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Ursprünge der Reformation

Umwälzung aus dem Geist des Evangeliums

Vor wenigen Tagen präsentierte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) die Schrift »Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Refor­mation 2017« – und eröffnete damit die Diskussion über das bevorstehende Jubiläum. Die Beiträge zum Juni-Titelthema beteiligen sich daran: Was war das für ein Ereignis, dessen da gedacht wird? Ist das Reformationsjubiläum überhaupt ein Grund zum Feiern? Und nicht zuletzt: Wie zeitgemäß ist Luther noch?

Heinz Schilling16.06.2014

Die Geschichte der Christenheit in Alteuropa war stets mehr als die Institutionen- oder Geistesgeschichte der Kirche. Das Wirken des Christentums in und auf die Welt eröffnete eine auch heute noch intensive Beziehungsgeschichte zwischen Religion und Gesellschaft. Bis zur Aufklärung waren im lateinischen westlichen Europa religiöse und weltlich-profane Institutionen und Kräfte strukturell verkoppelt und wirkten funktional zusammen. Anders als im orthodoxen östlichen Europa, das Umbrüche nach Art der Reformation nicht kennt, vor allem aber im Gegensatz zu fundamentalistischen Zivilisationen blieben im lateinischen Europa Religiöses und Säkulares, Kirche und Staat aber stets unterscheidbar und behielten ihre Selbständigkeit. Der „Westen“, wie man heute gern sagt, war auf Säkularisation, Rationalität und geistige wie politische Autonomie angelegt, was langfristig den neuzeitlichen, religiös unabhängigen Staat und die moderne pluralistische Gesellschaft hervorbrachte. Das erfolgte nicht in einem linearen Prozess, sondern in Phasen beschleunigter und zurücktretender Säkularisation, die zudem nicht per se antireligiös war, sondern immer wieder aus religiös-kirchlichen Traditionen hervorbrach.

Ausgangs des Mittelalters erfuhr dieser der alteuropäischen Zivilisation eigentümliche Wandel eine weltgeschichtlich bedeutsame Intensivierung: Parallel zur und in Ablösung der Renaissance, in der existentielle Religiosität zu einer Arabeske der Kunst oder der Philosophie zu werden drohte, traten erneut religiöse und kirchliche Strukturen und Funktionen in den Vordergrund, gipfelnd in der Wittenberger Reformation. Als der Augustinermönch und Bibelprofessor Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen gegen den päpstlichen Ablass veröffentlichte, wirkte das wie der erste fallende Dominostein, der scheinbar festgefügte Glaubenssätze und tradierte Institutionen in Kirche, Staat und Gesellschaft mit sich riss.

Der Geist der Epoche

Das kam nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die Reformation war vielmehr der Gipfelpunkt einer „Epoche der Reformen“ (Jean Delumeau), die vom späten Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert hinein Religion und Kirche und mit ihnen Staat und Gesellschaft tief umpflügte. Luthers Tat war vielfältig vorbereitet: Einerseits wirkten in ihr die von der römischen Kirche ausgelöschten Häresien der Katharer und Waldenser fort, vor allem aber die „Vor-Reformatoren“, der Engländer John Wyclif (1320–1384),der einen radikalen Biblizismus predigte und wie später Luther den Papst zum Antichristen erklärt hatte, und der Prager Magister Jan Hus (1370–1415), der in massenwirksamer Symbolik den Laienkelch und damit Freiheit und Gleichheit der Laien mit der Priesterkaste gefordert und in dem Traktat „De ecclesia“ (1413) einen radikalen Kirchenbegriff entwickelt hatte, der Papst, Kardinalskollegium, ja selbst Konzile ablehnte und über der evangelischen Gemeindekirche „kein Haupt … außer Christus“ anerkannte. Das sollte ihn zwar 1514 in Konstanz auf den Scheiterhaufen bringen. Seine Lehre lebte aber in der mächtig aufschäumenden Hussitenbewegung fort, die in Böhmen antipäpstliche und protonationale Kräfte freisetze. Vor allem aber wurde sie ein Jahrhundert später von Luther aufgegriffen.

Andererseits war auf dem Boden der Kirche selbst eine vertiefte Frömmigkeit hervorgebrochen, die neue soziale Gruppen in Bewegung brachte: Die im städtischen Milieu entstandenen Bettelorden – Franziskaner, Dominikaner und Augustiner, Luthers eigener Orden – waren geradezu Propheten eines ersten bürgerlichen Zeitalters.

Der Geist der Erneuerung hatte aber noch keineswegs die Christenheit insgesamt und schon gar nicht die kirchliche Hierarchie erfasst. Die Alltagswirklichkeit war eher durch traditionelle Frömmigkeitsformen und durch Unwillen zur Reform geprägt. Mit Messstiftungen suchten sich die Menschen den heilsbringenden Schutz der Kirche vertraglich zu sichern; religiöse Bruderschaften, Massenwallfahrten und eine blühende Heiligenverehrung sollten das ewige Seelenheil herbeizwingen, dessen man sich aber immer weniger sicher wähnte. Wer es sich leisten konnte, häufte Reliquien an, so Friedrich der Weise, Luthers Landesherr in Wittenberg, oder Kardinal Albrecht von Brandenburg in Halle, deren Sammlungen jeweils für Millionen von Fegefeuerjahren Sündenablass versprachen. Der Ablasshandel Leos X., der Luther auf den Plan brachte, war keineswegs nur Manipulation durch einen geldgierigen Papst. Vielmehr bot er dem einfachen Gläubigen in Art eines Aktienhandels Gelegenheit, vom kirchlichen Heilsschatz zu profitieren und sich – dem eingesetzten Geldbetrag entsprechend – ganz oder teilweise von den Qualen des Fegefeuers freizukaufen.

Die hier wie auch anderwärts dokumentierte Akzeptanz des spätmittelalterlichen Papsttums war zugleich dessen Schwachpunkt. Nachdem das Konzil zurückgedrängt und der Papst zum alleinigen Haupt der Kirche aufgestiegen war, musste somit jegliche Kritik, wurde sie erst einmal laut und mutig geäußert, mit voller Wucht das Papstamt treffen. Das Renaissancepapsttum erstrahlte im Glanz seiner Macht und einer auserlesenen Kultur, und doch bedurfte es nur eines Anstoßes von der „Grenze der Zivilisation“ her, um dem Vorwurf, in Rom säße die Hure Babylons, ja der Antichrist, wieder europaweit Gehör zu verschaffen.

Abkehr von der Einheitskirche

Zudem war die lateinische Christenheit nur noch der Idee nach in einer einheitlichen Kirche organisiert. In der Realität war sie bereits in National- oder Territorialkirchen zerfallen – auf revolutionärem Weg in Böhmen, evolutionär im übrigen Europa, wo die Fürsten mit der Kurie Konkordate schlossen, die ihnen weitgehende Rechte in der Kirche ihrer Länder einräumten: 1448 das Wiener Konkordat mit dem Kaiser, das auf die deutschen Fürsten ausgedehnt wurde; 1472 und erweitert 1516 mit Frankreich; 1482 mit Kastilien und Aragon; schließlich im 16. Jahrhundert mit Polen, Ungarn und den skandinavischen Reichen.

Als mit der Reformation dann auch die Lehr- und Glaubenseinheit zerbrach, wurden die protestantischen Länder völlig unabhängig von Rom. Unter der Oberherrschaft der jeweiligen weltlichen Gewalt – König, Fürst oder Stadtrat – entstanden die autonomen National-, Landes- oder Stadtkirchen von England, Schweden, Dänemark, den Niederlanden, der deutschen Territorien und Reichsstädte wie Nürnberg oder Augsburg, der Schweizer Kantone und Stadtstaaten wie Basel, Bern, Zürich oder Genf. Im Gegenzug hatten auch die Päpste den ihnen treu gebliebenen Herrschern weitere Autonomierechte einzuräumen: Auch im gallikanischen Frankreich, in Spanien ebenso wie den katholischen Territorien des Reiches, allen voran im Herzogtum Bayern, dem Bollwerk katholischer Orthodoxie, hatten die weltlichen Herrscher fortan mitzureden bei der Besetzung der Bistümer, der Verwaltung und Nutzung des Kirchengutes, der Disziplinaraufsicht über den Klerus, in den kirchlichen Bildungs-, Erziehungs-, Sozial- und Krankenanstalten etc.

Diese langfristigen Zusammenhänge, die den Zeitgenossen natürlich nicht vor Augen standen, dürfen die Leistung Luthers allerdings nicht verkleinern. Die unbeirrte Gewissheit, die göttliche Wahrheit zu besitzen, und der unbeugsame Mut, sie in Lebensgefahr gegenüber der kirchlichen Hierarchie und vor Kaiser und Reich zu vertreten, machten Luther zum Geistes- und Glaubensheros. Seine Anhänger – und das sollten in Deutschland nach Schätzung des Nuntius schließlich neun Zehntel sein – sahen sich mit einem Streich von allen Unsicherheiten und Unklarheiten befreit. Die „Sola-fide“-Theologie (allein durch den Glauben wird der Mensch selig), dieser Kern der protestantischen Rechtfertigungslehre, wurde für Kleriker wie Laien, Mächtige wie Schwache, Ungebildete wie Gebildete der sichere Glaubensanker für das Heil, im Jenseits, aber auch in der Welt. So jubelte Albrecht Dürer, Luthers Botschaft habe ihn aus schweren Ängsten erlöst. Alles, was die Kirche ihnen als Instrumente der Heilsfindung angeboten hatte, warfen sie weg wie der geheilte Lahme die Krücken – die Wallfahrten und Prozessionen ebenso wie die Seelenmessen und frommen Stiftungen, Ablässe und guten Werke, Reliquienkult und Fürbitte der Heiligen. Bald ging man daran, die Kirche neu nach dem Evangelium zu ordnen, zunächst spontan aus den Gemeinden heraus, schließlich unter Leitung der Stadtmagistrate oder Fürsten, die Luthers Lehre vom allgemeinen Priestertum aller Getauften zum Wirken für die Kirche legitimierte.

Dabei hatte die Reformation nicht in revolutionärer Geste, sondern in bedächtiger Sorge um das Wohl der Menschen eingesetzt. Der Luther, der am 31. Oktober 1517 seine Erkenntnis kundtat, war ein Mönch und Seelsorger, der in Bescheidenheit seiner Kirche dienen wollte. Als die kirchliche Hierarchie auf sein Anliegen nicht einging und weitere Reformatoren auftraten – vor allem Huldrych Zwingli in Zürich und eine knappe Generation später Johannes Calvin in Genf –, brachen die Dämme, die Rom gegen das weit verbreitete Verlangen nach religiöser Erneuerung und Kirchenreform errichtet hatte, und die Reformbewegung wurde zum Aufstand gegen die Papstkirche. Der Buchdruck machte die Diskussionen für oder gegen Luther zum ersten großen Medienereignis der Weltgeschichte. Erstmals wurde der Kreis intellektueller Kirchenkritik durchbrochen und „Herr omnes“, also jedermann, wurde in den Disput einbezogen. Wer nicht lesen konnte, dem wurden auf Marktplätzen, in Wirtshäusern oder Herbergen die reformatorischen Flugschriften vorgelesen. Dem Medienereignis „Reformation“ folgte die Reformation als Volksbewegung auf dem Fuß.

Reformation als Volksbewegung

Der Paradigmenwechsel in Theologie und Kirchenverständnis hatte Folgen weit über Europa hinaus. Diese Weltwirkung trat nicht sofort und nicht ohne Kampf und Gewalt ein. Auf die Reformation folgte seit Mitte des 16. Jahrhunderts die Konfessionalisierung – der häufig gewaltsame Aufbau straff formierter und kontrollierter Konfessionsgesellschaften, deren fast fundamentalistische Wahrheitskonkurrenz in selbstzerfleischende Religionskriege mündete, von denen der Dreißigjährige Krieg nur der bekannteste ist. Die Weltwirkungen der Reformation lassen sich nur langfristig und dialektisch bestimmen. Zudem stehen gerade die uns heute wichtigsten Hervorbringungen wie Toleranz, Pluralismus oder Subjektivismus im Gegensatz zu den ursprünglichen Absichten der Reformatoren. Drei große Linien lassen sich erkennen:

Erstens, da Luther den Schutz des mit der Reformation erstarkenden frühmodernen Staates erhielt und daher anders als frühere Kirchenkritiker, nicht ausgeschaltet werden konnte, wurde er zum Stachel im bequemen Fleisch des Renaissancepapsttums. Rom sah sich gezwungen, endlich den Widerstand gegen Reformen aufzugeben. Als Reaktion auf Wittenberg schuf das Trienter Konzil, das endlich einberufen wurde, aber ein gutes Drittel der lateinischen Christen nicht mehr vertreten und damit kein allgemeinchristliches mehr sein konnte, die neue, neuzeitlich katholische Konfessionskirche, die in ähnlicher Weise wie die protestantischen Kirchen zur Modernisierung der europäischen Gesellschaften beitrug.

Zweitens sorgte die Reformation für einen mächtigen Differenzierungsschub, der bis heute in der „westlichen“ Kultur und Zivilisation fortwirkt. Das war weniger das Ergebnis ihrer spezifischen Theologie als das schlichte Faktum, dass die reformatorischen Kirchen sich im Unterschied zu früheren Versuchen, sich von Rom zu lösen, nicht mehr aus der Welt zu schaffen waren. Indem damit die „ideologische“ und organisatorische Geschlossenheit der lateinischen Christenheit endgültig aufgebrochen war, gab es nicht nur in der Kirche, sondern ganz allgemein im Denken und im Lebensstil Alternativen, und zwar rechtlich wie gesellschaftlich anerkannte und legitimierte Alternativen – schließlich bis hin zum Recht auf Nicht-Glauben, das in Luthers Zeit noch undenkbar war.

Drittens prägte die von Luther evangelisch erneuerte und in die Alltagswirklichkeit gebrachte Werthaltigkeit der christlichen Religion die Neuzeit in allen Bereichen des öffentlichen wie privaten Lebens. Das „Sola-gratia“-Prinzip öffnete den Weg zur neuzeitlichen Berufsethik, die den Christenmenschen auf das ihm angemessene Handeln in der Welt lenkte. Die zuvor dem priesterlichen, vor allem mönchischen Leben vorbehaltene „Heiligkeit“ wurde gleichsam in die Welt hinein genommen und setzte dort im Dienst an der Gemeinde (ecclesia), der Familie (oeconomia) und dem Staat (politia) eine Dynamik frei, die im Mittelalter durch die Sonderstellung der klerikalen Berufung (vocatio) für die Welt blockiert war.