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Titelthema

Die Folgen einer tiefen Enttäuschung

Die wachsende Entfremdung zwischen Bürgern und Volksvertretern wirft die Frage nach der Zukunft der parlamentarischen Demokratie auf.

Ivan Krastev 01.09.2017

Als die Filmlegende Cary Grant einmal zu einer seinem Werk gewidmeten Wohltätigkeitsveranstaltung in Hollywood kam, teilte er einer widerspenstigen Dame am Empfang unter Einsatz seines ganzen Charmes mit, dass er seine Eintrittskarte vergessen habe. Ohne aufzublicken, schnitt sie ihm das Wort ab: „Wenn Sie keine Eintrittskarte haben, dürfen Sie nicht hinein.“ „Ich verstehe“, sagte er, „aber . . . ich bin Cary Grant.“ Die Frau blickte zu ihm auf und sprach ihr endgültiges Urteil: „Sie sehen nicht aus wie Cary Grant.“  „Niemand sieht so aus“, antwortete der Schauspieler.

Und er hat recht damit. Im wirklichen Leben sieht niemand aus wie Cary Grant auf der Leinwand – nicht einmal Cary Grant selbst. Die unüberbrückbare Kluft zwischen dem Menschen und der Ikone, zwischen der Realität und dem Ideal ist ein fester Bestandteil unseres Lebens.

So wie Cary Grant nicht aussieht wie Cary Grant, sehen die Demokratien, in denen wir leben, nicht wie Demokratien aus. Doch die Tatsache, dass die real existierenden Demokratien in der Regel unvollkommen sind, war in der Geschichte für uns nie ein Hinderungsgrund, sie zu respektieren, uns ihrer zu bedienen und selbst für sie zu sterben bereit zu sein.

Wie kam es also, dass die Demokratie heute in gewisser Weise das ist, was die Monarchie vor zweihundert Jahren war, nämlich die natürliche Form der Regierung, dass wir jedoch gleichzeitig seit einem Jahrzehnt die Verbreitung einer tiefen Enttäuschung über die Demokratie erleben und viele Menschen bereits die Zukunft der Demokratie infrage stellen? Laut einer jüngsten Studie hat die weltweite Ausbreitung der Demokratie in den letzten fünfzig Jahren zu der paradoxen Wirkung geführt, dass die Bürger in einer Reihe vermeintlich gefestigter Demokratien in Nordamerika und Westeuropa gegenüber ihren politischen Führern kritischer und gegenüber demokratischen Institutionen misstrauischer geworden sind. Aber das ist noch nicht alles. Sie wurden auch zynischer in Bezug auf den Wert der Demokratie als politisches System, haben weniger Hoffnung, mit ihrem Handeln die öffentliche Politik beeinflussen zu können; und ihre Bereitschaft, autoritäre Alternativen zu unterstützen, ist gestiegen.

 

„Korruption“ contra „Populismus“

Die Studie zeigt auch, dass „jüngere Generationen von der Bedeutung der Demokratie weniger überzeugt sind“ und dass „die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich politisch engagieren, geringer“ ist.

Das Vokabular der demokratischen Erfahrung in vielen Teilen der Welt ließe sich auf zwei Wörter reduzieren: Korruption und Populismus. Die Mehrheit der Bürger neigt dazu zu glauben, dass alles, was die Regierung tut, korrupt oder durch die korrupten Interessen der Machthaber erklärbar ist, während Letztere der Meinung sind, dass alles, was die Menschen wollen, Ausdruck schieren Populismus und eines mangelnden gesunden Menschenverstandes ist.

Was hat sich verändert? Warum haben wir unseren demokratischen Institutionen in einer Zeit, als sie vermutlich viel weniger Vertrauen verdienten als heute, mehr vertraut, und warum haben viele in Europa und den Vereinigten Staaten gerade in dem Augenblick, als die Demokratie zum einzigen weltweit gesprochenen politischen Idiom wurde, damit begonnen, die Fähigkeit ihrer demokratischen Ordnungen, dem kollektiven Zweck zu dienen, infrage zu stellen? Ist die Demokratie „eine Krankheit, die sich selbst als Therapie zur eigenen Heilung verordnet“, oder ist das Idiom der Krise einfach die Muttersprache der Demokratie? Sollte uns das jüngste Gerede vom „Tod der Demokratie“, das man im krisengeschüttelten Europa und in den Vereinigten Staaten vernimmt, beunruhigen oder sollten wir es leid sein? Ist es „sogar noch schlimmer, als es aussieht“, wie jüngste Studien zur demokratischen Politik im Westen zu erkennen geben; oder ist es anders, als es aussieht?

Um die Zukunft der Demokratie zu erfassen, sollten wir versuchen, uns eine von sehr unterschiedlichen und widersprüchlichen Entwicklungen zerrissene Welt vorzustellen. Wir sehen den Aufstieg der Protestpolitik, die vom Niedergang der politischen Parteien als Hauptakteure der demokratischen Politik gekennzeichnet ist.

Ein Gedankenspiel: In einem kleinen demokratischen Land ist etwas sehr Seltsames geschehen. Es gab eine Wahl, und bei der Auszählung der Stimmen stellte es sich heraus, dass nur knapp 25 Prozent aller abgegebenen Stimmen gültig waren. Die Partei der Rechten erhielt rund 13 Prozent, die Partei der Mitte rund 9 Prozent und die Partei der Linken rund 2,5 Prozent. Ein paar Stimmzettel waren ungültig, aber alle anderen, rund drei Viertel der abgegebenen Stimmzettel, waren leer und weiß geblieben. Das politische Establishment war zutiefst beunruhigt. Warum hatten die Bürger den Stimmzettel leer abgegeben? Was wollten sie? Wie hatten die „Weißwähler“ dies geplant, und wie war es ihnen gelungen, sich zu organisieren?

Die angestrengten Versuche der Regierung, der Rädelsführer der Weißwahl-Verschwörung habhaft zu werden, endeten in Frustration und Verzweiflung. Es stellte sich heraus, dass weder Ideologen noch Organisatoren hinter den leer abgegebenen Stimmzetteln standen. Es handelte sich auch nicht um eine Verschwörung, da nichts geplant oder vorbereitet war.

Die einzige rationale Erklärung bestand darin, dass die Mehrheit des Volkes gleichzeitig – aber jeder getrennt von allen anderen – auf die Idee kam, einen leeren Stimmzettel in die Urne zu werfen. Daher hatte die Regierung niemanden, mit dem sie verhandeln konnte, es war niemand festzunehmen und es gab auch niemanden, den man zum Ziel von Erpressungs- oder Kooptationsbemühungen machen konnte. Nach einer Woche der Angst führten die Machthaber die Wahl erneut durch. Doch dieses Mal blieben 83 Prozent der Stimmzettel leer.

 

Rebellion mit dem Stimmzettel

Dies ist eine verkürzte Fassung einer Erzählung, die zum ersten Mal in dem 2004 veröffentlichten Roman „Die Stadt der Sehenden“ von José Saramago erschien, die sich bis dahin aber in vielen Teilen der Welt in der einen oder anderen Form immer wieder wiederholt hatte. Etwas Ähnliches wie diese fiktionale „Rebellion mit leeren Stimmzetteln“ ist in vielen Ländern beobachtbar, wo die Menschen lieber auf die Straße als an die Wahlurne gehen, wenn es um die Verteidigung der eigenen Interessen geht.

Die Rebellion mit leeren Stimmzetteln könnte sich heute realistischerweise fast überall in Europa ereignen, da zorniger, aber zielloser Stimmzettelprotest lediglich eine andere Form der „Weißwahl“ ist. Eine Stimmabgabe für die Fünf-Sterne-Bewegung des zum politischen Führer gewordenen Komikers Beppe Grillo in Italien oder überhaupt eine Stimmabgabe für eine der vielen anderen gleichermaßen politisch inhaltsleeren Parteien im Rest Europas kommt letzten Endes der Abgabe eines leeren Stimmzettels gleich.

Wie einem Märchenprinzen ist es der kommunikationstechnischen Revolution gelungen, den schlafenden Traum des Volkes von einer direkten Demokratie aufzuwecken.

Heute sehen die Metaphern des 19. Jahrhunderts mehr und mehr wie halbfertige Werke aus. Als der französische Historiker und Philosoph Ernest Renan im 19. Jahrhundert die Nation als ein „tägliches Plebiszit“ definierte, sprach er wie ein Dichter, doch heute erscheint es als vielversprechendes Projekt, die Existenz der Nation zu „einem täglichen Plebiszit“ zu machen. Tausende Aktivisten irgendwo in Amerika oder Europa arbeiten höchstwahrscheinlich bereits an einem Plan, die bestehenden repräsentativen Institutionen wie das Parlament durch die Instrumente der direkten Demokratie zu ersetzen.

Ein weiteres Gedankenspiel: Stellen Sie sich vor, dass das Volk in einem kleinen demokratischen Land in einer nahen Zukunft beschließen wird, dass am Tag der Einführung des neu gewählten Präsidenten eine Bombe in seinen Körper implantiert wird und die Bombe mit den Smartphones aller wahlberechtigten Bürger verbunden ist. Nach jeder Entscheidung, die der Präsident trifft, sollen die Wähler „ja“ oder „nein“ drücken, um zu signalisieren, ob sie die Entscheidung billigen oder missbilligen. Wenn die Zahl der Nein-Stimmen mehr als drei Mal höher als die Zahl der Ja-Stimmen ist, detoniert die Bombe automatisch. Können Sie sich vorstellen, dass der Präsident dieses Landes nicht an der Stimme der Mehrheit interessiert ist? Nein, aber stimmen Sie zu, dass dieses Land eine Demokratie ist?

 

Die Zukunft der Demokratie

Der Aufstieg der vom Volk gewählten demokratischen Führer, die im Namen des öffentlichen Interesses die Macht in ihren Händen festigen, ist die andere Entwicklung, die wir heute beobachten können. Politikwissenschaftler haben den Begriff Autogolpe (Putsch von oben) geprägt, um eine Situation zu definieren, in der eine demokratisch gewählte Regierung ihre Macht unter Verletzung der Verfassung ausweitet. Wir beobachten solche Entwicklungen heute im östlichen Mitteleuropa.

Während wir also vorhersagen können, dass die Zukunft der Demokratie gehört, wissen wir nicht so genau, wie die Demokratie der Zukunft aussehen wird. Wird es eine repräsentative Demokratie sein, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Macht der Mehrheit verfassungsrechtlichen Restriktionen unterliegt? Wird es eine Art direkter Demokratie sein, die von den neuen Möglichkeiten geformt wird, die sich durch die kommunikationstechnische Revolution eröffnen? Oder wird es ein Mehrheitsregime sein, das durch den Ausschluss der Minderheiten gekennzeichnet ist und von den vom Volke gewählten Führern dominiert wird?

Ivan  Krastev

Ivan Krastev ist Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies und ständiger Mitarbeiter am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien. Er ist Gründungsmitglied des European Council on Foreign Relations und Autor mehrerer Bestseller.

© Nathan Murrell

 

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