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Umstrittene Stimme der Freiheit

Forum - Umstrittene Stimme der Freiheit
Ernst Moritz Arndt auf einem Gemälde von Julius Roeting © bpk / dea picture library

Der Historiker, Schriftsteller und Paulskirchenabgeordnete Ernst Moritz Arndt war einer der wichtigsten Väter der deutschen Demokratie. Aufgrund einiger Äußerungen über die Franzosen und zum Judentum gilt er heute zum Teil als problematisch. Gedanken zu seinem 250. Geburtstag.

Irmfried Garbe01.12.2019

Als Ernst Moritz Arndt am 26. Dezember 1769 in Schoritz im damaligen Schwedisch-Vorpommern das Licht der Welt erblickte, waren fast zwei Drittel der Inselbewohner Rügens noch erbuntertänig, darunter auch seine beiden vor ihm geborenen Brüder. Erst neun Monate vor Ernst Moritz’ Geburt hatte der Putbuser Graf die Freilassung seines Vaters aus der Erbuntertänigkeit gegen die Zahlung der Freikaufsumme von 80 Reichstalern beurkundet.

„Der menschliche Geist ist jetzt ein Freigelassener“, verkündete 33 Jahre später der junge Greifswalder Geschichts- und Philosophiedozent in seiner berühmten Schrift „Zur Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und Rügen“ (1803) selbstbewusst in die Welt. Er bekannte sich bei dieser Gelegenheit auch zu den geistigen Leistungen der Französischen Revolution, soweit sie denn eine wirkliche Freimachung des Geistes und der Menschen bewirkt hätte. Die Männer, die die freier gewordene Menschheit am liebsten wieder in Despotien zurückführen würden, zieh er schon lange vor der napoleonischen Besatzungszeit als „die größten Verbrecher“. Denn, „selbst wenn es erwiesen werden könnte“, dass der freigelassene Geist wirklich „ein Verderber“ sein sollte, so würde seine Knebelung „nur größeres Verderben anrichten“. Weitblickende Regenten seien daher gut beraten, menschliche Freiheit nicht nur zuzulassen, sondern nach Kräften zu fördern. „Der Staat“, so Arndts Vision einer politisch stabilen Gesellschaft, „soll so eingerichtet seyn, daß die Menschen das Gute thun müssen aus Interesse.“

Freiheit als Lebensthema
Wie sich die Freiheit in Staat und Gesellschaft sichern lässt, war und blieb sein Lebensthema. Schon seine erste Arbeit „Ein menschliches Wort über die Freiheit der alten Republiken“ (1800) zeigt das. Und es setzt sich in fast allen seinen politischen Schriften und Flugblättern fort, angefangen von „Germanien und Europa“ (1803), sekundiert in den vier Bänden „Geist der Zeit“ (1806–1818), seinem „Kurzen Katechismus für teutsche Soldaten“ (1812) bis hin zu „Ueber Demokratie und Centralisation“ (1831) und schließlich noch in den „Wanderungen und Wandelungen mit dem Freiherrn vom Stein“ (1858). Allerdings fiel Arndt nicht als systematisch stringenter Schriftsteller auf, umso mehr aber als zeitsensibler Diagnostiker und Anreger.

Ein Text, der die Stärken und Schwächen des stets tagesaktuellen Publizisten komprimiert zeigt, ist der handliche Traktat „Ueber künftige ständische Verfassungen in Teutschland“ aus dem Jahr 1814. „Man könnte glauben,“ führte der ständige Sekretär des Freiherrn vom Stein mit spitzer Feder aus: „die letzten zwanzig Jahre haben uns weiser gemacht und uns auf das Notwendige und Unvermeidliche hingewiesen. Man hat gesagt, alle Welt sei seit der Französischen Revolution politisch geworden, aber man hat nichts Großes gemeint, weil man den großen Inhalt des Worts politisch nicht versteht: man meinte nur, die Leute haben die Zeitungen begieriger als früher gelesen und in Gesellschaften und Kaffeehäusern mehr von politischen Dingen gesprochen als sonst. Das macht aber noch keine politischen Menschen.“ Der öffentlichen Diskussion nach dem militärischen Zusammenbruch Napoleons spürte Arndt die politische Unbildung ab: „Wir leben in einer neuen Geburt der Zeiten. Zwanzig schreckliche Jahre des Jammers und der Wehen haben wir verlebt, die letzten zehn Jahre fast Jahre der Hoffnungslosigkeit, wo das Menschengeschlecht in Schande und Tyrannei zu vergehen schien.“

Militärisch, so Arndt, sei der Diktator Napoleon besiegt, aber geistig und politisch in vielem noch nicht. Er befürchtete, dass die gerade beendete Tyrannei in neuer, hausgemachter Form wiedererstehen könne. Warum? Weil es den Zeitgenossen „an politischer Tugend“ fehle. „Diese politische Tugend erscheint noch nicht bei uns, und deswegen ist mir oft bange ...“. Politische Tugend stand für unerschrockene Gemeinwohltätigkeit. Zwar war sich Arndt gewiss, dass sich die gesellschaftliche Entwicklung unweigerlich zu einem demokratischen Gemeinwesen hinbewegen werde, „alle Staaten, auch die noch keine Demokratien sind, werden von Jahrhundert zu Jahrhundert mehr demokratisch werden“. Aber so gewiss das sei, gelte es umso aufmerksamer zu sein: Denn Demokratien sind keine Selbstläufer, sondern bedroht durch die ambivalente Natur des Menschen, durch unausbleiblichen „Kampf um Recht und Besitz“, durch zahllose Umweltfaktoren.

Vaterlandsliebe als Erziehungsziel
Dieser Text aus Arndts Lebensmitte zeigt den Publizisten und Wissenschaftler exemplarisch als den, als den er sich im Kern zeitlebens begriff: als homo politicus. Dies war er nicht zuletzt durch Jean-Jacques Rousseau geworden, der ihm zuallererst die Vaterlandsliebe als sittliches Erziehungsziel nahegebracht hatte: „Will man,“ schrieb Rousseau 1755, „dass die Völker tugendhaft sind, so beginne man damit, sie ihr Vaterland lieben zu lehren“, und 1772: „Ich wollte, dass man durch Ehren und öffentliche Belohnungen allen patriotischen Tugenden zu Ansehen verhülfe, dass man die Bürger ohne Aufhören mit dem Vaterland beschäftigte, dass man es zu ihrem wichtigsten Geschäft machte und es ihnen ununterbrochen vor Augen hielte.“

Arndt, der Rousseau seit seinem 15. Lebensjahr aufnahm, entwickelte und verstand sich als Tugenderzieher Deutschlands. Eine beachtenswerte Differenz zur Staatsbürgererziehungstheorie Rousseaus behielt er allerdings zeitlebens bei. Sein erstmals 1804 in den Fragmenten zur Menschenbildung formuliertes Bedenken gegen eine zu frühe politische Erziehung wiederholte und bekräftigte er in seinen Erinnerungen als 70-jähriger: Hinsichtlich der Jugend sei jede politische Prägeabsicht so lange wie möglich hinauszuschieben, denn solange das Leben Heranwachsende noch nicht erfahren gemacht habe, bestehe die Gefahr, dass politische Marschrouten junge Menschen zur Parteilichkeit verknechten. Arndt wortwörtlich: „Es ist schön, sein Vaterland lieben und alles für dasselbe thun, aber schöner doch, unendlich schöner, ein Mensch sein und alles Menschliche höher achten als das Vaterland. Der edelste Bürger kann auch der edelste und unbefangenste Mensch sein; aber um dies sein zu können, muß man keinen zum Bürger machen.“ Und weiter: „Mir sind die Menschen nicht, daß der beste Staat werde, sondern mir ist der Staat, daß die besten Menschen werden.“

Die Autoren des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland entsannen sich dieses Diktums und formulierten 1948 in Herrenchiemsee als Paragraph 1: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“ In der Endfassung wurde dieses Beinahe-Zitat allerdings wieder gestrichen und zur bekannten Grundnorm umgearbeitet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Für den Kriegsfall sah sich Arndt genötigt, den Vaterlandsgedanken als Bürgerpflicht zu propagieren, doch ohne diesem Ausnahmezustand etwas Positives zu unterstellen: „Der Krieg ist ein Übel, und die Gewalt ist das größte Übel.“ So hat gerade Arndt die Möglichkeit der militärischen Befehlsverweigerung – und dieser Gedanke wurde von fürstlichen Potentaten sofort als „revolutionär“ zensiert – allen Lesern seines Soldatenkatechismus eingeschärft. Diese Gedanken behielten ihr dissidentisches Potential bis ins Dritte Reich und in die DDR hinein.

Martialische Töne
Freilich – und das ist die Kehrseite des Widerstandspropagandisten Arndt – haben große Teile seiner Kriegslyrik einen heute unerträglich martialischen Ton. Das muss die Sympathie mit dem nationalstolzen Publizisten erheblich einschränken. Aber auch Arndt selbst bekannte 1842, dass seine Schlachtlieder in kein Schulbuch gehören. Leider wurde diese Warnung im Zeitalter des Nationalismus überhört.

Dennoch bleibt festzuhalten: Einen Eroberungskrieg, einen Militärstaat, eine politische Despotie oder einen imperialen Unterdrückerstaat kann man mit Arndt nicht begründen. Während des gesamten 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts – von Robert Blum bis Friedrich Engels, von Carl von Rotteck bis Karl Liebknecht, von Rudolf Haym bis Victor Klemperer – wurde Arndt denn auch stets als ein Vater des Liberalismus und des Freisinns gewusst und geehrt; als einer derjenigen, die unerschrocken der Öffentlichkeit und den Politikern ins Gewissen redeten. Er tat das bekanntlich unter erheblichem persönlichen Risiko und ertrug die Folgen seiner Gesellschaftskritik bis hin zu einem 20-jährigen Berufsverbot von 1820–1840, das ihn bis ins hohe Alter geschmerzt hat: „Die Sperrung meines Katheders [1819/20] war für die Universität wohl kein Verlust, aber für mich ein Unglück: für mich, für einen Menschen, der in persönlicher Eigentümlichkeit stecken blieb“.

Als endlich der 70-jährige wieder seinen Bonner Lehrstuhl besteigen durfte, war er intellektuell und wissenschaftlich nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Der alt gewordene Professor enttäuschte wissbegierige Junge wie z.B. Heinrich Heine. Dem Senat der pommerschen Landesuniversität, an der Arndt seine jungen Jahre verbracht hatte, erschien er dennoch vorbildlich genug, dass man ihn 1856 als Hoffnungssymbol der deutschen Einheit, vier Jahre vor seinem Tod und sieben Jahre nach dem Ende der Revolution von 1848, auf das Rubenow-Denkmal vor dem Hauptgebäude der Alma mater setzte. Arndt, der Senior des Paulskirchenparlamentes, hat diesen Akt freilich ironisch-selbstironisch als vorzeitige Ausstellung seines Totenscheines gewertet.

Kritische Fragen an Arndts Person und sein Werk gab es übrigens auch schon von seinen Zeitgenossen. So hieß es in einem Nekrolog von 1860, man wisse ja, dass Arndt Gelehrter gewesen sei, aber wo seien seine „in den Gang der deutschen Wissenschaft eingreifenden Forschungen“? Auch sei er Politiker gewesen, aber wo habe er mit schöpferischen Gedanken „den trägen Schritt der politischen Entwicklung Deutschlands“ tatsächlich beflügelt? Ebenso sei er Dichter gewesen, aber wo sei das klassische Werk von wirklich „durchschlagender Bedeutung“? Und weiter: „Was hat dieser Mann so Besonderes gethan?“

In der Tat: Man kann so kritisch fragen. Aber der Autor dieses Nekrologs stellte sich nicht zu denen, die Arndt kurzhin abkanzelten. „In der That, er hat gar nichts so Besonderes gethan. Seine Größe ist, daß er immer in vollem Maß gethan, was wir alle immer thun sollten.“ Arndts Charakter sei es gewesen, tapfer bei seinem politischen Engagement geblieben zu sein, auch wenn das auf Kosten der akademischen Leistung gehen musste. Er sei „mit den gesunden Empfindungen und den mannhaften Handlungen eines echten Patrioten vorangegangen“. „Ist das alles?“, fragte dazu die Historikerin Edith Ennen 1969. Wir sollten aber ebenso fragen: Ist das wenig? Angesichts der Diktaturerfahrungen des 20. Jahrhunderts sollte man sich die Antwort auf diese Frage nicht zu leicht machen.

Unfreiheit als Lebensthema
Wer Arndt betrachtet, muss sich klar machen, dass dieser Mensch nicht vergessen konnte, dass er der Sohn eines freigelassenen Leibeigenen war. Unfreiheit war das, was er in jeder Form bekämpfen wollte. Sie begründete sich für ihn aus den heillosen Verzweckungen, die Menschen an Menschen verüben und ihnen immer zum Schaden gereichen: sei es auf pädagogischem, bürgerlichem, gesetzlichem, religiösem, wirtschaftlichem oder politischem Wege. In der politischen Unfreiheit aber sah Arndt das größte Übel. Seine Publizistik – bis hin zu seinen Märchen und Jugenderinnerungen – ist ethisch motiviert: Er erstrebte die Selbständigkeit und politische Autonomie nationalbewusster Menschen in freiwilliger Rückbindung an Moral, Recht und Religion. Die europäischen Dimensionen seiner Nationalstaatsvision hatte er dabei im Blick, allerdings ideologisch beschränkt. Denn vor einer Vergötzung des Patriotismus hat er sich nicht geschützt. So wurde er schon zu Lebzeiten ein Inkriminierter und sein Fall alle paar Jahrzehnte „neu“ aufgerollt.

Die Frage nach dem wirklichen Ernst Moritz Arndt ergibt eine schillernde Antwort, die sich je nach Beleuchtung und Vorverständnissen ergibt. Und im Rückblick ist Arndt auch seine Gebrauchsgeschichte. Zu dieser Geschichte gehören absichtliche Verstümmelungen hinzu, die allzu oft der Regel folgten, was ich nicht brauchen kann, will ich nicht haben. Arndt fiel dazu eine Kinderfrage ein: „Aber wenn Du [mir] den Fuß abhauest und die Seele sitzt da, wie soll ich sie wieder bekommen?“ 


Tipp 
Da es keine aktuelle Biographie zu Ernst Moritz Arndt gibt, sei zur Vertiefung in das Thema der folgende Tagungsband aus dem Jahre 2011 empfohlen, der sich sowohl dem Arndtschen Werk als auch dessen Rezeption widmet:

  1. Dirk Alvermann / Irmfried Garbe Ernst Moritz Arndt. Anstöße und Wirkungen 352 Seiten, gebunden, Böhlau, 49,90 Euro.


boehlau-verlag.com

Sehenswert ist auch das Geburtshaus Arndts in Groß Schoritz auf Rügen. Hier hat die Ernst-MoritzArndt-Gesellschaft ihren Sitz, die sich der Pflege der Erinnerung an den streitbaren Historiker und Publizisten verschrieben hat.

ernst-moritz-arndt-gesellschaft.de