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Titelthema

Unterschiede, aber kein Konflikt

Titelthema - Unterschiede, aber kein Konflikt
Im Dezember 1989 lag eine schwere Dunstglocke aus Industrie-Emissionen über Leipzig (links). Nur wenige Jahre später ist der Blick auf den gleichen Stadtteil viel freundlicher (rechts): Dienstleistung statt Industrie, Bäume statt Beton, Weitsicht statt Smog. © Paul Langrock/Zenit/Laif

Die Verhältnisse in Ost und West haben sich mittlerweile stark angeglichen, doch es gibt noch Nachholbedarf. Zum Stand der Deutschen Einheit

Christian Hirte01.11.2019

Wir Deutschen und Europäer können uns glücklich schätzen über die Deutsche Einheit und den Aufbau Ost. Im Unterschied dazu wird mir die erhebliche Bedeutung und Richtigkeit dieser Aussage jährlich besonders dann vor Augen geführt, wenn ich mich als Ko-Vorsitzender des Deutsch-Koreanischen Konsultationsgremiums zu Vereinigungsfragen mit koreanischen Politikern und Experten über die deutsche Wiedervereinigung und die Situation auf der koreanischen Halbinsel austausche. Die Menschen in Korea müssen mit den Provokationen Nordkoreas und den Spannungen zwischen Nord- und Südkorea leben, von Zeit zu Zeit drohen sogar militärische Konflikte. Dies erzeugt Angst. Darüber hinaus ist die humanitäre Situation unbefriedigend. Nordkoreaner erleben politische Unterdrückung und die wirtschaftliche Situation ist alles andere als zufriedenstellend, vereinzelt wird über Hungersnöte in Nordkorea berichtet. Auch die dauerhafte Trennung von Familien ist ein Beispiel dafür, welche humanitären Folgen die Spaltung einer Nation hat.

Annäherung an Europa-Durchschnitt
Auch die wirtschaftliche Situation in ganz Deutschland ist verglichen mit vielen anderen Regionen in Europa und der Welt sehr gut. Das ist keineswegs selbstverständlich. Wir sollten uns daran erinnern, dass die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) mit ihrem alleinigen politischen Führungsanspruch die DDR an den Rand des wirtschaftlichen Ruins gebracht hat. Die Infrastruktur und der Kapitalstock der DDR waren veraltet, die Umweltverschmutzung hatte in einigen Regionen ein enormes Maß erreicht, die Städte und Dörfer hatten vielfach ein marodes Erscheinungsbild. 1991 betrug das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner in Ostdeutschland 43 Prozent und die Produktivität, also das Bruttoinlandsprodukt in jeweiligen Preisen je Erwerbstätigen, lag unter 25 Prozent der westdeutschen Vergleichswerte.

Mit dem Aufbau Ost sind beachtliche Erfolge gelungen. Erst kürzlich habe ich den Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit von 2019 der Öffentlichkeit vorgestellt. Zahlreiche Indikatoren zeigen, dass der Prozess der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West seit 1990 weit vorangekommen ist. Das gilt auch für die wirtschaftliche Entwicklung und die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Die ostdeutsche Wirtschaftskraft, gemessen als BIP je Einwohner, erreichte 2018 mit 74,7 Prozent des westdeutschen Niveaus einen um 0,6 Prozentpunkte höheren Wert als im Vorjahr. Seit 2010 haben sich damit die Unterschiede um weitere 3,1 Prozentpunkte verringert bei deutlich positiverer Entwicklung im Westen. Richtet man den Blick über die deutschen Grenzen hinaus, so zeigt sich: Die neuen Länder haben sich immer stärker dem europäischen Durchschnitt angenähert; ihre Wirtschaftskraft reicht von 83 Prozent des europäischen BIP pro Kopf in Mecklenburg-Vorpommern bis auf 98 Prozent für die Stadtregion Leipzig im Jahr 2017. Die ostdeutschen Regionen verfügen damit über eine Wirtschaftskraft, die mit der in vielen französischen, italienischen oder britischen Regionen vergleichbar ist.

Auch der Rückgang der Arbeitslosenzahlen ist bemerkenswert. In Ostdeutschland hat sich die Arbeitslosenquote inzwischen auf 6,9 Prozent (2018) reduziert und dem geringeren westdeutschen Niveau bis auf rund zwei Prozentpunkte angenähert.

Insgesamt ist es durch die große Aufbauleistung der Ostdeutschen und die einzigartige, solidarische Gesamtleistung des vereinten Deutschlands gelungen, Ostdeutschland zu einem attraktiven, mittelständisch geprägten und international wettbewerbsfähigen Unternehmensstandort zu entwickeln.

Nachholbedarf bei der Produktivität
Dennoch gibt es bis heute zwischen Ostund Westdeutschland Unterschiede, die eine besondere Strukturpolitik notwendig machen. Hierzu einige Daten: Der Vergleich der Produktivität belegt den Nachholbedarf Ostdeutschlands. Während der Abstand in der Produktivität zwischen Nord- und Süddeutschland 2017 rund sechs Prozentpunkte betrug, lag er zwischen Ost- und Westdeutschland bei 18 Prozentpunkten. Auch 30 Jahre nach dem Fall der Mauer hat noch kein ostdeutsches Flächenland die Produktivität des westdeutschen Landes mit der niedrigsten Produktivität erreicht.

In Ostdeutschland fehlen die Konzernzentralen großer Unternehmen und es besteht ein Mangel an großen Mittelständlern. Damit verbunden sind niedrigere Ausgaben der Unternehmen für Forschung und Entwicklung (FuE). Der Anteil der FuE-Ausgaben der Wirtschaft am Bruttoinlandsprodukt beträgt in den neuen Ländern 0,8 Prozent, in Westdeutschland 2,3 Prozent. Die ostdeutsche Industrie ist zudem insgesamt stärker auf Vorprodukte mit geringerer Wertschöpfung ausgerichtet als die westdeutsche.

In Bezug auf die demographische Entwicklung sind zwei Aspekte besonders herauszustellen: Zum einen ist Ostdeutschland im Vergleich zu Westdeutschland deutlich dünner besiedelt und zum anderen ist der Alterungsprozess der Bevölkerung – insbesondere aufgrund der Abwanderung nach der Deutschen Einheit – deutlich weiter fortgeschritten. Dies sorgt für besondere Herausforderungen, etwa mit Blick auf das Erwerbstätigenpotenzial und die Gesundheitsversorgung.

Allerdings stellt sich diese Problematik nicht nur in Ostdeutschland. Auch einzelne strukturschwache Regionen in Westdeutschland kennen diese oder ähnliche Problemlagen. Überwiegend handelt es sich bei diesen strukturschwachen Regionen um ländliche, dünn besiedelte Regionen. Aber Teile des Ruhrgebiets zeigen, dass auch Agglomerationsräume betroffen sein können, in denen sich der wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturwandel besonders niederschlägt.

Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung entschieden, nach dem Auslaufen des Solidarpakts II Ende 2019 ein neues, gesamtdeutsches Fördersystem zur Stärkung strukturschwacher Regionen im gesamten Bundesgebiet zu initiieren. Diese und weitere Maßnahmen für eine Politik zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse wurden in einer Kommission aus Mitgliedern der Bundesregierung, der Länder und der Kommunalen Spitzenverbände abgestimmt. Es bestand ein weitgehender Konsens für eine Politik, die regionale Unterschiede ausgleichen wird, politische Konflikte zeigten sich allenfalls in Detailfragen. Ziel dieser Politik ist übrigens keine Gleichmacherei. Es geht um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, nicht um völlige Gleichheit. Die Strukturen vor Ort sollen überall so gestaltet sein, dass eine angemessene Daseinsvorsorge gewährleistet ist. Damit bleibt genügend Raum für einen kreativen Wettbewerb der Regionen. Die Kernidee des avisierten neuen Fördersystems ist es, derzeit auf Ostdeutschland beschränkte Programme auf strukturschwache Regionen in allen Ländern auszuweiten. Dabei orientiert man sich an den entsprechenden Indikatoren der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (GRW). Einzelne bundesweit angebotene Förderprogramme erhalten neue bzw. erweiterte Förderpräferenzen zu Gunsten dieser Regionen. Das Engagement des Bundes umfasst dabei beispielweise die GRW selbst und weitere Förderprogramme der Investitions- und Wachstumsfinanzierung, die Innovationsförderung, die Breitbandförderung sowie Maßnahmen der ländlichen Entwicklung, des Städtebaus und der Daseinsvorsorge. Ein weiterer wichtiger Bestandteil dieser Politik für strukturschwache Regionen und für Ostdeutschland ist die Ansiedlung von Bundesbehörden. Die Bundesregierung ist bestrebt, mit der Ansiedlung von neuen Bundesbehörden strukturschwache und vom Strukturwandel besonders betroffene Regionen zu unterstützen.

Verständnis füreinander fördern
Ein großer Teil der ostdeutschen Bevölkerung bewertet die eigene wirtschaftliche Lage und die Lebensverhältnisse in Ostdeutschland als ähnlich gut wie in Westdeutschland. Es gibt aber auch Menschen, die unzufrieden sind und sich benachteiligt fühlen. Hierüber muss gesprochen werden, um das wechselseitige Verständnis und den Respekt in Ost und West zu fördern. Gerade westdeutschen Bürgerinnen und Bürgern sollte nahegebracht werden, was die völlige Umgestaltung der ehemaligen DDR den Ostdeutschen abverlangt hat. Deshalb wird die Bundesregierung die Jubiläumsjahre 2019/2020 mit der von ihr eingesetzten Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ nutzen, um den Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern über Erreichtes und noch nicht Gelungenes zu vertiefen und an die großen Leistungen zu erinnern, die die Friedliche Revolution in der DDR, den Mauerfall und die Deutsche Einheit ermöglicht haben.