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Titelthema

„Staatsfreiheit“ und Selbstorganisation

Zu den Vorbildern der Genossenschaftsbewegung gehörten im 19. Jahrhundert unter anderem romantische Vorstellungen vom mittelalterlichen Zunftwesen und germanische Rechtstraditionen wie der Allmendegedanke.

Michael Stolleis01.03.2018

Mit der Zerschlagung des Feudalregimes (abolition du régime féodal) in der Nacht des 4. August 1789 schien in Frankreich das Ancien Régime schlagartig beendet. Leibeigenschaft und bäuerliche Hörigkeit, Lehenbindungen und unveräußerliche Familienstammgüter, Abgaben an Geistlichkeit und Adel sollten ebenso verschwinden wie alle anderen Bindungen des Individuums. 1791 untersagte die Nationalversammlung mit der Loi Chapelier genossenschaftliche Zusammenschlüsse von Arbeitern und Handwerkern, welche Mindestlöhne forderten. 1799 untersagte auch das englische Parlament derartige Vereinigungen mit der Begründung, sie seien „unlawful“. Tatsächlich waren sie den Kräft en hinderlich, die in der Lage waren, Löhne und Preise zu bestimmen. So brach sich der Wirtschaftsliberalismus Bahn. Die Parole allseitiger „Freiheit“, so schön sie klang, kennzeichnete auch das mater ielle Interesse des aufsteigenden Kapitalismus und der Industriellen Revolution. Aus unf reien Bauern wurden vielfach ebenso unfreie Industriearbeiter und Landarbeiter, denen nun auch noch die alten Solidareinrichtungen weggebrochen waren.

Auflösung alter Strukturen
In Deutschland lief dieser Prozess zeitversetzt und abgeschwächt. Es gab keinen Nationalstaat, sondern ein von Preußen und Österreich dominiertes Konglomerat von Einzelstaaten, von denen sich die einen zu modernisieren suchten, etwa die westlichen Provinzen Preußens und Schlesien, Bayern und Baden, während andere mehr oder weniger im Ancien Régime verharrten. Trotz dieser Unterschiede schritt aber überall die Säkularisation von Kirchengut, die Abschaffung der Zünfte, Genossenschaften und Innungen der Handwerker, der regional zersplitterten Grundabgaben und der adeligen Fideikommisse voran, wenn auch in längeren Zeiträumen. Der Wirtschaftsl iberalismus samt Freihandel ohne Zollschranken fasste erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts wirklich Fuß. Zu ihm gab es aber schon seit 1800 Gegenströmungen, die sich gegen den Individualismus und das Freiheitsstreben der Aufklärung richteten. Romantik und Restauration verklärten Minnesang und Rittertum, mittelalterliche Religiosität, Kunst und Handwerk.

Dadurch erhielten auch die alten Seefahrer­, Handels­ und Pilgergenossenschaften neuen Glanz. Das war nicht nur Schwärmerei für vorrevolutionäre Zustände, vermischt mit Hoffnungen auf nationale Einheit, sondern auch reale staatliche Interessenpolitik. 1806 führte Preußen, notgedrungen durch die Niederlage gegen Napoleon, die Selbstverwaltung der Städte ein. Preußen brauchte Steuereinnahmen. Sie waren nur zu gewinn en durch die Mobilisierung wirtschaftlicher Energien des städtischen Bürgertums. So wurde die nun wiederhergestellte „Selbstverwaltung“ geradezu ein Zauberwort des 19. Jahrhunderts. Die mündig werdende Gesellschaft drängte auf „Staatsfreiheit“ und Selbstorganisation.


Deutschland wurde das Land vieltausendfacher Vereinsgründungen, die solche Energien bündelten und in gewisser Weise auch Ersatz für die noch schwache politische Partizipation bildeten. „As soziationsfreiheit“ war eines der wichtigen Ziele der bürgerlichen Verfassungsbewegung, aber parallel dazu auch das entscheidende Mittel der sich formierenden Arbeiterschaft. So folgten den politischen und kulturellen Vereinen bald auch solche mit kari tativen und sozialen Zwecken, um ein Gegengewicht gegen die Begleiterscheinungen der Industrialisierung zu bilden. Vor allem die Landwirtschaft brauchte Kredite und wollte sich gegen Preismanipulationen bei Einkauf und Verkauf schützen. Dem dienten Darlehenskassen, Spar­ und Konsumvereine, Einkaufs­ oder Vertriebsgenossenschaften. Ihr Motto war die Selbsthilfe durch Zusammenschluss. Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze­-Delitzsch initiierten und leiteten diese Bewegung.

Es ist typisch für diese speziell deutschen Formen sozialer Organisationen, dass sie das alte Wort „Genossenschaft“ aufgriffen. Abgeleitet wird es vom gemeinsamen „Genuss“ einer Einrichtung wie Gemeindewiese oder Gemeindewald, aber auch eines persönlichen Zusammenhalts, wie ihn Seeleute, Kaufleute oder Bergleute zur Abwehr einer berufstypischen Gefahr brauchten. Unter Genossen galt „Einer für alle, alle für einen“ und „Eintracht macht stark“. Kein Wunder, dass das Wort „Genossen“ dann auch in der Arbeiterbewegung eingeführt wurde, wohl durch Franz Mehring (1846–1919). Inzwischen mag die „Ballonmützenanrede“ der „Genossinnen und Genossen“ etwas verstaubt wirken, aber sie ist eben eine semantische Erinnerung an die Ursprünge der Selbsthilfe durch organisatorischen Zusammenschluss und Bildung von Gegenmacht.

„Regulierte Selbstregulierung“
Nachdem sich die Genossenschaftsbewegung auf breiter Front seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte, wuchs auch der Bedarf an gesetzlicher Regulierung. 1868 wurde im Reichstag des Norddeutschen Bundes das erste Genossenschaftsgesetz verabschiedet, eines jener Gesetze zugunsten der (National­)Liberalen, die Bismarck bald darauf für die Ausdehnung des Norddeutschen Bundes nach Süden, also zur Reichsgründung brauchte. 1889 folgte ein Reichsgesetz für Erwerbs­ und Wirtschaftsgenossenschaften, dessen zunächst enger Zweck später auch auf soziale und kulturelle Ziele erweitert wurde.

Das heutige Netzwerk der öffentlich­rechtlichen Sparkassen, der Ge nossenschafts­ und Volksbanken hat hier seine Wurzeln. Mit der Ausbreitung der „Genossenschaftsbewegung“ veränderte sich auch die Rolle des Staates. Was einstmals in der vorstaatlichen Zeit des Mittelalters entstanden war, wurde nun durch den modernen Verfassungsstaat beaufsichtigt und begrenzt. Die Selbstverwaltung der Städte und Gemeinden, die Autonomie der Hochschulen, der Kirchen, die berufsständischen Organisationen etwa der Notare, Anwälte und Ärzte, die als „Handwerkskammern“ wiedererstandenen Zünfte der Handwerker, schließlich die neue Selbstverwaltung der bismarckschen Sozialversicherung und die privatrechtlichen Technischen Überwachungsvereine (TÜV) – alle erfuhren sie Reglementierung und Einhegung durch das „für alle geltende Gesetz“.

Der moderne Staat, wie man damals sagte, garantierte Freiheit, aber nicht Willkür. Er beschnitt Freiheiten, um die Freiheit zu erhalten. In der historischen Forschung hat sich dafür die Formel „Regulierte Selbstregulierung“ durchgesetzt. Das Verhältnis zum Staat Sie drückt auch aus, was der große „spätromantische“ Rechtshistoriker Otto von Gierke (1841–1921) in seinem vierbändigen „Genossenschaftsrecht“ (1868, 1873, 1881, 1913) entwickelte, nämlich die prinzipi elle Spannung zwischen dem freiwilligen Zusammenschluss von gleichberechtigten Genossen auf der einen und der staatlichen Herrschaft, die das Ganze regulieren sollte, auf der anderen Seite. Gierke war deutschrechtlicher „Germanist“, ursprünglich ein Liberaler, der sich gegen einen einseitigen Etatismus richtete, der Grundrechte befürwortete und insgesamt einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus suchte.

Während er später immer konservativer wurde, akzentuierten seine Schüler Hugo Preuß und Hugo Sinzheimer die linksliberale Variante des Genossenschaftsgedankens. In welche Richtung das Pendel bei der Abwägung zwischen freiheitlichem Gewährenlassen und gesetzlicher Regulierung ausschlägt, ist eine Frage, die auch unseren Alltag bewegt. Basisdemokratie und freiheitliche Selbsthilfe soll nicht in egoistische Selbstbedienung, staatliche Kontrolle nicht in kleinkarierte Bevormun dung umschlagen. Der Wunsch liberal verfasster Gesellschaften zur Selbstorgani sation ihrer eigenen Angelegenheiten ist in jedem Fall ein hohes schützenswertes Gut. Das Grundgesetz von 1949 trägt diesem Wunsch Rechnung, indem es, wie in der Frankfurter Paulskirchenverfassung von 1849 (Art. 162), festlegt: „Die Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden“ (Art. 9 Abs. 1 GG). Dort hat auch die Tarifautonomie der genossenschaft lich organisierten Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände ihren Platz (Art. 9 Abs. 3 GG).

Michael Stolleis
Prof. Dr. Michael Stolleis ist ein deutscher Jurist und Rechtshistoriker. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2006 war er Professor für Öffentliches Recht und Rechtsgeschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von 1991 bis 2009 war er Direktor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte. 2015 erschien „Margarethe und der Mönch. Rechtsgeschichte in Geschichten“ (C.H. Beck).

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