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Tötet nicht die Demokratie!

Titelthema - Tötet nicht die Demokratie!
Wahl zur Bremischen Bürgerschaft im Mai 2019 © Karsten Klama/Visum

75 Jahre Grundgesetz, 35 Jahre Mauerfall, Wahlen in Ostdeutschland und der Präsidentschaftswahlkampf in den USA: Wir haben Ivan Krastev gefragt, wie es um die Demokratie steht

Ivan Krastev 01.11.2024

Läuft Europa Gefahr, sich in den Autoritarismus zu verlieben? Hat es sich bereits infiziert? Und kehrt die Welt der Demokratie westlicher Prägung den Rücken?

Diese Fragen sind überall auf dem alten Kontinent zu hören. Wenn es um die Zukunft der liberalen Demokratie geht, bedeutet Realismus heute, apokalyptisch zu sein. Der russische Präsident Wladimir Putin erklärte 2019 in einem Interview mit der Financial Times, dass die liberale Idee obsolet geworden sei: „Sie ist in Konflikt mit den Interessen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung geraten.“ Als Präsident Xi Jinping im März 2023 Moskau besuchte, verkündete er kühn: „Wir sind jetzt Zeugen von Veränderungen, wie wir sie seit 100 Jahren nicht mehr gesehen haben.“ Damit meinte er nicht nur die globale Machtverschiebung vom Westen zum Osten, sondern auch die weltweite Enttäuschung über die liberale Demokratie und westliche Ideen im Allgemeinen.

Glaubt man Moskau und Peking, so ist die liberale Demokratie am Ende, und der Planet wird von autoritären Kräften übernommen. Aber haben Xi und Putin wirklich recht?

Die beste aller Staatsformen

Die Tatsache, dass so viele Demokratien in Aufruhr sind, ist kein Geheimnis. In den letzten zwei Jahrzehnten hat das Vertrauen der Öffentlichkeit in die demokratischen Institutionen immer mehr abgenommen. Die Zahl der Demokratien auf der Welt ist geschrumpft. Die junge Generation ist diejenige, die am skeptischsten gegenüber den Tugenden der Demokratie ist. Tom Stoppard, ein britischer Dramatiker, hatte recht, als er scherzhaft sagte: „Zählen ist Demokratie, nicht Wählen.“ Wir können also nicht unbesorgt sein, wenn wir sehen, dass selbst in entwickelten Demokratien wie den Vereinigten Staaten umstrittene Wahlen immer mehr zu einem festen Bestandteil des politischen Prozesses werden. Die Kombination aus Polarisierung und Fragmentierung treibt die Demokratien an den Rand des Abgrunds. In meinem Heimatland Bulgarien wurden die Menschen zwischen 2020 und 2024 siebenmal zu den Urnen gebeten, um ein Parlament zu wählen. Es sollte uns also nicht überraschen, dass die Mehrheit der Menschen nach und nach beschlossen hat, zu Hause zu bleiben.

Das Virus heißt Misstrauen, nicht Fanatismus

Aber auch wenn die Krise der Demokratie real und in vielerlei Hinsicht existenziell ist, sind die Berichte über den Tod der Demokratie doch stark übertrieben. Die Welt flieht nicht vor der Demokratie. Das Votum des Volkes, das in freien und fairen Wahlen zum Ausdruck kommt, wird nach wie vor als die einzige legitime Quelle der Macht angesehen. Die Menschen sind nicht bereit, sich selbst des Vergnügens zu berauben, die Bastarde aus dem Amt zu jagen.

Es stimmt zwar, dass viele demokratische Regime in Schwierigkeiten sind, aber warum behaupten die meisten Menschen auf der Welt in Umfragen immer noch, dass die Demokratie die beste oder die am wenigsten schlechte Form der Staatsführung ist? Und warum – wenn die Demokratie angeblich ihre letzten Tage erlebt – drängen autoritäre Herrscher ständig darauf, dass ihre Regime als Demokratien anerkannt werden?

Die Autokratie scheint nicht das Endziel der Menschheit zu sein. Wenn ich über die heutige Welt nachdenke, fühle ich mich an eine Zeile aus Stephen Leacocks NonsensRomanen erinnert: „Lord Ronald sagte nichts; er stürzte aus dem Zimmer, schwang sich auf sein Pferd und ritt wie verrückt in alle Richtungen davon.“ Könnte es sein, dass wir, anstatt uns der Autokratie anzupassen, „wie verrückt in alle Richtungen davongeritten“ sind?

Trotz der vielen Unkenrufe und trotz des Wahlerfolgs rechtsextremer Parteien steht der Faschismus in Europa nicht unmittelbar bevor, und wir leben nicht in den 1930er Jahren. Wir leben in einer zu wohlhabenden, konsumorientierten, geriatrischen und vernetzten Gesellschaft, um in die 1930er Jahre zurückzukehren. Wir wissen auch, wie die 1930er Jahre zu Ende gegangen sind. Anders als vor einem Jahrhundert laufen heute keine Scharen arbeitsloser Ex-Soldaten durch die Straßen der europäischen Großstädte, und Millionen von Menschen sind nicht bereit, für ihre verrückten Führer zu sterben. Europa ist eher von Misstrauen als von Fanatismus infiziert.

Es ist nicht der Autoritarismus, sondern die weltweite Zusammenarbeit zwischen autoritären Staaten und Bewegungen, die auf dem Vormarsch ist. Der Krieg Russlands in der Ukraine hat diese Zusammenarbeit viel deutlicher sichtbar gemacht. In ihrem jüngsten Werk Autocracy, Inc. zeigt Anne Appelbaum überzeugend auf, wie sich Autokraten gegenseitig unterstützen, ermutigen und sogar anhimmeln. Der Aufstieg der autoritären Internationale sollte jedoch nicht mit dem Aufstieg des autoritären Menschen verwechselt werden.

Was uns Sorgen machen sollte, sind die verschwommenen Grenzen zwischen Diktatur und Demokratie. Ein amerikanischer Richter ist dafür bekannt, dass er auf die Frage nach der Beschreibung von Pornografie sagte, er sei zwar nicht in der Lage, sie zu definieren, aber „ich erkenne sie, wenn ich sie sehe“. Der heutige Autoritarismus ist das Gegenteil davon. Obwohl er leicht zu definieren ist, kann es schwierig sein, ihn zu erkennen, vor allem, wenn er sich in unserem Hinterhof befindet. Ist die Türkei eine Demokratie? Ist Ungarn eine Demokratie? Ist Indien eine Demokratie? Mit anderen Worten: Glauben wir, dass es sich dabei um politische Regime handelt, in denen die Machthaber Wahlen verlieren können und nach verlorenen Wahlen ihr Amt aufgeben?

Demokratie braucht Veränderung

In der Flut von Kriegen und wichtigen Wahlen, die wir in diesem Jahr erleben, lautet die entscheidende Frage: Werden die Menschen für ihre fehlerhaften, unvollkommenen Demokratien eintreten, und werden die Demokratien in der Lage sein, international zusammenzuarbeiten, während sie zu Hause so gespalten sind?

Bis jetzt sollten wir hoffnungsvoll sein. In der Ukraine waren die Menschen bereit, für ihre mangelhafte und korrupte Demokratie einzustehen. Sie waren bereit, für ihre Verteidigung zu sterben.

Heute befindet sich die Demokratie in einer Krise, aber die Wahrheit ist, dass die Demokratie in der längsten Zeit ihrer Geschichte skeptisch beäugt wurde. Trotz der Tatsache, dass „Demokratie“ in Westeuropa als Schlachtruf gegen den Sowjetkommunismus diente, war die Skepsis gegenüber der Demokratie im europäischen Konsens des Kalten Krieges tief verwurzelt. Man war der Meinung, dass Demokratien schwach und zerbrechlich seien. Wenn es darum ging, zerstörerische Gegner zu bekämpfen, waren sie nutzlos. Wenn es darum ging, schwierige Entscheidungen über den Einsatz von Gewalt zu treffen, waren sie sowohl zu idealistisch als auch zu zögerlich, um zu handeln. Die demokratische Entscheidungsfindung war polarisierend, manipulativ und anfällig für Demagogie. In den 1970er Jahren wurden die westlichen Demokratien durch Protestpolitik und Terrorismus auseinandergerissen.

Der französische Politiktheoretiker Jean-François Revel brachte 1983, nur sechs Jahre vor dem Fall der Mauer, die Befürchtungen der Generation des Kalten Krieges zum Ausdruck, als er schrieb, dass „die Demokratie sich letzten Endes als historischer Unfall erweisen könnte, als eine kurze Klammer, die sich vor unseren Augen schließt“. Seine Überzeugung, dass der Demokratie zu wenig Anerkennung für ihre Errungenschaften zuteilwird, während sie für ihre Fehler und Versäumnisse einen weitaus höheren Preis zahlen muss als ihre Gegner für die ihren, trieb ihn zu dieser düsteren Einschätzung. Kurz gesagt: Demokratische Regierungen wurden immer noch als schwach und ungewollt schädlich, wenn nicht gar als selbstmörderisch angesehen.

Vorsicht, Selbstmordgefahr!

Das eigentliche Geheimnis der Demokratie ist, dass ihre Schwächen sie auch widerstandsfähig machen. Demokratien sind keine „Zufriedenheitsmaschinen“ und waren es auch nie. Die Tatsache, dass ein Land eine Demokratie ist, bedeutet nicht, dass es gut regiert wird. Gute Regierungsführung ist ein willkommenes, aber keineswegs zwangsläufiges Produkt demokratischer Regierungsführung. Die Befriedigung, etwas gegen ihre Unzufriedenheit unternehmen zu können, ist etwas, das Demokratien ihren unzufriedenen Bürgern bieten. Aus diesem Grund ist Skepsis gegenüber der Demokratie selbst für ihren Fortbestand unerlässlich. Das wahre Dilemma der Demokratien liegt nicht in ihrer mangelnden Leistungsfähigkeit, sondern vielmehr in der Unfähigkeit dieser Systeme, sich selbst zu korrigieren. Das Geheimnis der Demokratie besteht darin, dass die einzige wirksame Art, die Demokratie zu verteidigen, darin liegt, sie zu verändern. Die Änderung ihrer Praktiken und Institutionen. Die Gefahr besteht also nicht darin, dass autoritäre Kräfte die Welt übernehmen, sondern vielmehr darin, dass die westlichen Demokratien Opfer ihres eigenen Pessimismus werden und anfangen, dem Mann zu ähneln, der sich aus Angst vor dem Sterben umgebracht hat.

Der tragische Tod der Weimarer Republik war, wie der Historiker Peter Gay klassisch feststellte, „teils Mord, teils tödliche Krankheit, teils Selbstmord“. Wenn nun viele politische Kommentatoren dazu neigen, einen „Weimarer Moment“ in der europäischen Politik zu befürchten, ist der wichtigste Teil, vor dem wir uns in Acht nehmen sollten, der Selbstmord.

Ivan  Krastev

Ivan Krastev ist Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies und ständiger Mitarbeiter am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien. Er ist Gründungsmitglied des European Council on Foreign Relations und Autor mehrerer Bestseller.

© Nathan Murrell

 

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