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Grün und Schwarz

Verantwortung statt Verweigerung

Der lange schwierige Weg der Grünen zur politischen Mitte

Marieluise Beck01.06.2016

Seitdem die Grünen vor mehr als 35 Jahren gegründet wurden, haben sie einen weiten Weg zurückgelegt. Damit ist nicht nur die Teilnahme an unzähligen Wahlkämpfen und politischen Debatten gemeint, sondern vor allem die Auseinandersetzung mit Irrungen und Wirrungen, ohne die es Politik wohl kaum geben kann. Ein Prozess des Lernens durch die Konfrontation mit der Realität, in dessen Folge die Partei manch fundamentale Position aus ihrer Gründungszeit überdenken musste.

Irrungen und Wirrungen
Die Grünen wurden Anfang der 80er Jahre stark durch die Losung „Nie wieder Krieg“. Der Pazifismus schien die ethisch einzig mögliche Antwort auf die Verbrechen des Nationalsozialismus zu sein. Dass die Anti-Pershing-Kampagne, in der sich dieser Glaube manifestierte, nur in Teilen pazifistisch und in anderen Teilen eine durchaus zwiespältige Protestbewegung gegen die USA und die NATO war, habe ich – wie viele Mitstreiter – zu jener Zeit nicht durchschaut.

Erst die Kriege im zerfallenden Jugoslawien stießen mich mit Wucht auf die Erkenntnis, dass der Pazifismus mitnichten die einzig legitime Antwort auf die Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus sein kann. Denn neben das „Nie wieder Krieg“ muss das „Nie wieder Völkermord“ gestellt werden. Und letzteres fordert uns auf, die Perspektive der Opfer einzunehmen und uns aktiv gegen die Täter zu stellen. Es waren die Menschen in den eingeschlossenen Städten Bosniens, die mich fragten, wann wir ihnen, den Unbewaffneten, endlich Schutz gewähren würden. Sie stellten zurecht die Frage, welcher Ethik der Westen folgte, wenn er zwar Blauhelme schickte, diesen aber nicht das Mandat erteilte, die Verfolgten zu schützen. Die Staatengemeinschaft entschloss sich erst zum Handeln, als in Srebrenica 8.000 Männer aus den Händen von UNO-Soldaten entführt und ermordet wurden.

Der Schriftsteller Peter Schneider war es, der in diesem Zusammenhang an die deutsche Linke eine unangenehme Frage richtete: Wie kommt Ihr dazu, jeglichen Einsatz von Waffen als illegitim zu bezeichnen, wo doch die Polen, die Franzosen, die Briten, die Belgier, die Amerikaner und die Sowjets sich nur mit Waffengewalt gegen die deutsche Aggression wehren konnten? Peter Schneider wies darauf hin, dass sich damit mancher Linke an der Seite seines nationalsozialistischen (Täter-)Vaters wiederfand, wenn er die militärische Gegenwehr der antifaschistischen Koalition auf eine Stufe mit der Gewalt des NS setzte. Es ist kein Zufall, dass der polnische Jude Marek Edelman laut und deutlich nach dem militärischen Schutz der bedrängten Bosniaken rief. Tadeusz Mazowiecki legte aus Protest gegen das ignorante Wegsehen des Westens sein Mandat als Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen nieder.

Das Drama von Bosnien lehrte mich, dass eine gewaltsame Aggression anders zu werten ist, als der Einsatz von Gewalt zur Abwehr einer Aggression. Wenn, wie in Bosnien, die Staatengemeinschaft einem bedrängten Volk etwa durch ein Waffenembargo das Recht auf Selbstverteidigung abspricht, dann hat sie die Verpflichtung, dessen Schutz zu gewähren. Der Grundsatz des „responsibility to protect“ gehört zu einer ethisch geleiteten Politik. Auch wenn das den Einsatz von militärischer Gewalt erfordert. Es gibt eine Verpflichtung, genozidaler Gewalt in den Arm zu fallen, notfalls auch mit Waffen.

Empathie für die Ukraine
Ein anderer großer Lernprozess war für mich die Revolution auf dem Kiewer Majdan. Solange der Majdan bunte und fröhliche Bilder lieferte, gab es viel Sympathie für die, die von sich sagten: „Wir wollen nach Europa“ – und damit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit einforderten. Doch der Blick auf die Ukraine trübte sich schnell. Die aus Moskau gesteuerte Kampagne, der Majdan sei von rechts unterwandert, antisemitisch und durchsetzt von „Faschisten“, traf in Deutschland auf viel Resonanz. Und so gelang es der russischen Propaganda, Schritt für Schritt eine klare Haltung zum ukrainischen Freiheitskampf zu verwischen.Nicht einmal ganz offensichtliche Unwahrheiten wurden vom Westen deutlich zurückgewiesen. Lange konnte der Kreml behaupten, es gäbe keine russischen Soldaten auf ukrainischem Boden – bis der russische Präsident selbst sich der Heldentaten seiner Soldaten bei der Übernahme der Krim brüstete. Bis heute wird lieber von der „Krise im Donbass“ gesprochen, als von einem unerklärten Krieg gegen die Ukraine. Und die Aufforderung, dass beide Seiten an den Verhandlungstisch zurückkehren müssten, insinuiert eine gleichermaßen verteilte Verantwortung für diesen Konflikt. Doch nicht die Ukraine hat Russland angegriffen, sondern Russland die Ukraine. Diese Tatsache geht im öffentlichen Raum zunehmend verloren.

Deutschland spielt in dieser Frage eine zentrale Rolle. Die Akteure in Moskau scheinen die deutsche Befindlichkeit besser zu kennen als wir uns selbst. So war es zunächst die Linke, die die russische Propaganda in den politischen und öffentlichen Raum in Deutschland getragen hat. Heute tut das wie in anderen Ländern Europas mit Front National, Ukip und Jobbik auch in Deutschland die politische Rechte, namentlich die AfD. Das ist nur verständlich, wenn man die tiefsitzenden Unterströmungen in namhaften Teilen der deutschen Gesellschaft identifiziert: Antikapitalismus (dazu gehören die Ressentiments gegen der USA und Israel), Antiparlamentarismus und Antiliberalismus. Alle drei Strömungen werden von Rechts und Links geteilt. Damit wird die Politik des Kremls auch bei uns anschlussfähig. Die antiliberale Haltung von Präsident Putin, die Homophobie, der heroische Nationalismus, das konservative Familienbild, das Zusammengehen mit der orthodoxen Kirche bergen Angebote an die antimodernen Kräfte, deren Resonanzboden in Deutschland offenbar stärker ist, als wir gedacht haben.

Haltung für Europa und den Westen
Im Zusammenhang mit den antimodernen Kräften müssen wir auch über den weiterhin in Deutschland vorhandenen Antisemitismus sprechen. Jenseits des religiös grundierten Antijudaismus spielt der Antikapitalismus eine bedeutende Rolle als geistiger Nährboden für den Antisemitismus. Der Kapitalismus steht für das Transnationale und Kosmopolitische, mit dem die jüdische Kultur der Diaspora identifiziert wurde. Das gilt auch für die Gleichsetzung von Geldherrschaft und Judentum. Dazu kam die Verdammung Israels als Speerspitze des sogenannten „westlichen Imperialismus“. Vor diesem Hintergrund verwundert nicht, dass die den Antifaschismus reklamierende DDR Israel niemals anerkannte. Das weit verbreitete Gefühl in der Linken, sie sei, weil antifaschistisch, damit quasi genetisch vor dem Antisemitismus geschützt, ist ein Irrtum.

Wenn wir den tiefen Wunsch nach deutsch-russischer Verbundenheit verstehen wollen, sind die Gründe dafür im Bereich von Kultur und Identität zu suchen. Deutschland und Russland – das ist die vermeintliche Seelenverwandtschaft von deutscher Innerlichkeit und tiefer russischer Seele – Goethe und Dostojewski – als Gegenpol zum vermeintlich oberflächlichen amerikanischen Materialismus. Die Auseinandersetzung um die Ukraine hält uns in Deutschland einen Spiegel vor, in dem wir alle diese Momente entdecken können, wenn wir bereit sind, hinzuschauen. Doch wir beginnen sehr zögerlich zu begreifen, wie stark die langen Linien des antiwestlichen Denkens in Deutschland nach wie vor fortwirken.

Der Historiker Timothy Snyder hat uns daran erinnert, dass die deutsche Vernichtung im Zweiten Weltkrieg im Wesentlichen in den Zwischenländern, also in den Ländern zwischen Berlin und Moskau stattgefunden hat. Er hat auf die Verwüstungen hingewiesen, die beide totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts mit dem Hitler-Stalin-Pakt auf dem Territorium Polens, der Ukraine und Weißrusslands angerichtet haben. Dies sollte gerade uns in Deutschland bewusst machen, dass wir gegenüber der Ukraine, dem Land, das jetzt für seine Freiheit und eine europäische Zukunft kämpft, eine große historische Verantwortung haben. Die fehlende Empathie gegenüber der Ukraine, der tief sitzende Wunsch nach Bruderschaft mit Russland in unserer Gesellschaft, hat bei mir das Gefühl wachsen lassen, dass Deutschland in eine nächste Runde der historischen Aufarbeitung gehen muss.

Das gilt auch für die Europäische Union. Wer eine Neuaufteilung Europas in eine westliche und eine östliche, von Russland dominierte Sphäre akzeptiert, schreibt die in Jalta verhandelte Teilung des Kontinents fort. Nicht das postimperiale Deutschland und das neoimperiale Russland sind die geborenen Partner in Europa. Europa bedeutet auch den Osten in seiner gesamten Vielfalt. Wir werden erst dann von „Europa“ sprechen können, wenn gerade die kleineren Nationen, denen in vielen historischen Verirrungen und Schicksalsschlägen ihre Eigenständigkeit abgesprochen wurde, als Teil der europäischen Vielfalt von uns respektiert werden.

Marieluise Beck
Marieluise Beck ist Mitglied des Deutschen Bundestags und Sprecherin für Osteuropapolitik der Fraktion Bündnis90/Die Grünen. Sie war von 2002 bis 2005 parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie von 1998 bis 2005 Ausländerbeauftragte der Bundesregierung. Seit 2015 sitzt sie im Lenkungsausschuss des deutsch-russischen Gesprächskreises Petersburger Dialog. www.marieluisebeck.de