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Die Unrechtsstaats-Debatte aus rechtshistorischer Sicht

Die DDR und ihre Justiz

25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer diskutiert die gesamtdeutsche Öffentlichkeit über die Frage, ob die Deutsche Demokratische Republik ein Unrechtsstaat war oder nicht. Während die einen für ihre Bewertung die Struktur des Staates zugrundelegen, betonen andere, dass auch die totalitäre Gesellschaft private Nischen hatte. Die Beiträge dieses November-Titelthemas widmen sich wichtigen Aspekten der Debatte.

Michael Stolleis14.11.2014

Die jüngst wieder aufgeflammte Debatte, ob die DDR ein „Unrechtsstaat“ gewesen sei, ist eine politische Auseinandersetzung mit Mitteln der Semantik. Wer Wählerstimmen in den Bundesländern auf dem Gebiet der ehemaligen DDR sammeln will, lehnt das Wort „Unrechtsstaat“ ab oder relativiert es. Die Argumente sind bekannt: Die DDR sei mit dem klassischen „Unrechtsstaat“ des Nationalsozialismus nicht zu vergleichen, Gesetz und Ordnung seien respektiert worden (wenn auch mit Ausnahmen, wie etwas leiser hinzugesetzt wird), geherrscht habe die „sozialistische Gesetzlichkeit“, gewissermaßen eine parteiische Unparteilichkeit, also irgendwie doch ein „Rechtsstaat“, aber keiner im Sinn des kapitalistischen Westens. Wer aber in der DDR unter Partei- und Behördenwillkür gelitten hatte, wer von Haus und Hof vertrieben worden, wer gar Häftling in Bautzen oder Hohenschönhausen gewesen war oder wessen Angehörige am „antifaschistischen Grenzwall“ zu Tode gekommen waren, konnte und kann dies nur mit Kopfschütteln zur Kenntnis nehmen. Die Debatte hat absurde Züge angenommen, vor allem weil offenbar „Rechtsstaat“ und „Unrechtsstaat“ von beiden Seiten als bare Münze genommen werden.

Begriffsklärung

Versucht man, die Begriffe zu entwirren, gibt es nur einen Weg, den der Historisierung. Das Wort „Rechtsstaat“ ist um 1800 im Umkreis der Philosophie Kants und mit politischer Spitze gegen den Absolutismus entstanden. Assoziiert wurden mit diesem Wort: Bindung von Verwaltung und Justiz an das vom Staat selbst gesetzte Recht, Gewaltenteilung, persönliche und sachliche Unabhängigkeit der Richter. Im Laufe der folgenden zweihundert Jahre kamen dann noch hinzu: die Garantie staatsfreier Räume durch Grundrechte, ja eine Pflicht des Staates, durch Intervention Entfaltungsräume für Grundrechte zu schaffen, Vertrauensschutz und ein Verbot der Rückwirkung belastender Gesetze, der elementare Grundsatz der Verhältnismäßigkeit staatlicher Eingriffe sowie umfassender Rechtsschutz. Dies alles ist in Deutschland während des 19. und 20. Jahrhunderts durch Wissenschaft und Praxis, zuletzt vor allem durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, ausbuchstabiert und zum Inhalt des Begriffs „Rechtsstaat“ geworden. Dieser Inhalt ist geschichtlich gestaltet und wird sich weiter verändern. Er war stets eine Antwort auf aktuelle Bedürfnisse der Menschen und auf die Unterdrückung der Schwächeren durch die Stärkeren.

„Unrechtsstaat“ war hierzu die begriffliche Umkehrung, in Umlauf gekommen durch die Schockerfahrung der Diktatur des Nationalsozialismus mit ihren bis dahin unvorstellbaren Menschheitsverbrechen. Für den Nationalsozialismus und den ihm jedenfalls an Opferzahlen ebenbürtigen Stalinismus verwendete man seit den fünfziger Jahren die superlativische Formel „Totalitarismus“, deren verwirrende Vorgeschichte (Carl Schmitt: „total aus Schwäche“ negativ für die Weimarer Republik, Ernst Forsthoff „Der totale Staat“ positiv für den frühen Nationalsozialismus, Joseph Goebbels „totaler Krieg“) hier nicht ausgebreitet werden kann. Gemeint waren perfekte Repressionssysteme, die den Unterschied zwischen Bürger und Staat, privat und öffentlich auszulöschen und alles zu einer diktatorisch geführten Einheit zu verschmelzen suchten und die sich in ständigem Kampf gegen innere und äußere Gegner (meist Konterrevolutionäre genannt) befanden.

Derartige perfekt funktionierende „totale“ Staaten hat es freilich nie gegeben, weder im Nationalsozialismus noch im Stalinismus oder in den heutigen Diktaturen auf der ganzen Welt. Immer und überall gab es Rückzugsgebiete, Enklaven, repressionsfreie Nischen, Widerständiges bei Einzelnen, im Staatsapparat selbst, bei Wissenschaftlern und Künstlern. Dennoch gab man dem Ganzen einen politisch gefärbten Namen: Tyrannis, Diktatur, totaler Staat oder Unrechtsstaat.

Doktrin vor Recht

Bezogen auf die DDR sollte man den ins Absurde führenden Streit um das Wort „Unrechtsstaat“ beiseitelassen und sich der historischen Wirklichkeit von 1945 bis 1990 stellen. Vor allem die Ausgestaltung des Gerichtswesens kann Auskunft darüber geben, wie der aus der sowjetischen Besatzungszone hervorgegangene deutsche Staat funktionierte. Nachdem durch die Zwangsvereinigung von SPD und KPD die SED entstanden und sich durchgesetzt hatte, begann man mit dem systematischen Ab- und Umbau der traditionellen Struktur von Demokratie und Rechtsstaat. Auf allen öffentlichen Ebenen herrschte nun die Partei, die immer Recht hatte. Das Mehrparteiensystem verkam zur Fassade, bot aber Nischen für diejenigen, die nicht in die SED eintreten wollten. Die Grundidee des Parlamentarismus war damit erledigt. Von nun an gab es nur noch Akklamation der von der SED kontrollierten „Massenorganisationen“.

Der Föderalismus wurde 1952 beendet, ebenso die Gewaltentrennung im Sinn einer mäßigenden Balance der verschiedenen Erscheinungsformen der Staatsgewalt. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die ein Prüfstein des Rechtsstaats gewesen war, weil sie dem Bürger eine Klagemöglichkeit gegen die Staatsmacht geboten hatte, verschwand ebenfalls 1952. Die später von Ulbricht eingeräumte Möglichkeit der „Eingaben“ konnte sie nicht wirklich ersetzen. Eine Kommentierung der noch traditionell gehaltenen Verfassung von 1949 wurde unterbunden. Ein Verfassungsgericht gab es nicht, deshalb auch nicht die im Westen so populär gewordene Verfassungsbeschwerde für „jedermann“.

1958 verschwand nach der Babelsberger Konferenz, die Ulbricht zur Ausmerzung liberaler Restbestände und zur Disziplinierung seiner Kader nutzte, auch das Verwaltungsrecht. Es galt als Residuum liberalen, bürgerlichen Denkens. Soweit man es dennoch in der Praxis brauchte, wurde es in „Leitungsrecht“ umbenannt. Zivil-und Strafgerichtsbarkeit standen unter der Leitlinie der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ (Hilde Benjamin), mit deren Paradoxie das Problem bewältigt werden sollte, die Richterschaft an die eigene neue Gesetzlichkeit zu binden, sie zugleich aber fähig zu machen, „sozialistisch“ zu urteilen, also entlang der stets neu justierten Parteilinie. Wie das im Einzelnen bei Streitigkeiten um Eigentum, Arbeit, Familiendinge und im Strafrecht funktionierte, kann in dem ausgezeichneten Buch der deutsch-amerikanischen Rechtssoziologin Inga Markovits nachgelesen werden (Gerechtigkeit in Lüritz. Eine ostdeutsche Rechtsgeschichte, München 2006).
SED-Staat und Staatssicherheit arbeiteten arbeitsteilig. In den politisch leichtgewichtigen Rechtsfällen des Alltags entschied die Justiz, und sie nahm dabei sogar menschliche, fürsorgliche Züge an, wie überhaupt das Kennzeichen des SED-Staats der einer wohlwollenden, aber bei Widersetzlichkeit sofort drohenden Erziehungsdiktatur war. Die von der „Staatsmacht“ eingesetzten Mittel reichten vom guten Zureden bei „Bummelei“, dem Einsatz betriebsinterner Ermahnungen für „Störenfriede“ über den schärferen Zugriff beim „Rowdytum“ bis zum Haftbefehl bei Republikflucht und zum Schuss an der Grenze. Wo der Herrschaftsanspruch des Staates durchsetzbar war, blieb die „Staatssicherheit“ unsichtbar, aber sie griff ein, wo es inopportun schien, öffentlich zu handeln. Das Codewort hierfür waren „tschekistische Maßnahmen“. Alle Insider der Stasi wussten, was damit gemeint war.

Nimmt man dies alles zusammen, die Abschaffung des mäßigenden Föderalismus, die Aufhebung der Gewaltentrennung und das Ende der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die Unterdrückung der liberalen Elemente des Verwaltungsrechts, die Durchsetzung eines politisch geschulten und kontrollierten Richtertums, ganz zu schweigen von der fehlenden Verfassungsgerichtsbarkeit, dann war die DDR auf keinen Fall ein klassischer „Rechtsstaat“ in dem Sinne, wie das Wort zwischen 1800 und 1932 in Deutschland sowie nach 1945 im Westen gebraucht wurde. Ihre Verantwortlichen haben keinen Holocaust auf dem Gewissen, aber sie haben sowohl elementare politische Freiheitsrechte als auch den Schutz der Privatheit massenhaft verletzt, haben Unschuldige vertrieben oder ins Gefängnis gebracht, bespitzelt und ihren Lebensweg behindert. Ihre Politiker begannen als Opfer des Nationalsozialismus, aber auch als autoritäre Kommunisten, die den liberalen Rechtsstaat als bourgeoise Alibiveranstaltung diskreditierten.

Dass sich ihre politischen Enkel, heute meist in der Linkspartei, gegen die Bezeichnung „Unrechtsstaat“ sträuben, ist mit Blick auf ihre Klientel leicht zu durchschauen. Es ist nicht mehr als ein taktisches Wortspiel. Als historische Aussage taugt es nicht.

Michael Stolleis
Prof. Dr. Michael Stolleis ist ein deutscher Jurist und Rechtshistoriker. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2006 war er Professor für Öffentliches Recht und Rechtsgeschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von 1991 bis 2009 war er Direktor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte. 2015 erschien „Margarethe und der Mönch. Rechtsgeschichte in Geschichten“ (C.H. Beck).