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Titelthema

„Too many Geister“

Titelthema - „Too many Geister“
Kindliche Freude: Während einer Bat-Mizwa verkürzen sich vier Jungs in einer Synagoge die Zeit mit Quatschmachen. Mit der Zeremonie erreichen zwölfjährige Mädchen und 13-jährige Jungs (Bar-Mizwa) ihre religiöse Mündigkeit © David Bachar

Deutschland ist für jüdische Menschen bis heute ein Land der ständigen Reibungen. Warum zieht es dann so viele junge Juden ins Land der Mörder ihrer Vorfahren?

Shelly Kupferberg01.05.2023

Bunt ist sie geworden, die jüdische Szene Deutschlands. Was hat sich nicht alles nach dem Fall der Mauer getan! Jüdische Gemeinden erhielten eine Frischzellenkur verpasst – zum einen durch die Migrationsbewegungen jüdischer Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion, die in den 90er Jahren als sogenannte „Kontingentflüchtlinge“ in Deutschland aufgenommen wurden, zum anderen machte der Exodus vieler junger Israelis Anfang der 2000er wiederum eine Stadt wie Berlin zum Hummus-Hotspot und kreativen Pool neuer Festivals, Clubs und Restaurants. Jüdisches Leben in Deutschland zeigt sich heute vielstimmiger, bunter denn je. Während es in den 70er und 80er Jahren im geteilten Deutschland noch eher im Verborgenen stattfand, tritt es heute selbstbewusst und als – mehr oder weniger – selbstverständlicher Bestandteil in Erscheinung. Auch wenn es immer wieder von Anfeindungen und Anschlägen, von Angst und Gewalt flankiert wird.

Mehr oder weniger auch deswegen, weil das Selbstverständliche mit dem langen Schatten der deutschen Vergangenheit immer auch ein Infragestellen mit sich bringt, eine Auseinandersetzung, eine Reibung. Das Leben in Deutschland hält für viele jüdische Menschen eine tägliche Begegnung mit dem, „was war“ und „was nicht mehr ist“, bereit. Mit der Vernichtung. Damit gilt es umzugehen, und das kann und das will nicht jeder. Viele junge Israelis, besonders viele Kreative, hat es in den letzten Jahren in das Land ihrer Vorfahren verschlagen – und das aus den unterschiedlichsten Gründen. Zum einen, weil gerade für Kreative Deutschland viel zu bieten hat und von sich reden macht, weltweit. Zum anderen, weil es oft genau jene dritte Generation ist, die sich für das Leben der Vorfahren zu interessieren anfängt, ihm nachspürt. Diese Entwicklung fand auch in Israel statt, in deren Zuge sich viele von ihnen nach Europa aufgemacht haben – denn das Recht auf einen EU-Pass durch die Herkunftsgeschichte der Vorfahren macht einen Aufenthalt ebendort attraktiv und durchaus erwägenswert. Inzwischen existiert in einer Stadt wie Berlin eine bemerkenswerte Infrastruktur für genau jene: ein hebräisches Berliner Stadtmagazin mit dem Titel Spitz, eine hebräische Bibliothek und Kulturprogramme für Neu-Berliner aus Israel. Sogar eine israelisch-jüdisch-arabische Dichtergruppe hat sich gefunden. Was sie verbindet: der Nahe Osten als Kulturraum, als Landschaft, als Region. Vielleicht lässt sich weit entfernt von der oft unruhigen Heimat unkomplizierter und freier über einen möglichen Frieden dort nachdenken. Über das, was die Menschen verbindet. Und vielleicht wiederum ist es auch das Gefühl, hier in Deutschland an eine Welt anknüpfen zu können, die so weit entfernt für viele von ihnen doch nicht ist: das Leben der Vorfahren, von denen der eine oder die andere möglicherweise noch ein deutsches Wort wie „Mittagsschlaf“, „Apfelstrudel“ oder „Kinderstube“ mit auf den Weg bekommen hat. Oder ein „Hoppe, hoppe, Reiter“ der Großeltern oder den Struwwelpeter. Vielleicht ist es auch einfach nur die Suche nach der eigenen Familiengeschichte, das Interesse für eine versunkene Welt, die im überlebten Nachleben in Israel irgendwie eine Rolle spielte und nun ergründet werden will. Nicht alle von ihnen bleiben allerdings, denn oft kommen sie als Israelis und transformieren sich mit der Zeit in Deutschland zu Juden. Das bleibt bei vielen nicht aus und ist auch mit schmerzlichen Prozessen verbunden, mit einem anstrengenden Dasein, mit: Reibung.


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Das „ewige Dennoch“

Trauer, Flucht, Schmerz, Gewalt, Vertreibung – ja, in sicherlich jeder Familie gibt es genau diese Erfahrungen. Nicht jedoch den Vernichtungsgedanken, der bis heute unfassbar bleibt und eine Überforderung darstellt. Und vielleicht ist es so etwas wie das „ewige Dennoch“, wenn man beschließt, als jüdischer Mensch in Deutschland zu leben. Hitler hat es nicht geschafft! Aber dieses „ewige Dennoch“, es hat seinen Preis – denn die Wege sind gepflastert mit Assoziationen, mit „too many Geister“, wie eine US-amerikanische Jüdin mir einmal sagte, als sie das erste Mal Deutschland besuchte. Ja, sie sprach das Wort „Geister“ aus – nicht etwa „ghosts“. Stimmt, denke ich: Wenn ich heute in Berlin an der Ruine des Anhalter Bahnhofs vorbeiradle, dann denke ich immer daran, dass das der Ort war, an dem meine Großmutter Alice ihre Eltern zum letzten Mal sah, bevor sie 1938 als Jugendliche nach Palästina floh und ihre Eltern glaubten, sie seien schon zu alt, um von Hitler verfolgt zu werden. Sie wollten zu Verwandten nach Polen fahren und schauen, was die Zeit bringt. Alles würde gut werden! Noch ein paar Jahre schrieben sie Alice herzzerreißende Briefe nach Palästina – doch 1942 bricht der Briefverkehr ab. Keine Nachricht mehr aus Lemberg. Sie wurden irgendwo in den Wäldern um Lemberg in einer der vielen Massenerschießungen ermordet. Vernichtet im sogenannten und oft vergessenen „Holocaust by bullets“. Wie lebte meine geliebte, großherzige Omi mit diesem Schmerz?

Überall Spuren der Vergangenheit

Oder wenn ich auf die S-Bahn nahe meines Wohnhauses warte, dann schaue ich auf die Endstationsschilder, die da besagen: „Wannsee“ und „Oranienburg“. Aha, denke ich jedes Mal: Wannsee – da fand die berühmte Konferenz zur „Endlösung der Judenfrage“ statt, dort wurde die Organisation des Massenmords an den europäischen Juden bürokratisch und kryptisch in Nazi-Sprech in einer Sitzung mit 15 hochrangigen Nationalsozialisten beschlossen – danach wurde an dem idyllischen Ort am Wannsee gefrühstückt. So besagen es die Protokolle. Und Oranienburg: Da befindet sich das Konzentrationslager Sachsenhausen. Was wohl die Oranienburger davon hielten?

Gleich bei mir um die Ecke befindet sich eine Apotheke, in der ich kurz noch eine Besorgung mache – am Ausgang registriere ich den historischen Namenszug, der über dem Eingang hängt: „Apotheke am Sportpalast“. Genau gegenüber dieser Apotheke befand sich einst der berühmte Sportpalast, in dem der Propagandaminister der Nazis, Joseph Goebbels, seine berühmte Rede hielt: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Heute befinden sich hier Neubauten, aber der große Bunker war nicht abzureißen, die Neubauten wurden um und über den steinernen Koloss gebaut. „Too many Geister“. Jedes Haus könnte davon ein Lied singen, antwortete ich der US-Amerikanerin damals – vorausgesetzt, es könnte singen.

Es gilt, all diese Geschichten in sich zu verorten, ihnen einen Platz zu geben, ihnen einen Platz zuzuweisen. Man kann sich nicht Tag und Nacht mit diesen Gedanken herumschlagen, so man nicht völlig aus der Fassung geraten will. Aber es gibt die Momente, in denen diese Dinge wieder ganz konkret auftauchen, manchmal auch ganz unverhofft.

Jüdisches Leben in Deutschland – das ist, auch heute noch, ein Leben in ständiger Reibung. Die wiederum ist eine physikalische Größe und kann, wie wir wissen, auch Energien freisetzen, nutzbar werden. Diese Feststellung macht es mir und vielleicht auch anderen jüdischen Menschen in Deutschland an guten Tagen trotz allem auch immer wieder interessant.


 

 

Buchtipp

 

Shelly Kupferberg

Isidor: Ein jüdisches Leben

Diogenes 2022,

256 Seiten, 24 Euro

Shelly Kupferberg
Shelly Kupferberg 1974 in Tel-Aviv geboren, wuchs in West-Berlin auf. Neben zahlreichen Beiträgen für die ARD moderiert sie seit über 25 Jahren Kultur-, Literatur- und Gesellschaftsmagazine, unter anderem für Deutschlandfunk Kultur und rbbKultur.

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