Interview
„Verbitterung hat mich nie begleitet“
Im Gespräch mit Hans Modrow. Über seine ursprüngliche Idee für eine Treuhand und möglich gewesene Optionen zur Rettung der DDR-Wirtschaft
Zur Person
Hans Modrow war von November 1989 bis April 1990 Vorsitzender des Ministerrats der DDR. Von 1990 bis 1994 war er Abgeordneter des Deutschen Bundestags und von 1999 bis 2004 des Europaparlaments. 2008 erschien im Verlag Edition Ost „Treuhandanstalt – Liquidatoren“ von Ralph Hartmann mit zwei Vorworten von Hans Modrow.
Herr Modrow, im März 1990 legte die von Ihnen geführte DDR-Regierung einen Vorschlag zur Gründung einer „Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums“ vor. Welche Absichten verbanden Sie damit?
Ich hatte am 30. Januar 1990 im Gespräch mit Gorbatschow in Moskau einen Dreistufenplan zur Wiedervereinigung Deutschlands vorgelegt. Die sowjetische Seite stimmte dem zu. Von da an war klar, dass sich zwei unterschiedliche Gesellschaftsordnungen aufeinander zubewegen werden und dabei die Eigentumsfrage eine wesentliche Rolle spielen wird. In unserem Gesetz vom 1. März 1990 formulierten wir die Wahrung des Volkseigentums als Ziel. Das stand in vollständigem Gegensatz zum Treuhandgesetz vom 17. Juni 1990, in dem nun die „Privatisierung des volkseigenen Vermögens“ als Aufgabe der Treuhand genannt wurde.
Zwischen beiden Terminen lag die Wahl zur letzten Volkskammer, aus der eine andere Regierung hervorging.
Richtig: Die neue Regierung verfolgte vollständig andere Ziele. Ihr Grundsatz Privatisierung vor Sanierung und Rückgabe vor Entschädigung hatte die fürchterlichsten Konsequenzen in der ostdeutschen Wirtschaft zur Folge, die bis heute nachwirken. Diese Privatisierung brachte eine 85-prozentige Übergabe des Eigentums an westdeutsche Konzerne und Unternehmer. Zehn Prozent sind Eigentum internationalen Kapitals geworden. Und nur fünf Prozent des Volkseigentums der DDR gingen in die Hände ostdeutscher Bürgerinnen und Bürger. Während die Regierung, die ich zu verantworten habe, versuchte, den Vereinigungsprozess möglichst souverän und zum Wohle der Bürger der DDR zu gestalten, betrieb die Regierung von Lothar de Maiziere nur noch eine Übergabe der DDR und ihres Vermögens.
In der Rückschau wird oft argumentiert, dass der seit Juni 1990 gegangene Weg alternativlos war. Nicht zuletzt, weil sich der Zustand der DDR- Wirtschaft rapide verschlechterte.
Das sehe ich anders. Die Konzeption einer Vertragsgemeinschaft, die wir am 17. Januar 1990 an Helmut Kohl übergeben haben, enthielt ja politische und ökonomische Reformschritte. Unser Ansatz war, zuerst eine Konföderation zu bilden und dann, nach drei oder vier Jahren, eine staatliche Vereinigung. Dieser Weg hätte ein Implodieren der DDR-Wirtschaft, zu dem es ab dem Sommer 1990 kam, vermieden.
Ab wann hatte die DDR den Einfluss auf die eigene Wirtschafts- und Finanzpolitik verloren?
Eigentlich nie, zumindest in meiner Verantwortung nicht. Christa Luft und ich haben im Dezember 1989, das ist alles in Archiven nachlesbar, eine Beratung der Generaldirektoren aller Kombinate der DDR durchgeführt. Dort haben wir eine ganz entscheidende Weichenstellung vollzogen. Wir hoben das in der DDR geltende staatliche Außenhandelsmonopol auf, und die Kombinate sollten ihre Wirtschaftsbeziehungen eigenständig mit ihren Partnern im westlichen und sozialistischen Ausland gestalten können.
Wie sich später herausstellte, sind ja alle Erklärungen über eine bankrotte DDR-Wirtschaft von der Bundesbank im Jahre 1991/92 nicht bestätigt worden. Die Schuldenbilanz der DDR lag bei etwa zwanzig Milliarden D-Mark Verbindlichkeiten. Die Bundesbank hatte, so wie es sich gehört, auch das Vermögen der DDR gegengerechnet, zum Beispiel Forderungen gegenüber der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten. Das ergab ein ganz anderes Bild. Noch Anfang der neunziger Jahre haben die Werften Schiffe und die Fabriken Eisenbahnzüge und Transportfahrzeuge in die Sowjetunion geliefert. Interessanterweise hat die Regierung Kohl die Außenstände der DDR in die Verhandlungen mit der Sowjetunion und Russland über die Einheit und später den Abzug der Russen eingebracht.
Warum ist dennoch das Vermögen der DDR bei den Verhandlungen zur Einheit nicht berücksichtigt worden?
Weil die Politik des Bundeskanzlers Kohl das nicht wollte. Stattdessen ist die Treuhand den Weg gegangen, das vormals staatliche Eigentum in hohem Maße zu verschleudern. Wenn in Oberhof oder auf dem Fichtelberg Hotels für eine Mark übergeben wurden, dann ist ja wohl offenkundig, dass die neuen Eigentümer Geschenke bekommen haben. Der Ministerpräsident von Thüringen, Bodo Ramelow, hat jetzt mit einem Mal gefordert, man müsse die kriminelle Seite der Treuhand neu untersuchen. Doch wir müssen auch sehen, dass die Politik durchaus die Räume dafür gegeben hat, dass kriminelles Geschehen möglich wurde.
Wie haben Sie die Akteure aus dem Westen wahrgenommen, die ab dem Sommer 1990 in die DDR kamen?
Es gibt drei Akteure, die man beachten sollte. Der erste ist Reiner Maria Gohlke, der im Juli und August 1990 der erste Präsident der Treuhandanstalt war. Gohlke hat die Lage analysiert – und er war nicht bereit, die Aufgabe anzunehmen, weil er mehr soziales Denken hatte als es der Auftrag ermöglichte.
Dann wurde Detlev Karsten Rohwedder eingesetzt, mit dem ich – als Abgeordneter des Deutschen Bundestages, der ich ab 1990 war – mehrere Begegnungen hatte. Rohwedder hat das Eigentum der DDR in etwa der gleichen Höhe eingeschätzt wie wir auch. Er war keineswegs darauf aus, die staatlichen Betriebe einfach nur schnellstmöglich zu verkaufen, sondern war durchaus bereit, ihnen eine Chance zur Weiterentwicklung zu geben. Seine Ermordung war – neben der menschlichen Tragödie – für den Wirtschaftsstandort Ost verheerend.
Unter seiner Nachfolgerin Birgit Breuel wird dann ein Freiraum geschaffen, der nie aufgedeckt wurde. Das gleiche gilt auch für Leute wie Klaus von Dohnanyi, der ein großes Kombinat, die TAKRAF, aufgelöst hat und bis heute gern herumschwadroniert. Ich will keine Mußmaßungen anstellen, aber mich würde schon interessieren, welchen – auch persönlichen – Gewinn die Liquidatoren der Treuhand durch ihre Arbeit hatten.
In welchem Zustand befanden sich die Betriebe der DDR 1989/90?
Grundsätzlich gilt für die DDR-Wirtschaft, dass sie durch eine soziale Akkumulation, wie wir es nannten, überfordert war. Die Preise, die die Betriebe für ihre Leistungen erhoben, stimmten ja nicht mit den Aufwendungen überein. Das beste Beispiel dafür sind die niedrigen Wohnungsmieten, die einfach vom Staat vorgegeben waren. Somit fehlten die Mittel für Investitionen und die Weiterentwicklung der Wirtschaft.
Hinzu kommt, dass die Kombinate gänzlich anders strukturiert waren als westliche Konzerne. Ich habe Anfang der 90er Jahre einmal Edzard Reuter getroffen und ihn gefragt, welche Profite er denn hätte, wenn Daimler-Benz das Theater in Stuttgart unterhalten, ein Krankenhaus finanzieren und Häuser für die Mitarbeiter bauen müsste. Da guckte er mich fragend an. Doch genau dafür sind die Gewinne der großen Konzerne der DDR eingesetzt worden. Sie unterhielten eigene Kulturhäuser und Polikliniken sowie Ferienheime und Sportgemeinschaften. Wenn man Systeme miteinander zusammenführen will, dann muss man auch die Brücken suchen. Doch das alles ist vor allem von der Politik ignoriert worden.
Hätten die Kombinate unter anderen Bedingungen überleben können?
Durchaus. Doch mit der übereilten Einführung der D-Mark brachen über Nacht ihre Absatzmärkte weg. Deswegen hatte meine Regierung auch einen Dreistufenplan vorgelegt, der vier, fünf Jahre für die Umstellung vorsah. Doch selbst nach der Währungsunion hätte es meiner Überzeugung nach noch Alternativen zu einem Zusammenbruch gegeben. Man hätte zum Beispiel über Hermes-Kredite die DDR-Betriebe kurzfristig mit Liquidität versorgen und ihnen so einen Start in die neue Zeit ermöglichen können. Doch die westdeutsche Politik verfuhr nach dem Grundsatz, dass der Osten marode und von dort nichts zu erwarten ist. Der Westen sah sich als Sieger im Kalten Krieg und wollte diesen Sieg auch auf dem Gebiet der Wirtschaft demonstrieren. Zudem bot der Zusammenbruch der Ost- Wirtschaft den westlichen Konzernen gleichermaßen neue Absatzmärkte und neue, wesentlich günstigere Produktionsstandorte.
In welchen Bereichen wäre die DDR-Wirtschaft auch nach 1990 konkurrenzfähig gewesen?
Das war zum Beispiel der Landmaschinenbau. Wir waren zwar keine Konkurrenz auf den freien Weltmärkten, aber in den Entwicklungsländern konnten wir die westlichen Konzerne durchaus mit unseren Preisen unterbieten. Konkurrenzfähig waren wir auch im Schiffbau, zum Beispiel im Bau von Trawlern in der Hochseefischerei. Die große Sowjetunion hat über fünfzig Prozent ihrer Hochseeschiffe aus den Werften vor allem in Stralsund bezogen. Von dort sind denn ja auch vom neuen Eigentümer hunderte Millionen EU-Fördermittel abgezweigt worden, um die Bremer Vulkan-Werft zu retten (was freilich die Bremer auch nicht gerettet hat). Was bei der Bewertung der DDR- Wirtschaft so gut wie nie beachtet wird, ist, dass lange vor 1989 zahlreiche Betriebe für West- Firmen produzierten. Diese hatten also bereits ihre Abnehmer auf den freien Märkten, hätten jedoch einfach mehr Zeit für die Umstellung benötigt.
Was denken Sie heute, wenn Sie durch die Orte und Regionen fahren, die einmal die DDR waren?
Was entstanden ist an Neubauten, auch die großen Zentren zur Versorgung der Menschen oder auch die Sanierung der Altstadtkerne, tut den Menschen zweifelsohne gut. Wenn man genauer hinschaut, kann man leider auch eine andere Entwicklung beobachten. Gerade in den kleinen Orten sind meist die Läden weg, die Post, die Grundschulen, die Kindergärten, die Bibliotheken und auch die Behörden. Deshalb habe ich erst im Juni auf dem Parteitag der Linken gesagt, dass wir einen neuen Ansatz für die Zukunftsentwicklung im Osten Deutschlands entwickeln müssen. Darin sollte neben der Wirtschaft auch der soziale Wohnungsbau und viele andere Fragen stehen. Dann brauchen wir nicht länger darüber zu diskutieren, warum in einem Gebiet, das 1990 16,3 Millionen hatte, heute nur noch 14,5 Millionen Menschen leben. Die Metropolen wie Berlin, Dresden oder Leipzig dürfen nicht verdecken, dass in Mecklenburg, in Brandenburg und Sachsen-Anhalt viele Regionen zunehmend entvölkert sind. Wenn sich hier nichts bewegt, brauchen wir uns über die Erfolge der AfD nicht zu wundern.
Sie haben im Laufe unseres Gesprächs viel Verbitterung gezeigt über die Entwicklung nach 1990. Ihre letzte Antwort klang jedoch zum Teil versöhnlicher. Haben Sie Ihren Frieden gemacht mit der Geschichte?
Das Wort Verbitterung hat mich nie begleitet. Mir ging es immer darum, die Dinge realistisch zu bewerten. Wir müssen endlich die Reife bekommen in Deutschland, Geschichte so wahrzunehmen wie sie gelaufen ist, und nicht
ständig behaupten, dass die einen gesiegt und die anderen verloren haben und dass man Verlierer nicht achten muss.
Auch wenn die Städte und Dörfer im Osten Deutschlands heute äußerlich leuchten, müssen wir erkennen, dass eine ganze Generation unter der Anpassung schwer zu leiden hatte. Ich trete dafür ein, dass unsere Enkel und Urenkel nicht nur hören, dass ihre Großväter und Urgroßväter dumme Versager waren.
Das ist das Einzige, was mich in dieser Hinsicht beschäftigt. Ansonsten trage ich meine persönliche Geschichte mit einer ziemlichen Gelassenheit. Sonst „könnte“ ich mir einen offenen Blick für eine reale Analyse überhaupt nicht bewahren.