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Tapfere Schotten?

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Zeremonie zum 20. Jahrestag der Dezentralisierung des schottischen Parlaments in Edinburgh am 29. Juni 2019: Nicola Sturgeon beobachtet die Übergabe der schottischen Krone an das schottische Parlament. © Jeff J. Mitchell/Reuters/Picture Alliance

Wollen die Schotten das Vereinigte Königreich wirklich verlassen? Das Herz sagt Ja, doch der Kopf sagt Nein. Ein Stimmungsbild

Katie Wood01.01.2022

In diesen Tagen traue ich mich nicht, bei Dinnerpartys den Mund aufzumachen. Die Gäste sind gespalten in diejenigen, die für die Unabhängigkeit Schottlands sind, und diejenigen, die meinen, dass wir im Vereinigten Königreich bleiben sollten. Beide Seiten sind gleichermaßen leidenschaftlich, und die sich daraus ergebende Pattsituation sorgt für unangenehme Gespräche, wenn die höfliche Dinnerparty-Konversation in die Politik abgleitet, was meistens der Fall ist.


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Die im Ausland als „Braveheart“ bezeichnete Ansicht, dass die Schotten einen uralten Groll gegen die Engländer hegen, ist weitgehend überholt. Heutzutage gibt es mehr Meinungsverschiedenheiten zwischen London und dem Norden Englands als zwischen Schottland und England.

Der eigentliche Groll besteht zwischen den Schotten selbst, die sich fast zu gleichen Teilen in „Unionisten“ und „Nationalisten“ aufteilen. Obwohl es den Anschein hat, als gäbe es einen brennenden Wunsch nach Unabhängigkeit – angeheizt durch die anhaltenden Wahlerfolge der Scottish Nationalist Party (SNP) –, fragen sich die Menschen seit Monaten, wohin das alles führen soll.

Kein Mandat für zweites Referendum

Seit den schottischen Parlamentswahlen im vergangenen Mai hat sich die Erste Ministerin Nicola Sturgeon erstaunlich ruhig zu ihrem Referendum geäußert. Trotz der Aufregung darüber, dass der Brexit „alles verändert“ hat, zeigen Umfragen jetzt, dass die Unterstützung für die Unabhängigkeit fast wieder da ist, wo sie war, als die SNP das Referendum vor sieben Jahren verlor. Ja, es gab einen leichten Auftrieb für die SNP, als Schottland mitgeteilt wurde, dass es die EU verlässt. Wir wurden in den Brexit hineingezogen, und nur zwei von fünf Schotten wollten ihn. Also gab es viel Wut und Frustrationdarüber, dass wir uns dem Dekret von Westminster beugen mussten, dass das gesamte Vereinigte Königreich einen Alleingang macht. Trotzdem wurde Schottland im Jahr 2020 zusammen mit dem Rest des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union entlassen.

Seitdem ist jedoch viel passiert, und ein Austritt Schottlands aus der politischen Union, dem Binnenmarkt und der Währungsunion des Vereinigten Königreichs ist alles andere als ein Selbstläufer.

Im Oktober 2020 hatten die Befürworter der Unabhängigkeit einen Vorsprung von acht Prozent, was auf den Eindruck zurückzuführen war, dass die schottische Regierung die Covidpandemie besser in den Griff bekommen hatte als Westminster, und außerdem begannen sich einige der unangenehmen Nebenwirkungen des Brexit zu manifestieren. Doch dann haben der zwischenzeitliche Erfolg der von der britischen Regierung durchgeführten Impfungen und größere Spaltungen innerhalb der schottischen Nationalistenbewegung die Unterstützung geschmälert.

Der Fall der sexuellen Belästigung durch den ehemaligen SNP-Vorsitzenden Alex Salmond rückte in den Vordergrund; Sturgeons Bunkeransatz bei der Politikgestaltung und eine Spaltung innerhalb der Partei in Bezug auf die Reform der schottischen Gesetze zur Geschlechteranerkennung waren alles Gründe für die Kluft zwischen denjenigen in der Partei, die der Meinung sind, dass die Unabhängigkeit der einzige Kampagnenschwerpunkt der Partei sein sollte, und denjenigen (wie Sturgeon), die eine Einigung mit Westminster, der EU und sogar Washington und der weiteren Weltgemeinschaft wollen, bevor eine Abstimmung stattfindet.

Sturgeon schwor, bis Ende 2023 ein weiteres Referendum über die schottische Unabhängigkeit zu fordern, falls ihre Partei eine Mehrheit im 129 Sitze zählenden Parlament in Edinburgh gewinnen sollte. Zu ihrem Pech hat die SNP bei den Wahlen zum schottischen Parlament im Mai 2021 nur 64 Sitze errungen – einer weniger als die Mehrheit, weshalb sie jetzt auf die linken schottischen Grünen angewiesen ist.

Doch sosehr sich die SNP auch um ein zweites Referendum bemühen mag, sie hat ein ziemlich großes Problem: Das schottische Parlament hat nicht die verfassungsmäßigen Befugnisse, ein solches Referendum einzuberufen. Und selbst wenn die Partei einen Weg finden würde, eine weitere Abstimmung zu erreichen, sind die Schotten dazu bereit? Die meisten Menschen – auch einige SNP-Mitglieder – glauben das nicht.

Beim letzten Mal, als die Schotten mit 55 : 45 für den Verbleib im Vereinigten Königreich stimmten, hieß es in nationalistischen Kreisen, dass eine weitere Abstimmung erst dann stattfinden würde, wenn die Unterstützung für die Trennung 60 Prozent erreicht. Die letzten Dutzend Umfragen zeigen einen Abwärtstrend und einen Durchschnittswert von 44 Prozent in allen Bereichen.

Wirtschaftlich ein Desaster

Der große Stolperstein liegt darin, dass es schwierig ist, die wirtschaftlichen Argumente für die Unabhängigkeit vorzubringen. Tatsächlich versucht es Sturgeon jetzt nicht einmal. Es scheint keine Rolle zu spielen, denn viele Nationalisten wollen die Unabhängigkeit unabhängig von den wirtschaftlichen Argumenten, die gegen sie sprechen. Die SNP hat das wirtschaftliche Argument seit ihrem Manifest von 2014 nicht mehr aktualisiert, und selbst dieser Entwurf basierte auf veralteten Annahmen wie den Einnahmen von fast acht Milliarden Pfund aus dem Nordseeöl oder der Annahme, dass ein abtrünniges Schottland das Pfund Sterling als Währung verwenden dürfte, sodass es keine Grenzstreitigkeiten mit England (dem bei Weitem größten Wirtschaftspartner Schottlands) geben würde. Wie man an der nordirischen Grenze sehen kann, lassen sich diese Probleme nicht einfach wegwünschen.

In einem Bericht der Credit Suisse wurde auf den Aufschlag hingewiesen, den kleine Länder immer für ihre Kreditaufnahme zahlen müssen. Wie würde ein unabhängiges Schottland Geld aufbringen, um seine erheblichen Defizite zu decken, wenn es nicht mehr auf die gebündelten Ressourcen des Vereinigten Königreichs zurückgreifen kann?

Die SNP hatte sieben Jahre Zeit, sich Antworten auf diese Fragen auszudenken, aber sie hat sie immer noch nicht. Ich habe den Eindruck, dass die Unabhängigkeit durchaus machbar ist, aber zu einem hohen Preis. So liegen beispielsweise die öffentlichen Ausgaben in Schottland mit 14.830 Pfund pro Kopf um 1630 Pfund über dem britischen Durchschnitt. Die Steuereinnahmen pro Kopf sind um 308 Pfund niedriger. Wie könnten wir diese Lücke schließen, wenn nicht durch massive Sparmaßnahmen? Obwohl 58 Prozent der Wähler im Alter von 16 bis 34 Jahren für die SNP gestimmt haben, zeigt eine kürzlich erhobene Umfrage, dass die Hälfte von ihnen nicht für die Unabhängigkeit stimmen würde, wenn diese sie zusätzlich 1000 Pfund pro Jahr kosten würde. Gegenwärtig sieht es so aus, als ob die Kosten sogar noch viel höher lägen.

Verwirrt und fassungslos

Bei allen – auch gegenwärtigen – Problemen: Die Pandemie hat gezeigt, welche Vorteile die Zugehörigkeit zur Familie des Vereinigten Königreichs mit sich bringt: Dank gebündelter Ressourcen konnten 407 Milliarden Pfund aufgebracht werden, und es gab eine großzügige Freistellungsregelung. Ein unabhängiges Schottland hätte keine so großzügige Regelung anbieten können. Der schottische Minister, der Konservative Alister Jack, wies darauf hin, dass die britische Regierung während der Pandemie mehr als 900.000 schottische Arbeitsplätze unterstützt und Tausenden von Unternehmen lebenswichtige Kredite und Mehrwertsteuersenkungen gewährt hat. Die schottische Regierung hat mehr als 14,5 Milliarden Pfund an zusätzlichen Mitteln vom britischen Finanzministerium erhalten.

Tony Mackay, der die Weltbank, die Asiatische Entwicklungsbank und die Europäische Kommission berät, hat prognostiziert, dass die von der SNP geplante eigene Währung etwa 20 Prozent weniger wert sein würde als das Pfund. Was bedeutet das für den Durchschnittsschotten? Viele sind verwirrt oder fassungslos. Sicher, die hartgesottenen Nationalisten würden ungeachtet der Einkommenseinbußen und der wirtschaftlichen Unsicherheit weitermachen, aber das „mittlere Schottland“ und vor allem die Schotten mit höherem Einkommen sind weit weniger sicher, ob sie die Unabhängigkeit wollen.

Die Umfragen haben gezeigt, dass die Mehrheit der Schotten die SNP will, aber ob sie auch wirklich gern unabhängig wären, ist fraglich. Die SNP ist in ländlichen Gebieten und bei jungen Leuten am stärksten vertreten, aber wenn man sich in den wohlhabenden Bars von Edinburgh umschaut, wird man kaum jemanden finden, der die Unabhängigkeit will.

Wir sind immer noch eine Nation, in der das Herz Ja sagt, aber der Kopf Nein, und ich persönlich glaube, dass jener sich durchsetzen wird. Durch diese Debatte wird viel Energie von wichtigen Themen wie der erschreckenden Drogensituation in Schottland abgezogen. Ich persönlich habe, wie viele andere auch, das „Neverendum“ gründlich satt.

Katie Wood

Katie Wood ist die wohl bekannteste Reisejournalistin Schottlands. Sie ist Autorin von 39 Büchern und hat für alle großen britischen Zeitungen und Zeitschriften geschrieben. Sie tritt regelmäßig im Fernsehen auf und ist Mitglied der Royal Geographical Society.

Copyright: privat

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