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Pfadabhängigkeit

Titelthema - Pfadabhängigkeit
© Lucas Bäuml, rawpixel.com/@porpla mana; Illustration: Skizzomat/Marie Emmermann

Zu lange haben wir in Deutschland alte Strukturen konserviert, statt sie disruptiv zu modernisieren. Höchste Zeit für Veränderungen

Rainer Hank01.03.2025

Während der Ölkrise Mitte der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde in Kopenhagen ein Nullenergiehaus gebaut, das „DTH-NullEnergihus“. Es bestand aus zwei durch eine Glaswand getrennten und von Solarpaneelen überdachten Räumen. Das Haus benötigte gerade einmal 2300 Kilowattstunden Energie im Jahr, ungefähr so viel wie sechs moderne Kühlschränke.

Die Transformation hin zu einer fortschrittlichregenerativen Energieversorgung hätte damals schon in Angriff genommen werden können. Warum ist es unterblieben? Warum ist der klimaneutrale Fortschritt eine Schnecke?

In der Wirtschafts- und Politikwissenschaft gibt es zur Erklärung solcher Fortschrittsverzögerungen das Konzept der Pfadabhängigkeit. Technologischer Fortschritt ist die treibende Kraft des wirtschaftlichen Wachstums. In welche Richtung die Forschung gehen könnte, dafür gab es in den 70er Jahren zwei Möglichkeiten: Entweder hin zu regenerativer grüner Technologie (also zum Beispiel zu Solarenergie). Oder aber in Richtung einer Verbesserung der Energieeffizienz der konventionellen fossilen Energie. Ersteres hätte einen Pfadwechsel bedeutet, Letzteres verlieb auf dem bekannten Energiepfad. Die Ingenieure der Automobilindustrie haben sich für den Verbleib auf dem Pfad entschieden – und konnten enorme Effizienzfortschritte präsentieren. Ein typisches amerikanisches Auto fuhr in den 70er Jahren 13 Meilen (20,8 Kilometer) mit einer Gallone (4,55 Liter) Benzin; 1980 schaffte es mit derselben Tankfüllung 20 Meilen (32 Kilometer). Die Autofahrer reagierten darauf rational: Anstatt Energie zu sparen, leisteten sie sich fettere Karossen. Das ist der sogenannte Rebound-Effekt.

Das Konzept der Pfadabhängigkeit beschreibt, wie frühere Entscheidungen oder Strukturen die Zukunft von Technologiesystemen oder Institutionen beeinflussen und warum diese fortbestehen, selbst wenn sie nicht mehr die effizientesten oder optimalen Lösungen darstellen. Für die Beharrungskräfte des eingeschlagenen Pfads gibt es ökonomische, politikwissenschaftliche und psychologische Gründe. Ökonomisch geht es um die sogenannte Substitutionselastizität, grob gesagt also um die Transformationskosten beim Wechsel auf einen anderen Pfad. Heute scheint der Wechsel ins Regenerative einfacher zu sein als vor 50 Jahren. Politikwissenschaftlich wird der einmal eingeschlagene Pfad von stark vermachteten Beharrungskräften bestimmt. Starke Gewerkschaften fürchten Lohn- und Qualifikationseinbußen der von ihnen organisierten Beschäftigten; Ingenieure „mit Benzin im Blut“ verachten die aus ihrer Sicht unterkomplexen Batterieantriebstechniken. Psychologisch liegt auf der Hand, dass man sich das Bekannte besser vorstellen kann als das Neue. Alles zusammen wird zur „Lock-in-Falle“. Einen Pfad zu verlassen, ist extrem schwierig, auch wenn Alternativen existieren.

Konsequenterweise richtet sich die Wirtschaftspolitik auf den Bestandsschutz aus. Deutschland lebt immer noch von den Sprunginnovationen der Gründerzeit, von vor 140 Jahren. Pfadabhängig die alten Strukturen zu konservieren, statt disruptiv zu modernisieren – das ist der Kern der derzeitigen Malaise des deutschen Standorts.

Rainer Hank

Rainer Hank, RC Frankfurt am Main-Städel, leitete 17 Jahre das Ressort Wirtschaft und „Geld & Mehr“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Seit 2018 ist er Publizist und Kolumnist für unterschiedliche Medien, seine Kolumne „Hanks Welt“ erscheint jeden Sonntag in der FAS.