannte den Glauben an eine einzige Wahrheit und daran, deren Besitzer zu sein, „die tiefste Wurzel allen Übels auf der Welt.“ Wer dem zustimmt, müsste keine Angst davor haben, offen zu sprechen.

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Rainer Hank

Rainer Hank, RC Frankfurt am Main-Städel, leitete 17 Jahre das Ressort Wirtschaft und „Geld & Mehr“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Seit 2018 ist er Publizist und Kolumnist für unterschiedliche Medien, seine Kolumne „Hanks Welt“ erscheint jeden Sonntag in der FAS.

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