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Missbrauch

Unangenehme Traditionen

15.11.2013

Die Worte Claudia Roths waren klar und eindeutig: Angesichts immer neuer Enthüllungen über Fälle von Pädophilie plädierte die Grünen-Bundesvorsitzende entschieden für „einen neuen Umgang mit Missbrauchsfällen“. Es gehe um schwere Straftaten, um die langjährige Vertuschung dieser Straftaten und um die Verhinderung solcher Straftaten in der Zukunft. Zudem äußerte Roth die Befürchtung, dass durch „langjährige Praktiken der Vertuschung und Verheimlichung“ erst die Spitze des Eisbergs sichtbar sei, weshalb mit der langen Intransparenz endlich Schluss sein müsse.

Das Problem nur: Claudia Roth fand diese starken Worte nicht im Jahre 2013. Das klare Bekenntnis zum Wohl der Kinder stammt vielmehr aus dem Jahre 2010. Und es ging auch nicht um die Vorwürfe gegen ihre Partei, sondern um Missbrauchsfälle in Bildungseinrichtungen der katholischen Kirche wie dem Canisius-Kolleg in Berlin und der Klosterschule Ettal. Damals forderte die wortgewaltige Politikerin, dass sich auch Papst Benedikt XVI. und die Deutsche Bischofskonferenz aktiv in die Aufklärung des Skandals einschalten sollen. Und nicht zuletzt forderte Claudia Roth auch eine moralische Selbstaufklärung der Kirche: „Es kann nicht übersehen werden, dass auch die antiquierte und restriktive Sexualmoral, wie die katholische Kirche sie offiziell vertritt, zu einem solchen furchtbaren Komplex des Wegsehens und der Verheimlichung führen kann.“

Pädagogik in neuem Geiste

Heute wissen wir, dass auch eine allzu liberale Sexualmoral nicht vor Missbrauch schützt. Ganz im Gegenteil hat spätestens der Skandal um die Odenwaldschule im gleichen Jahr 2010 gezeigt, dass es eben auch eine lange Tradition des Vergehens an Schülern in reformerisch orientierten Bildungsstätten gab. Konkret ging es vor drei Jahren um den langjährigen Leiter der Odenwaldschule Gerold Becker, dem ehemalige Schüler vorgeworfen hatten, sich in den 1970er und 1980er an ihnen vergangen zu haben. Becker war jedoch kein Einzelfall. Schon der Begründer der Reformpädagogik, Gustav Wyneken, musste die von ihm im Jahre 1906 gegründete Freie Schulgemeinde Wickersdorf im Jahre 1920 verlassen, weil er mit sexuellen Vorwürfen konfrontiert worden war und anschließend zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde. Ein weiterer Reformpädagoge war Georg Hellmuth Neuendorff. Auch er unterrichtete zunächst in Wickersdorf, gründete im Jahre 1912 jedoch sein eigenes Haus, die Dürerschule im hessischen Hochwaldhausen. Durch den Selbstmord einer Schülerin im Oktober 1920 kam heraus, dass es auch in dieser bis dahin als vorbildlich geltenden Lehranstalt jahrelangen systematischen Missbrauch an mehreren Internatsschülerinnen gegeben hatte. Ein weiterer Fall aus Wickersdorf wiederum ist der von Joachim Georg Boeckh, der die Freie Schulgemeinde 1931 wegen sexueller Verfehlungen verlassen musste und dennoch 1938/39 an der Odenwaldschule Leitungsfunktionen übernehmen konnte.

Die zahlreichen zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandenen Landerziehungsheime entstammten in ihrer Ideenwelt der Jugendbewegung. Bei aller Heterogenität ihrer pädagogischen Profile verstanden sie sich alle als Kämpfer gegen das damals etablierte Bildungssystem. Sie wollten einen neuen, weniger autoritären Schultyp kreieren, und wandten sich zugleich gegen eine zu radikal auftretende Moderne mit ihren als dekadent empfundenen Begleiterscheinungen. Zu den Prämissen der Reformschulen gehörte deshalb nicht nur ein asketisches Leben, sondern auch die Verklärung der Natur sowie eine ganzheitliche Erziehung, die nicht nur den Geist fördern sollte, sondern auch den Körper. Ein nahezu selbstverständlicher Bestandteil des pädagogischen Konzepts war in vielen Landerziehungsheimen, dass sich die Mädchen und Jungen nackt zur Gymnastik im Freien trafen. Dies galt als Bestandteil einer natürlichen Körpererziehung, jenseits irgendwelcher sexueller Gedanken.

Ebenso gehörte zu den Landerziehungsheimen auch eine Neudefinition der Rolle des Lehrers. Dieser sollte nicht mehr nur der Vermittler von Wissen sein, sondern eher ein helfender Kamerad und wohlwollender Förderer. So kam es zu einer bis dahin unbekannten Nähe zwischen Schülern und Lehrern. Im Grunde kann es kaum verwundern, dass diese Konstellation immer wieder auch Erzieher anzog, die anderes im Schilde führten als die bloße Unterrichtung ihrer Schützlinge.

Sicher: Es wäre historisch und pädagogisch höchst unseriös, würde man deswegen die Reformschulen – genauso wie die kirchlichen Bildungsstätten – pauschal zu Orten systematischen Kindesmissbrauchs deklarieren, oder sie auch nur unter einen pauschalen Verdacht stellen. Allerdings lässt sich die Geschichte jener reformpädagogischen Häuser eben auch nicht ohne diesen Hintergrund erzählen. Dafür gab es einfach in den verschiedenen Einrichtungen im Laufe der letzten hundert Jahre zu viele Einzelfälle.

Meister und Schüler

Nicht unmittelbar ein Kind der Jugendbewegung, aber dennoch in etwa die gleiche Zeit gehörend, war der elitäre Kreis um Stefan George. Ab 1892 scharte der Dichter gleichgesinnte junge Intellektuelle um sich mit dem Ziel, das antike Modell einer besonderen Meister-Schüler-Beziehung im Geiste des „pädagogischen Eros“ neu zu etablieren. Ab 1900 wurde George immer stärker zum Erzieher und Lehrmeister seines Kreises – und seine Anhänger zunehmend jünger.

Was den George-Kreis bis heute so interessant macht, sind die vielen kleinen Fäden, die er durch die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts gewoben hat. Dazu gehörten nicht nur namhafte Dichter und Wissenschaftler wie Max Dauthendey, Ernst Kantorowicz oder Edgar Salin, sondern auch die aus höchst unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten stammenden Brüder Alexander, Berthold und Claus Schenk Graf von Stauffenberg und der sozialdemokratische Staatsrechtler Carlo Schmid, der zu den Vätern des Grundgesetzes gehört. Wenngleich dieser Kreis sicher kein „Pädophilen-Club“ war – der George-Biograph Thomas Karlauf verweist ausdrücklich darauf, dass es in den Beziehungen des „Meisters“ zu seinen Schülern starke Abstufungen gab –, so waren es doch intellektuelle Jünger eines pädophil veranlagten Gurus, die zumindest Teile ihrer Bildung und Prägung in jenem Umfeld erfuhren.

Höchst einflussreich blieb George, der 1933 verstarb, auch nach seinem Tode. Der Germanist Ulrich Raulff widmete sich diesem spannenden Kapitel der deutschen Geistesgeschichte 2010 in seiner Monographie „Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben“. Zu den George-Jüngern der zweiten Generation gehörten u.a. die Reformpädagogen Georg Picht und Hellmut Becker: der eine Gründer der Birklehof-Schule im Schwarzwald, der andere als Bildungspolitiker u.a. Präsident des Deutschen Volkshochschulverbandes und Mitbegründer des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Picht, der in den sechziger Jahren in einer Artikelserie für Christ und Welt die deutsche „Bildungskatastrophe“ ausrief, gab u.a. dem jungen Hartmut von Hentig, der bald zu einem der bedeutendsten Schulreformer der Bundesrepublik wurde, auf dem Birklehof eine erste Anstellung als Lehrer. Und Hellmut Becker wiederum sorgte später dafür, dass sein Schützling Gerold Becker (der nicht mit ihm verwandt war), zum Leiter der Odenwaldschule werden konnte.

Sicher gilt auch hier, dass es fragwürdig wäre zu behaupten, es habe seit den Tagen Stefan Georges ein Kartell gegeben, das im Geiste des „Meisters“ ein bestimmtes reformerisches und zugleich auf antiken Ideen fußendes Bildungsideal pflegte. Dafür waren die geistigen Bewegungen des 20. Jahrhunderts einfach zu dynamisch. Gleichwohl es ist interessant zu sehen, dass es eben doch bestimmte intellektuelle Traditionen gibt, die über die Generationen und politischen Brüche hinweg Bestand haben.

Empathie für Kinder

Die Existenz derartiger Traditionslinien mag vielleicht auch eine Erklärung dafür sein, dass eine liberale, fortschrittlich gesinnte Öffentlichkeit lange Zeit keine Probleme damit hatte, wenn es zu einer allzu freizügigen Nähe zwischen Erwachsenen und Kindern kam; und dass sie eben deshalb auch „Beißhemmungen“ hatte, bzw. gar wegsah, wenn Missbrauchsfälle angezeigt waren. So gehört zum Skandal um die Odenwaldschule auch, dass die Vorwürfe gegen Gerold Becker gar nicht erst im Jahre 2010 erhoben worden waren, sondern schon Ende der neunziger Jahre. Damals blieb jedoch der Aufschrei aus. Und schon bei Gustav Wyneken hatte es Proteste seiner reformerischen Anhänger dagegen gegeben, dass er den Dienst in der Freien Schulgemeinde quittieren musste.

Eine der ganz wenigen, die von Beginn ihrer publizistischen Tätigkeit an konsequent gegen jegliche Form von Pädophilie gestritten hat – und auch klar sagte, worum es dabei geht –, war übrigens die Gründerin der Frauenzeitschrift EMMA, Alice Schwarzer. So sagte die engagierte Feministin schon 1980 in einem langen Gespräch mit dem Sexualforscher Günter Amendt: „In der neu aufgeflammten Diskussion wird die Pädophilie oft verschleiernd ‚liebevoller Kontakt zu Kindern’ genannt. (…) Wenn du dir die von Pädophilen oder Päderasten beschriebenen Erlebnisse genau anschaust, ist auch immer ganz klar, dass es sich um Abhängigkeitsverhältnisse handelt, und dass die Kinder oder Jugendlichen den Sex in Kauf nehmen, nur um anderes dafür zu bekommen. (…) Die Erwachsenen reden immer nur von ihren sexuellen Gefühlen, was bei den Kindern los ist, steht in Wahrheit nicht zur Debatte.“

Der Missbrauch von Kindern ist weder ein Produkt der katholischen Sexualmoral noch eines übertriebenen liberalen laissez faire. Er ist schlichtweg ein Verbrechen, für den es keinen Spielraum geben kann – und keine intellektuelle Legitimation.