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Sport und Menschlichkeit vereint
Das mustergültige Verhalten von Gottfried von Cramm sollte Grund genug sein, ihn als Vorbild zu nehmen – auch für die heutige Generation an Tennisstars.
Ich wurde gebeten, etwas zu und über Gottfried von Cramm zu schreiben. Warum ist er als Vorbild, als Legende nicht mehr präsent in den Köpfen der Deutschen? Auch nicht bei den Fans und dem ambitionierten Tennisnachwuchs weder in unserem Land noch über unsere Grenzen hinaus?
Es ist nicht einfach, über jemanden zu schreiben, den man nicht persönlich gekannt hat, sondern nur aus Büchern und Erzählungen anderer. Und auch eine Begegnung mit einem Zeitgenossen Gottfried von Cramms konnte mir nur einen kleinen Einblick geben, wie er seinerzeit wahrgenommen und verehrt wurde: Nach meinem Wimbledonsieg 1991 kehrte ich 1992 nach London zurück und traf bei meinem ersten Gang in die Kabine auf Fred Perry, einen der ganz Großen aus der Zeit von Cramms und einen der Größten unseres Sports. Er kam auf mich zu und gab mir die Hand. Ich war ein junger Kerl und wusste nicht genau, wie ich ihn ansprechen sollte. In der Welt des Sports sind wir zwar wie eine große Familie und nennen uns oft beim Vornamen. Aber hier stand jemand vor mir, vor dem ich einen so großen Respekt hatte, dass ich ihn mit Mr. Perry ansprach. Er sagte mir, wie sehr er meinen Sieg im Jahr zuvor genossen hatte und wie sehr ihn mein Spiel an das von Gottfried von Cramm erinnerte – die Leichtigkeit und Eleganz. Und dass von Cramm einer der größten Spieler war, den er kannte. Ich war und bin immer noch überwältigt von dem Lob und dem Vergleich mit einem der größten Tennisspieler aller Zeiten.
Die Größe Gottfried von Cramms beruhte nicht ausschließlich auf seinen Erfolgen – es gab Spieler, die erfolgreicher waren als er. Jedoch schaffte er es, Sport und Menschlichkeit zu vereinen. Er wurde respektiert für seine Eleganz und seine sportlichen Fähigkeiten auf dem Platz. Geliebt wurde er jedoch für sein mustergültiges Verhalten sowohl auf als auch außerhalb des Platzes. Donald Budge, der große amerikanische Spieler, sagte über von Cramm: „The finest sportsman of all time in any sport.“
Dies sollte eigentlich Grund genug sein, sich diesen besonderen Menschen als Vorbild zu nehmen. Aber die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen Werte und Normen. Heute zählen im Sport nur Erfolge, Ergebnisse und Rekorde. Wir sehen das besonders im Verhalten der drei großen Tennisspieler unserer Zeit: Novak Djoković, Rafael Nadal und Roger Federer. Djoković gibt in Interviews offen zu, dass er dafür spielt, um Rekorde zu brechen. Dies kann man ihm nicht zum Vorwurf machen. Aber aus meiner Sicht haben er und auch andere nicht verstanden, worum es im Sport darüber hinaus geht. Es wird so wenig über das Verhalten der Topspieler neben dem Platz gesprochen, ihre Funktion als Vorbild außerhalb des Platzes spielt oftmals keine Rolle. Die Prinzipien, welche sie als Menschen verkörpern, sind mir zumindest nicht bekannt. Auch gibt es gewisse Verhaltensweisen, die oft nur für die Medien gespielt sind.
So habe ich einmal Roger Federer für die BBC interviewen dürfen und ihn gefragt, wie er mit positiven und negativen Schlagzeilen in den Zeitungen während des Turniers in Wimbledon umgeht. Er antwortete mir darauf, dass er keine Zeitungen lese und deswegen auch nicht wisse, was geschrieben werde. Einen kurzen Moment später war ich in der Umkleidekabine und sah Roger auf einer Bank sitzen. Neben ihm lag ein dicker Stapel von Presseartikeln der vergangenen Tage. Was ich damit zum Ausdruck bringen will, ist, dass die Spieler heute Teil einer großen Maschinerie sind, die sie lenkt und beeinflusst. Und dass sie sich, bedingt durch diverse Einflüsse, anscheinend nicht trauen, zu sich selbst zu stehen und Stärken und Schwächen als Menschen zu offenbaren. Gottfried von Cramm war da anders. Er spielte Tennis in einer Zeit, die alles andere als einfach war. Er kam aus sehr gutem Haus und hatte nur eine Motivation: Er wollte der beste Tennisspieler werden. Das war sein Traum. Nicht der Ruhm, nicht die Medien, nicht das Geld und nicht die Aufmerksamkeit haben ihn angetrieben. Er wollte nicht den Sieg um jeden Preis. Ihm war es wichtiger, fair und schön zu spielen, auch wenn dies bedeuten konnte zu verlieren. Allein diese Einstellung sollte für viele Jugendliche ein Vorbild sein. Sich zu hinterfragen, warum tue ich das, was ich tue? Warum spiele ich Tennis? Warum will ich auf die Tour gehen?
Von Cramm verkörperte etwas, das mir auch sehr eigen ist: Es geht immer darum sich zu verbessern, und natürlich darum, die Besten zu schlagen. Aber dabei darf man seine Persönlichkeit und seine Prinzipien nicht außerhalb des Tennisplatzes lassen. Und dieses Gefühl habe ich bei der heutigen Generation mehr denn je. Natürlich gibt es Ausnahmen, die wichtig für den Sport sind, aber davon gibt es viel zu wenige. So können wir alle, auch ich, heute noch sehr viel von Gottfried von Cramm lernen.
Es war vor allem sein Verdienst, Tennis in Deutschland populär und gesellschaftsfähig zu machen. Turniere waren sportliche Wettkämpfe, aber vielmehr waren sie auch gesellschaftliche Ereignisse. Größen aus Wirtschaft, Politik und Kunst kamen zusammen und sonnten sich in der Anwesenheit der erfolgreichen Sportler. Es waren Momente für soziale Kontakte und um Feste zu feiern. Von Cramm war sich dessen bewusst und hat diesen Aspekt selbst auch genossen. Heutzutage schafft es ein Turnierveranstalter kaum, einen Teil der Spieler zu einer Spielerparty zu bekommen. Denn die Spieler sehen es eher als Belastung und Verpflichtung an denn als Chance, etwas an Sponsoren und Menschen zurückzugeben, die es ihnen ermöglichen, ihren Sport als Beruf auszuüben.
Auch wünschte ich mir, dass sich der Deutsche Tennis Bund der Person Gottfried von Cramms wieder bewusst wird und vor allem dessen, wofür er stand und noch immer steht. Denn aus meiner Sicht ist auch dem Verband entfallen, dass es im Sport vor allem um Ehre, Anstand, Loyalität und Respekt gehen sollte. Tugenden, die es der Jugend zu vermitteln gilt. Und Gottfried von Cramm, der dabei half, den DTB nach dem Krieg wieder aufzubauen, kann auch hier ein großes Vorbild sein.
Es geht nicht darum, den jungen Menschen Gottfried von Cramm als das eine Vorbild zu vermitteln. Dafür ist seine Zeit vielleicht schon zu lange her. Aber es wäre aus meiner Sicht wichtig, aufzuzeigen, dass es Werte im Sport und auch im Leben gibt, für die es sich als Einzelner zu kämpfen lohnt. Dass man damit (trotzdem) Erfolg haben kann, dafür steht Gottfried von Cramm. Ich hätte Gottfried von Cramm so gerne kennengelernt und mich mit ihm austauschen wollen. Ich glaube, wir hätten uns gut verstanden. Nicht zuletzt, weil uns beide der Satz über dem Eingang zum Center-Court von Wimbledon sehr beeinflusst hat, der dazu aufruft, sich sowohl im Sieg als auch in der Niederlage gleichermaßen zu verhalten – eine Maxime für das Leben:
„If you can meet with Triumph and Disaster / And treat those two impostors just the same.“
Michael Stich, Weltmeister, Davis-Cup-Sieger, Olympiasieger im Doppel und der Triumph auf dem heiligen Rasen in Wimbledon: Michael Stich kann auf eine außergewöhnliche Karriere zurückblicken.
Foto: Imago Images/Sven Simon