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Ukraine

„Trotz gehisster weißer Flagge wurde weiter geschossen“

Ukraine - „Trotz gehisster weißer Flagge wurde weiter geschossen“
Mykola Stebljanko, Redakteur des ukrainischen Rotary Magazins hatte zum Zoom-Meeting geladen und berichtete aus Odessa. © Rotary Magazin

Rotarier mit Tränen in den Augen blicken sich an und die Fassungslosigkeit ist allen anzusehen. Auch viele Tage nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine, die Thema eines Zoom-Meetings ist

Florian Quanz11.03.2022

Mykola Stebljanko, Past-Governor des Distriktes 2232 (Ukraine und Belarus) und Redakteur des ukrainischen Rotary Magazins, hat zum Zoom-Meeting geladen. Er will gemeinsam mit weiteren Rotariern aus der Ukraine über die aktuelle Situation berichten und alle Redakteurskollegen der anderen Magazine informieren, welche rotarischen Projekte in der Ukraine noch laufen, wie geholfen werden kann und welche persönlichen Kriegsgeschichten sich hinter den Namen der rotarischen Freunde verbergen. Beim Zuhören dieser Geschichten keine Tränen in die Augen zu bekommen, ist schwer möglich. Das persönliche Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer, das Leid der rotarischen Freunde und der Krieg ist plötzlich ganz nah, wenngleich Tausende Kilometer die Teilnehmer doch trennen.

Mykola Stebljanko zeigt zunächst anhand einer Ukraine-Karte die derzeitige Kriegssituation. „Ich bin derzeit in Odessa und uns hat der Krieg hier noch nicht erreicht. Aber jeden Morgen wache ich mit meiner Frau Olga auf, und wir erwarten den Angriff der russischen Marine vom Schwarzen Meer aus.“ Mykola hat für sich entschieden, in der Stadt zu bleiben, und solange er kann, für die rotarische Gemeinschaft von dort aus mit seiner Frau zu arbeiten. Die Zahl der zivilen Opfer steige immer weiter an, der Krieg werde brutaler. „Zweimal am Tag schalten wir Rotarier hier in der Ukraine zum Online-Meeting zusammen und besprechen die möglichen Hilfsprojekte“, erklärt Stebljanko. Jeder, der im Meeting ihm zuhört, weiß, das sind auch für Mykola keine normalen, einfachen Meetings. So wenig er sich anmerken lässt, wie sehr ihn der Krieg besorgt, wie viel Angst er womöglich um sein eigenes Leben hat, – jeder Teilnehmer weiß, jedes tägliche ukrainische Rotary-Meeting ist anders: Rotarier, die nicht mehr teilnehmen, weil sie auf der Flucht sind, andere, die sich nach der Flucht aus dem Westen der Ukraine wieder hinzuschalten oder sich aus einem anderen Land Europas melden.

„Über Polen erreichen uns viele Hilfsgüter, die weiterverteilt werden“, berichtet Mykola. Das funktioniere weiterhin sehr gut. Auf die Frage des belgischen Rotary-Redakteurs Steven Vermeylen, was am meisten benötigt werde, antwortet Mykola: „Arzneimittel. Wir sind in Kontakt mit vielen Krankenhäusern und können Lieferungen organisieren.“ Dass das rotarische Netzwerk in der Ukraine auch am 16. Tag des Krieges funktioniert, wenngleich nicht mehr alle Regionen erreicht werden können, beeindruckt. „Auch Geldspenden, die direkt an uns gesendet werden, kommen an. Das Bankensystem der Ukraine ist intakt“, sagt Mykola.

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Irina Ivanova ist mit Ihrer Familie aus Charkiw in den Westen der Ukraine geflohen © Rotary Magazin

Als ob allein diese Schilderungen nicht schon emotional ausreichend gewesen wären, lässt Mykola nun rotarische Freunde aus anderen Landesteilen zu Wort kommen. Den Anfang macht Irina Ivanova aus Charkiw. „Ich melde mich aus dem Westen der Ukraine. Ich habe vor wenigen Tagen meine Heimatstadt mit meinen drei Söhnen und meinem Mann verlassen“, berichtet sie.„Charkiw ist von allen Städten am meisten zerstört, es stehen fast nur noch Ruinen.“ Täglich fielen die Bomben dort, Irina konnte mit ihrer Familie nicht mehr bleiben. Zuvor hat sie mit anderen Clubfreunden versucht zu helfen, wo es möglich war. „Wir haben Hunderte Decken an Menschen verteilt, die sonst in der Kälte erfrieren würden“, berichtet sie. 500 Stück hätten sie gehabt, dabei wären 57.000 nötig gewesen. Als der öffentliche Nahverkehr zusammengebrochen sei, hätten Freiwillige die Decken, Lebensmittel, Babynahrung und weitere Sachgüter  eigenständig unter Einsatz ihres Lebens in der Stadt weiter verteilt. „Ich hoffe, dass ich bald zurück nach Charkiw kann und der Krieg vorbei ist“, sagt sie abschließend und bedankt sich für das Zuhören.

Danach meldet sich Alexey Lukash zu Wort, bekleidet mit einem T-Shirt mit Tarnflecken. Der Krieg wird so nicht nur in den Erzählungen sichtbar. Er meldet sich von der ukrainisch-rumänischen Grenze. Vor wenigen Tagen hat er die Hauptstadt Kiew verlassen. Doch anstatt sogleich von seinen Erlebnissen in Kiew zu reden, wendet er sich zunächst an die rotarische Freundin Irina Ivanova: „Irina, mein Herz blutet, wenn ich die Horrorbilder aus Charkiw sehe.“ Er hat dabei Tränen in den Augen. „Ich weiß noch genau, wie meine Frau am frühen Morgen des 24. Februars zu mir sagte, der Krieg hat begonnen. Ich wollte es ihr nicht glauben. Ich sagte, lass uns wieder schlafen legen, das ist ein schlechter Traum.“ Viele hätten sofort die Stadt verlassen, er sei mit seiner Frau geblieben. „Sie war hochschwanger. Wir haben jeden Tag auf das Baby gewartet, wir konnten nicht weg. Jeden Tag ertönten die Alarmsirenen und Raketeneinschläge waren zu hören. Meine Frau weinte nur noch.“ Am dritten Kriegstag setzten dann die Wehen ein und er brachte seine Frau ins Krankenhaus. Doch kaum war sie dort, musste sie in den Luftschutzbunker. Nach der Geburt beschloss Alexey mit seiner Frau so schnell wie möglich die Stadt zu verlassen. „Wir wohnten am Flughafen, die Einschläge und Explosionen waren zu nah, das Risiko zu groß“, so Alexey. Dann berichtet er von Freunden, die unter russischem Beschuss waren. „Trotz gehisster weißer Flagge wurde weiter geschossen. Zum Glück haben sie überlebt.“ Nun sei er mit seiner Familie in Sicherheit. „Das ist meine Geschichte.“

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Orest Semotiuk, Rotarier aus Lemberg, koordiniert in der Stadt die rotarischen Projekte © Rotary Magazin

Zuletzt meldet sich Orest Semotiuk aus Lemberg zu Wort. „Wir zählen hier die Tage. Heute ist der 16. Tag der Invasion“, so Semotiuk. „200.000 Flüchtlinge aus anderen Teilen des Landes seien derzeit in der Stadt und bislang sei die Versorgung sichergestellt. „Wir haben in der Stadt ein großes Flüchtlingszentrum eingerichtet mit eigener Hotline.“ Er koordiniere vor Ort rotarische Hilfslieferungen. Die Stadt bereite sich auf einen Angriff vor, wichtige Kulturschätze seien vor Tagen schon in Sicherheit gebracht worden.

Wen Huang, Chefredakteur des US-Magazins dankt anschließend den Rotariern für ihre Berichte. „Ich hoffe, dass wir mit unseren Berichten über die Schicksale und Hilfsprojekte noch mehr Spenden akquirieren können“, so Wen. Alle Teilnehmer sprechen den ukrainischen Freunden ihre Anteilnahme und Solidarität aus. Dann winken sich alle zum Abschied zu, ohne zu wissen, wann und ob es ein Wiedersehen geben wird.