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Titelthema

Wie lebt es sich in Deutschland?

Titelthema - Wie lebt es sich in Deutschland?
Die Neue Synagoge in Berlin ist heute auch ein Zentrum für jüdische Kultur und ein Ort des Erinnerns. © Pixabay

In Deutschland und Österreich leben rund 100.000 Juden und Jüdinnen (Statista 2021). Das Rotary Magazin bringt im Mai ein Heft zur Gründung des Staates Israel heraus und hat einige der hiesigen Juden gefragt: Was bedeutet es für Sie, hierzulande jüdisch zu leben?

26.04.2023

Sharon Adler, Publizistin, Journalistin, Fotografin und Moderatorin, Berlin

Das öffentliche Zünden der Chanukka-Leuchter vor dem Brandenburger Tor und erstmalig 2022 auch vor dem Berliner Abgeordnetenhaus – das jüdische Berlin ist weithin sichtbar. Als Berliner Jüdin freue ich mich über die große Auswahl von Kulturveranstaltungen an tollen neuen, ebenso wie historisch bedeutsamen Orten über die ganze Stadt verteilt. Doch zwischen Feiern, Gedenken und Erinnern findet ein nicht unbedeutender Teil im Alltag von Jüdinnen und Juden aller Generationen hinter Sicherheitskontrollen und unter Polizeischutz statt. Jüdisches Leben in Berlin ist divers und äußerst lebendig. Sicher jedoch ist es sicher nicht.


2023, zeev rosenberg, berlin, israel jude
© Oliver Betke

Zeèv Rosenberg, Hotelier, gebürtig aus Düsseldorf, heute in Berlin lebend

Für jüdische Bürger, die heute in Deutschland leben, gibt es unterschiedliche Meinungen, die von individuellen Erfahrungen, beeinflusst werden. In Deutschland gibt es auch heute noch einen deutlichen (latenten und/oder direkten) Antisemitismus sowie Diskriminierung, welcher das tägliche Leben beeinflusst. Dennoch gibt es auch eine aktive jüdische Gemeinschaft in Deutschland, die sich dafür einsetzt, die jüdische Kultur und Traditionen und das allgemeine jüdische Leben in Deutschland möglich zu machen und zu bewahren bzw. weiterzuentwickeln. Es gibt sicherlich Herausforderungen, generell lebt es sich in Deutschland, als jüdischer Bürger, gut, Dennoch müssen wir die Situation auch immer im Auge behalten. Sobald es im Israelischen/Palästinensischen Konflikt eine Krise gibt, steigt der Antisemitismus direkt.


Henryk Goldberg, Journalist und Autor, Erfurt

Ich bin hier geboren, ich habe immer irgendwie deutsch gelebt. Zum Chanukka-Ball gehe ich mit Kippa, aber ob etwas koscher ist, das ist mir, wenn es schmeckt, nun ja: nebbich.

Dass die Frage nach dem Jüdischsein hierzulande wieder eine größere Rolle spielt, spricht für das Land und seine diskursive Offenheit. Und für den Bodensatz des nie wirklich verschwundenen Antisemitismus, der wieder eklig an die Oberfläche blubbert.

Wie es ist, jüdisch zu leben? Ich weiß nur, wie es ist, in Deutschland deutsch zu leben, umgeben von „Patrioten“ und der Forderung nach einer „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“. Das reicht vollkommen.


2023, vivian kanner, sängerin, schauspielerin
© Jerome Depierre/privat

Vivian Kanner, Schauspielerin und Sängerin, Berlin

Jüdisches Leben in Deutschland 2023 bedeutet: Permanente Polizeipräsenz vor jüdischen Einrichtungen; bedeutet, daß das Tragen jüdischer Attribute in der Öffentlichkeit zu einer Gefahr geworden ist; bedeutet, daß ungehindert „Tod den Juden“ auf der Straße skandiert wird; bedeutet auf die Shoa, den Nahostkonflikt und Klezmer Musik reduziert zu werden; es bedeutet auch als jüdische „Mitbürger*in“ in Deutschland zum 75. Geburtstag Israels befragt zu werden. 

MEIN jüdisches Leben als Bürgerin Deutschlands bedeutet: Tradition, Zusammenhalt und Diversität. 

L‘Chaim ISRAEL Mazel Tov!!


Heinz Nossen, TUS Bar Kochba Nürnberg e.V., Zirndorf

Ich lebe meine Religion und bin in einem jüdischen Sportverein aktiv, der vor 110 Jahren gegründet wurde. In Nürnberg gibt es viel jüdisches Leben, in meinem Heimatort wohnen aber derzeit nur drei jüdische Familien.

Vor Jahrzehnten gab es mal ein Hakenkreuz an meinem Arbeitsplatz, ein andermal Aufkleber und antijüdische Songs. Aber das habe ich öffentlich gemacht. Es hat sich nicht wiederholt, obwohl hier nur 50 Meer weiter ein Neonazi wohnt. Heute lebe ich mit meiner Familie unsere jüdischen Traditionen. Mein Bruder war lange Zeit sogar Vorsitzender der jüdischen Landesgemeinde in Thüringen.


2023, soed yorek, kantor, sänger
© privat

Yoed Sorek, Kantor und Künstler, Frankfurt

In diesem Jahr bin ich – nach elf Jahren – deutscher Staatsbürger geworden und habe nun die doppelte Staatsangehörigkeit, auch wenn ich es bisher nicht geschafft habe, mich von meinem Mickey-Maus-Deutsch zu verabschieden. Dabei geht es nicht nur um Grammatik, sondern auch um kulturelle und soziale Feinheiten. Nun bin ich ein eingebürgerter Gast aus Jerusalem. Ich fühle mich hier wohl und darf Freunde, Gemeindemitglieder und als Sänger auch mein Publikum lieben und spüre deren Liebe ebenso. Es geht mir in Deutschland gut und ich wünsche meinem Heimatland das Wichtigste: Schalom!


Barbara Guggenheim, Vorsitzende des Vereins „Jüdischer Salon am Grindel e.V“, Hamburg

Als Schweizer Jüdin in Deutschland zu leben, wurde mir nicht an der Wiege gesungen. Ich schätze daran, in einem Land zu leben, das sich mit seiner leider unrühmlichen Vergangenheit aktiv auseinandersetzt und freue mich darüber, dass der Jüdische Salon am Grindel, den ich 2007 mitgegründet habe, seit Anbeginn eine Erfolgsgeschichte ist und von einem jüdischen wie nicht-jüdischen Publikum oft und gerne besucht wird. Möge es so weitergehen, denn Berührung schafft in meinen Augen Akzeptanz.


2023, illay chester, israel, jüdin
© Christian Tan

Illay Chester, Musikerin

Ich bin in Israel aufgewachsen, wo alle um mich herum jüdisch sind, so dass ich nie besonders darauf geachtet habe, welche Rolle die Religion in meinem täglichen Leben spielt (oder nicht spielt). Deshalb sind meine jüdischen Gefühle eng mit dem Gefühl verbunden, Israeli zu sein. Jüdisch ist für mich die Heimat, die ich schaffe. Ich spreche hebräisch mit meinen Jungs – meiner Muttersprache, und ich versuche, sie mit der liberalen, kunstliebenden Kultur vertraut zu machen, mit der ich aufgewachsen bin, vor allem mit Musik und Literatur. Deshalb stelle ich oft israelische Online-Radiosender an, backe Challah für Schabbat und feiere Feiertage mit israelischen Familien. Ich ertappe mich dabei, wie ich nach Rabi Akiva lebe – liebe deinen Freund wie dich selbst. Und Zdetek tesedek tirdof, was so viel bedeutet wie: Verfolge die Gerechtigkeit. Ich sehe mich als Vertreterin der liberalen jüdischen Strömung und in meiner pädagogischen Arbeit ist es mir wichtig, Freundlichkeit auf menschlicher und natürlicher Basis zu verbreiten, die Perspektiven anderer Menschen zu sehen und nicht die Religion oder irgendetwas anderes, das uns trennt.“


Ofer Waldman, Journalist, Redner und Berater

Ich bin ein in Deutschland eingebürgerter jüdischer Israeli, der zwischen beiden Ländern lebt. Dadurch würden sich mehrere, für mich passende Adjektive ergeben: Jüdischer Deutsch-Israeli, israelischer, deutscher Jude, und so weiter. Und immer beobachten zwei Adjektive das dritte: Was bedeutet es, als Jude zwischen Israel und Deutschland zu leben? Welche gesellschaftspolitische Rolle kommt einem Israeli im deutsch-jüdischen Kontext zu? Oder gar einem deutschen Juden im heutigen, erschütterten Israel? Zumindest einem jüdischen Klischee entspreche ich, und beantworte die Frage – mit einer Frage.


Weitere Statements finden Sie von:

Yoed Sorek – Der eingebürgerte Gast aus Israel

Wolfram Nagel – Ein Gebet für die jüdischen Bewohner des Heimatdorfes