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Standpunkt

Verlust der Einzigartigkeit

Standpunkt - Verlust der Einzigartigkeit
Bernd Koob © Foto-Schmidt/Gera

Die vielen Spendenaufrufe bei akuten Krisen drohen das Herzstück Rotarys zu schwächen, den Annual Fund der Foundation.

Bernd Koob01.04.2023

Ist Rotary auch Katastrophen-Ersthelfer?“ Diese Frage stellte ich 2004 nach dem Tsunami in Sri Lanka, 2010 nach dem verheerenden Erdbeben auf Haiti und 2013 nach der Hochwasserkatastrophe in Thüringen und Bayern. Ich verneinte damals die Frage. Und heute? Wir haben mit der Flutkatastrophe im Juli 2021 in Westdeutschland und seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine 2022 neue Erfahrungen gesammelt. Alle Distrikte und viele Clubs riefen zu Spenden für Flutopfer, Geflüchtete und für Hilfsprojekte auf. Aufgrund der Erdbeben, die Teile der Türkei und Syriens verwüstet haben, werden seit Februar 2023 wieder Spenden nach einer Naturkatastrophe gesammelt. Über den Turkey/Syria Disaster Response Fund können für humanitäre Hilfsmaßnahmen Mittel verwendet werden, um den Menschen zu helfen, die dringend eine Unterkunft, medizinische Versorgung und andere lebensnotwendige Dinge benötigen.

Sosehr uns die Bilder, die uns aus dem Katastrophengebiet erreichen, erschüttern, wir als rotarische Gemeinschaft müssen ehrlich zu uns selbst sein. Uns fehlen die Voraussetzungen, unmittelbar nach einem Katastrophenfall zu helfen. Um es klar zu sagen, Rotarierinnen und Rotarier sind quasi verpflichtet, zu spenden, um Hilfe leisten zu können. Aber nicht als Ersthelfer! Wir müssen bei Katastrophen drei Faktoren berücksichtigen.

Andere finanzielle und technische Ausstattung

Erstens, wir sind mit dem Einsammeln von Spenden nicht allein. Über hundert Organisationen haben für die Flutkatastrophe zu Spenden aufgerufen, hundertfünfzig werben um Spenden für die Ukraine und ebenso viele für die Erdbebenopfer. Immer dabei die drei großen Mitgliedsorganisationen Caritas International, Deutsches Rotes Kreuz und Diakonie Katastrophenhilfe. Diese Organisationen verfügen über die finanzielle und technische Ausstattung, um aus dem Stand ihre Tätigkeit in ein Einsatzgebiet zu verlegen.

Zweitens droht ein Kompetenzgerangel zwischen Distrikt und einzelnen Clubs, wer die Gelder verwalten darf, wie es nach der Flutkatastrophe zunächst im Distrikt 1810 der Fall war. Zudem dürfen die von Rotary gesammelten Mittel auch nur für den geworbenen Zweck ausgegeben werden. Das führt im schlimmsten Fall dazu, dass Gelder über viele Monate hinweg nicht abgerufen werden. In den Töpfen von „Aktion Deutschland hilft“ und dem „Aktionsbündnis Katastrophenhilfe“ warten noch immer mehr als 187 Millionen Euro Spendengelder für die Opfer der Flutkatastrophe 2021 darauf, abgerufen zu werden. Dass dies bei Rotary besser funktioniert hat, ist allein ehrenamtlichem Engagement zu verdanken. Doch was, wenn diese Ehrenamtlichen fehlen?

Drittens erkenne ich in meinem Distrikt 1950 – und dieser ist nicht der einzige –, dass die Spenden an den Annual Fund zurückgegangen sind. Der insgesamt leichte Rückgang, den RDG bestätigt, ist auf das hohe Spendenaufkommen zugunsten der Flut- und Ukraine-Hilfe zurückzuführen. Dieser Trend darf sich nicht verstärken. Dabei sollte jedes Rotary-Mitglied 100 Dollar pro Jahr an die Foundation spenden („Every Rotarian Every Year“), so die „dringende Empfehlung“ von RI. Damit werden weltweit im Rahmen der sieben Schwerpunktbereiche Projekte verwirklicht, die helfen, die Welt jeden Tag ein Stück lebenswerter zu machen. Mit dem Global-Grant- und Dis trikt- Grant- Sys tem sind wir – neben dem Jugendaustausch – einzigartig auf der Welt. Dieses Alleinstellungsmerkmal geben wir immer mehr auf, und damit verliert Rotary seine Identität.

Es ist bedauerlich, dass die Global Grants laut RDG um fast 50 Prozent zurückgegangen sind. Rotary-Mitglieder sagen mir immer wieder, dass Antragstellungen zu kompliziert, die Hürden zu hoch seien und die Zeit bis zur Genehmigung sehr lange dauere. Das kann ich nicht bestätigen. Die Past-Governor Daniela Singer, Rüdiger Götz und ich haben im vergangenen Jahr in Bosnien-Herzegowina zwei Global Grants realisiert: Eine Wäscherei zur Schaffung von Arbeitsplätzen für benachteiligte Menschen und zur Unterstützung Geflüchteter im Bereich Hygiene sowie den Aufbau eines ambulanten Dienstes für behinderte Menschen. Aus den für diese Projekte eingeworbenen 47.000 Euro wurden mithilfe der Rotary Foundation über 200.000 Euro. Als wir den Bus in Goražde übergeben hatten und die Wäscherei eröffneten, spürten wir das Einzigartige an Rotary. Der Global Grant ist die Königsklasse von Rotary, die Spende an die Foundation die Grundlage. Bei Katastrophenhilfe sind wir eine Organisation von Hunderten. Was bleibt als Fazit? Besinnen wir uns wieder auf das, was Rotary seit Jahrzehnten stark und unverwechselbar macht.

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Bernd Koob
Bernd Koob, RC Gera-Osterland, war 2013/14 Governor im Distrikt 1950. Als Oberstleutnant der Bundeswehr sammelte er in Krisengebieten viele Erfahrungen.