Anmerkungen zum Phänomen „Pegida“
Unerhört oder unverstanden?
Es könnte sein, dass bei Erscheinen dieses Artikels der Spuk schon wieder vorbei ist. Denn während diese Zeilen geschrieben wurden, haben sich die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) in Dresden gerade von ihrem Gründer Lutz Bachmann getrennt und der verbleibende Führungskreis gespalten. Die Republik könnte aufatmen und wird es wohl auch tun, wenn die Demonstrationen der „Pegida“ und ihrer Ableger in diversen deutschen Großstädten aufgehört haben. Alles gut also? Mitnichten. Denn jenseits der Frage, ob es sich bei den Demonstranten um „Nazis in Nadelstreifen“ oder nur „gewöhnliche Islamistenfeinde“ handelt, steht „Pegida“ für einige Aspekte, die auch über den Augenblick hinaus bedenkenswert sind.
Da ist zum einen die bloße Zahl. Wirkliche Nazis würden auch in einem Land wie Sachsen, in dem die NPD wiederholt in den Landtag einzog, niemals Woche für Woche mehr als 10.000 Menschen auf die Straße bringen, wie dies „Pegida“ über Monate geschafft hat. 5.000 Nazis – ja, das gab es in Dresden leider schon. Aber keine 20.000 bis 25.000. Wer also geht da „spazieren“?
Die andere Bürgerbewegung
Viele Teilnehmer nutzen den Anlass, den die durchaus zwielichtigen Organisatoren bieten, um den Regierungen in Dresden und Berlin einmal ordentlich „Bescheid zu sagen“. Die Drohung ist: Wenn Ihr unsere Sorgen nicht ernst nehmt, dann wenden wir uns eben den Rechten zu. Dabei ist die Themenlage – jenseits von „Islamisierung“ und Medienschelte – durchaus diffus; oft handelt es sich um ein allgemeines, tiefsitzendes Unbehagen gegenüber einer unsicheren Zeit. Es gibt Fragen wie „Wie soll das eigentlich in den nächsten Jahren werden?“ oder „Kennen ‚die da oben‘ eigentlich die Realitäten vor Ort?“.
Die mittlerweile fast sieben Jahre andauernde Finanzkrise hat auch in Deutschland viele Menschen verunsichert. Das gut gefüllte Sparbuch, das früheren Generationen der Inbegriff eines „ruhigen Polsters“ war, gilt in Zeiten von „Negativzinsen“ als Werte-Vernichter. Und klassische Wertgegenstände wie Bibliotheken, Porzellan oder Schmuck sind nur begrenzt tauglich, erworbenen Wohlstand abzusichern. Die Stabilität der Währung ist alles andere als sicher, und die ökonomische Abhängigkeit Europas von Regionen außerhalb des Kontinents ist schlicht zu hoch, um sich sicher zu fühlen. Das spüren auch Menschen, die ihre Ängste nicht präzise formulieren können. Der Verlust der Normalität ist keine Lappalie. Wir reden über Kulturbrüche, die als Ohnmacht erlebt werden.
Warum Dresden?
Das betrifft auch die zweite große Frage, die offenkundig viele bewegt: die der umfassenden Zuwanderung. Wieder wird auf einen Vertrauensverlust in die Akteure verwiesen. Wieder wird befürchtet, alles was man aufgebaut hat, werde unkontrollierbaren und potentiell zerstörerischen Entwicklungen naiv preisgegeben. Die Diskussionen darüber sind geprägt von globaler Unerfahrenheit, Details werden mühevoll und mitunter eben recht theoretisch diskutiert.
Doch warum entlud sich das Unbehagen ausgerechnet in Dresden? In dem bezaubernden Elbflorenz, dass nach dem Wiederaufbau weiter Teile der Altstadt in den letzten Jahren heute wieder zu den schönsten Städten Deutschlands zählt. Eine Stadt, in der – wie zurecht angemerkt wurde – kaum Muslime leben.
Im Grunde ist es genau die Mischung aus der allgemeinen Verunsicherung und einer als Bedrohung empfundenen Zuwanderung. Die DDR war eine weitgehend homogene Gesellschaft, so dass die Menschen mit dem komplexen Thema Zuwanderung kaum Erfahrung hatten. Was sie – wenn überhaupt – unter „Völkerfreundschaft“ kennengelernt hatten, waren staatlich organisierte Begegnungen mit Menschen aus der UdSSR und anderen Ostblockländern. Ein Grund, sich über das vermeintliche „Hinterwäldlertum der Ossis“ zu echauffieren – wie es zum Teil im Westen anklang –, ist dies freilich nicht. Die Menschen in Dresden sind eben nicht die erste oder zweite Erbengeneration nach einem Wirtschaftswunder, sondern diejenigen, die noch selber die Schaufel in die Hand genommen haben, um sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus eine eigene Existenz aufzubauen, die immer noch fragil ist.
Zudem gibt es gerade in Dresden eine starke eigene kulturelle Identität und Renitenz gegenüber dem Zeitgeist – daran haben weder die Nazis noch die DDR viel geändert. Unverdrossen ob der Zwielichtigkeit der Organisatoren, der zweifelhaften Ermutigung von Rechtsextremen, der anhaltenden Rufschädigung der Stadt oder der übelsten Beschimpfungen und Stigmatisierungen von außen, gehen diese Menschen weiter stur „spazieren“. Weil es um ihre Anliegen geht.
Deshalb sollten wir „Pegida“ – allen berechtigten und unberechtigten Vorwürfen zum Trotz – durchaus als das ernst nehmen, was es nüchtern betrachtet ist: die erste Bürgerbewegung im Osten der Bundesrepublik seit der Friedlichen Revolution 1989. Das hat Bedeutung und zwingt die Politik zum Innehalten.
Verunsicherte Öffentlichkeit
Eine Bürgerbewegung mit „rechten Themen“ ist in Deutschland gewöhnungsbedürftig. Bisher demonstrierten engagierte Bürger gegen Atomkraftwerke, gegen den Ausbau von Flughäfen und Bahnhöfen oder gegen die „Rationalisierung“ ihrer Arbeitsplätze. Doch auch 1989 speiste sich die Friedliche Revolution in der DDR aus der Opposition zu den Kommunisten und war somit keine linke Bewegung.
Natürlich versuchen Rechtsextreme, diese Bewegung zu vereinnahmen und zu instrumentalisieren. Das erläutert auch die ritualisierte Heftigkeit der Gegenreaktion. Aber es sind wohl eher die Nichtwähler, die sich hier versammeln; Menschen, die in der konservativen Mitte der Gesellschaft angesiedelt sind, und sich durch „ihre“ klassische Partei nicht mehr vertreten fühlen. Dies zu berücksichtigen ist wichtig. Denn auch wenn sich, wonach es aussieht, „Pegida“ selbst zerlegen sollte und die Teilnehmerzahlen wieder sinken werden, bleibt der Anlass der Provokation durch „Spazierengehen“ erhalten: Verunsicherung und Unzufriedenheit mit der Politik der etablierten Parteien.
Verunsichert ist freilich auch die deutsche Öffentlichkeit. Wie sehr, zeigte sich Ende Januar, als der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel eine Diskussionsveranstaltung der Landeszentrale für politische Bildung in Dresden besuchte und dabei gleichermaßen „Pegida“-Anhängern wie -Gegnern zuhörte. Die Vorwürfe gegen Gabriel reichten von Instinktlosigkeit bis zum Verrat demokratischer Prinzipien. Dabei hatte er nur im wahrsten Sinne des Wortes „dem Volk aufs Maul geschaut“. Gibt es etwas Normaleres für einen demokratischen Politiker? Instinktpolitiker erkennen die Lage, Programmpolitiker hingegen wollen lieber das Volk abwählen, wenn es sich von ihnen nicht erziehen lassen will.
Protest als Chance
Eine Demokratie lebt jedoch vom Zweifel, der den Disput nährt. Innerparteiliche Debatten können das nicht ersetzen. Dort entstehen eher Selbstvergewisserungsgemeinschaften. So erweckt die deutsche Parteienpolitik zur Zeit den Eindruck, einer wenig vorhersehbaren Zukunft nicht gewachsen zu sein. Das Band zur Bevölkerung reißt. Mit der FDP fing es an.
Schon seit langem beklagen sich die Vertreter aller demokratischen Parteien über eine wachsende Politikverdrossenheit. Die Teilnahme an Wahlen sinkt fast überall dramatisch. Doch anstatt zu überlegen, warum man die Bürger nicht mehr erreicht, wird darüber diskutiert, ob man die Wahlkabinen nicht länger öffnen und vielleicht auch an Supermärkten aufstellen solle. Doch gießen derlei Vorschläge eher Öl ins Feuer. Die Leute sind nicht „zu blöd“ oder „zu bequem“ zum Wählen, sie sind ratlos und misstrauisch gegenüber dem politischen Angebot. Insofern bekommen die Parteien – positiv gesehen – gerade eine gute Gelegenheit, um eine belastbare und lebenspraktische Politik in Angriff zu nehmen. Andernfalls werden diese Menschen auf lange Zeit für die parlamentarische Demokratie unerreichbar sein.
Gefragt ist in dieser Lage vor allem jene Partei, die traditionell die Heimat des in der Mitte beheimateten liberal-konservativen Bürgertums ist – die Union. Ist sie der Verantwortung, in unberechenbaren Zeiten der Gesellschaft einen wertkonservativen Halt zu geben und die Bevölkerung zusammenzuhalten anstatt sie sich unversöhnlich spalten zu lassen, gewachsen? Ist die Union überhaupt noch wertekonservativ? Was ist in Zeiten großer Veränderungen zeitgeistig und was beständig? Werden Wettbewerb, Freiheit und die Herrschaft des Rechts weiterhin die grundlegenden Prinzipien unserer Gesellschaft sein? Wir stehen vor der Sinnfrage unserer Gesellschaft.
Zur Debatte stehen ganz lebenspraktische Fragen – zur Integration ebenso wie zur Euro-Rettung und zur Stabilität des erreichten Wohlstandes. Es ist eben eine Kulturrevolution in einer Marktwirtschaft, wenn Sparguthaben durch die Zinsentwicklung praktisch ad absurdum geführt werden. Diese fundamentale Veränderung des Finanzsystems haben, mit Verlaub, nicht einmal Marx und Lenin auf den Weg gebracht.
Vielleicht hätten mehr schwarz-grüne Koalitionen neue Antworten entlang alter Werte zu geben vermocht, wo herkömmliche Wohlstandsverluste verarbeitet werden müssen. Die Sozialpolitik des 21. Jahrhunderts ist ja nicht die Rentenformel, sondern das ressourcenschonende Erwirtschaften eines angemessenen und verlässlichen gesellschaftlichen Wohlstands. Da werden sich beide Parteien entscheiden müssen. Doch letztlich werden alle Parteien beweisen müssen, dass sie auf derart hoher See zu navigieren und zu segeln verstehen. Sonst werden sie wohl in den nächsten Jahren auf die eine oder andere Art „wegspaziert“ werden – nicht nur in Dresden.