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Millionen Christen weltweit gedachten des emeritierten Papstes: Trauerfeier in Prag am Todestag Benedikts XVI. © ondrej deml/picture alliance/dpa/ctk

Benedikt XVI. wünschte sich eine entschlackte Kirche, entschieden im Glauben, schlank in den Strukturen, intellektuell satisfaktionsfähig, zugleich nah bei den Armen, spirituell und geerdet. Was bleibt von seinem Leben?

Alexander Kissler01.02.2023

Fast zehn Jahre nach seinem Rücktritt starb am letzten Tag des Jahres 2022 mit Benedikt XVI. der erste deutsche Papst seit rund 480 Jahren. Allein deshalb und dann auch durch seine frei gewählte Demission war Joseph Ratzinger eine bedeutende Gestalt der Geschichte. Ein großer Denker war er, ein pointierter Theologe, zugleich ein Übergangspapst, der um seine Grenzen und Schwächen wusste. Bereits bei der Amtsübernahme im April 2005 bekannte der 78-Jährige, im Konklave zu Gott gebetet zu haben: „Tu mir dies nicht an! Du hast Jüngere und Bessere, die mit ganz anderem Elan und mit ganz anderer Kraft an diese große Aufgabe herantreten können.“


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Als er das höchste Amt, das die römisch-katholische Kirche zu vergeben hat, im Februar 2013 niederlegte, knüpfte er daran an: „Die Kraft des Körpers als auch die Kraft des Geistes“ hätten „in den vergangenen Monaten derart abgenommen, dass ich mein Unvermögen erkennen muss, den mir anvertrauten Dienst weiter gut auszuführen“. Er zog sich zurück in ein ehemaliges Kloster innerhalb der vatikanischen Mauern, meldete sich dann und wann mit Beiträgen und Aufsätzen zu Wort. Er wäre gerne Gelehrter geblieben.

Auf Distanz zum Heimatland

Der Tod historisiert jedes Leben. Ratzinger, der 1927 in Marktl am Inn geborene, in Tittmoning, Aschau und Traunstein aufgewachsene Polizistensohn, dachte vom Ende her. In der Dissertation beschäftigte er sich 1955 mit der Eschatologie, der Lehre von den Letzten Dingen, in seiner ersten Predigt als Erzbischof von München und Freising 1977 wählte er als Fluchtpunkt den eigenen Tod. Der späte Ratzinger malte sich das Paradies in den Farben der Kindheit aus. Zeitlebens war er Bayer, Katholik und Abendländer, erst danach Deutscher. Zum Heimatland blieb er innerlich ebenso auf Distanz wie dieses zu ihm.

Zwei gedankliche Bewegungen hielten sein öffentliches Wirken zusammen. An die eigene Kirche gerichtet war die Mahnung, sich nicht der Welt anzugleichen, sondern christliche Kontrastgesellschaft zu bleiben. Nach außen warb er dafür, im Relativismus der Werte nicht den Unterschied von Gut und Böse aufzugeben. Es gebe nun einmal, so Ratzinger, Dinge, die immer schlecht seien, und solche, die ewig gut blieben. Kein Prozedere vermöge daran etwas zu ändern, auch nicht in der Demokratie, die ansonsten auf ordentlichem Verfahrensweg das Böse organisieren könnte. Darum sprach er 2011 im Deutschen Bundestag über die „Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaats“ und gelangte zur Forderung, in der Natur und der Vernunft, nicht allein in der Mehrheit Quellen der Wahrheit zu sehen. Oft wandte Benedikt sich gegen, wie er es formulierte, „das Erlaubtsein der Abtreibung, der Euthanasie und der hemmungslosen genetischen Experimente“.

Flucht vor der Verantwortung

Die Mittwochsaudienzen machte der Gelehrte im Papstornat zu Vorlesungen über bekannte und weniger bekannte Figuren der Kirchengeschichte und die kirchliche Lehre. Nachfolger Franziskus ist ihm in dieser wie in mannigfach anderer Hinsicht nicht gefolgt. Als Benedikt sich über mehrere Wochen mit herausragenden Frauen der Kirche beschäftigte, überwogen die Mystikerinnen, etwa Hildegard von Bingen, Mechthild von Hackeborn, Teresa von Jesus, Angela von Foligno, Juliana von Norwich, Veronica Giuliani. Ratzinger selbst hatte einen mystischen Zugang zum Glauben, da er dem Ringen um die normativen Grundlagen des Zusammenlebens die Notwendigkeit zur Seite stellte, sich nach innen zu wenden, dem Gewissen, dem „hörenden Herzen“ praktisch Raum zu verschaffen – keine Aktion ohne Kontemplation. Folgerichtig schloss Benedikt Europa und Abendland kurz: „Das, was die Kultur Europas gegründet hat, die Suche nach Gott und die Bereitschaft, ihm zuzuhören, bleibt auch heute Grundlage wahrer Kultur.“ So klang es in Paris bei einem Treffen mit Kulturschaffenden.

Die Reisen 2008 in die Vereinigten Staaten und nach Frankreich, 2009 ins Heilige Land, 2010 nach Großbritannien und 2011 nach Deutschland waren Wegmarken eines Pontifikats, das, je länger es dauerte, von der Missbrauchskrise überschattet, von Intrigen verdüstert, von Umtrieben in der Vatikanbank belastet wurde. Dass weder die Personalführung noch das harte Wort zu seinen Stärken gehörte, bekannte Ratzinger. Er war nicht immer, was der römische Bischof laut überliefertem Titel auch sein muss, „oberster Brückenbauer der Weltkirche“ und regierender Fürst. Die Demission kann als Flucht vor der Verantwortung gesehen werden, als Bestätigung seiner Sorge aus der Messe zur Amtseinführung: „Betet für mich, dass ich nicht furchtsam vor den Wölfen fliehe.“

In den USA traf sich Benedikt mit Missbrauchsopfern, besuchte die Jüdische Gemeinde, stattete Ground Zero einen Besuch ab und redete vor den Vereinten Nationen. Dabei machte er sich für das Prinzip der Schutzverantwortung stark: Wenn Staaten ihre Bevölkerung nicht „vor schweren und wiederholten Verletzungen der Menschenrechte“ schützen könnten, dürfe „die internationale Gemeinschaft mit den von der Charta der Vereinten Nationen und anderen internationalen Übereinkommen vorgesehenen rechtlichen Mitteln eingreifen“. Vermutlich stünde Benedikt heute deutlicher an der Seite der Ukraine als Franziskus. Nach der USA-Reise lobte die New York Post Benedikts „Charisma der Ehrlichkeit“ und kreierte die Zeile „What a hit, what a trip, what a triumph!“. Auch in Frankreich korrigierte Ratzinger das Bild vom unversöhnlichen Dogmatiker, das ihm besonders im deutschen Sprachraum anhaftete. Er warnte vor der „Gier nach Besitz, nach Macht und sogar nach Wissen“.

Die Entweltlichung als Kernthese

Ehe er im September 2010 nach Großbritannien aufbrach, sandte er den Katholiken in Irland einen Brief. Dort hatten sich besonders viele schwerwiegende Fälle sexuellen Missbrauchs ereignet. Den Bischöfen riet der Papst zu „entschiedenen Handlungsweisen, umgesetzt in voller Aufrichtigkeit und Transparenz“. Es könne nicht geleugnet werden, „dass einige von Euch und von Euren Vorgängern bei der Anwendung der seit Langem bestehenden Vorschriften des Kirchenrechts zu sexuellem Missbrauch von Kindern versagt haben. Schwere Fehler sind bei der Behandlung von Vorwürfen gemacht worden.“ In den Orden hätten sich „Verbrechen“ ereignet, Priester „immenses Leid“ über die Opfer gebracht: „Im Namen der Kirche drücke ich offen die Schande und die Reue aus, die wir alle fühlen.“ In der Tat rief Benedikt eine Null-Toleranz-Politik aus, zentralisierte die Verfahren, laisierte Priester. Er tat viel. Tat er genug? Darüber gehen die Meinungen auseinander.

Im Herbst dann, in Edinburgh, Glasgow, London, geriet die viertägige apostolische Reise, kulminierend in der Seligsprechung John Henry Newmans, zur vergleichsweise gelösten Angelegenheit. Die Sunday Times schrieb, Benedikt habe sich nicht als Rottweiler, sondern als „heiliger Großvater“ gezeigt. Benedikts „großen moralischen Mut“, die Missbrauchsfälle offen anzusprechen, lobte der Sunday Telegraph. Der Pontifex sah in Newman einen Bildungsreformer. Als „entschiedener Gegner jedes reduktiven und utilitaristischen Ansatzes“ wollte der Selige „ein pädagogisches Umfeld schaffen, in dem intellektuelle Übung, moralische Disziplin und religiöses Engagement miteinander verbunden sein sollten“.

Ethik und Ästhetik

Kaum anders stellte sich Ratzinger selbst den von ihm lebenslang verfochtenen Einklang von Vernunft und Glaube, Bildung und Frömmigkeit vor. Antirelativistisch, antiutopistisch, antimaterialistisch: Aus dieser Trias der Ablehnung schwebte Benedikt eine neue im Alten, eine in den Kirchenvätern und im Naturrecht fundierte Kirche vor. Schon 1977 hatte er geschrieben, „nicht bei den Verhältnissen ist anzusetzen, sondern bei der Person“, und 1984 bekräftigte er als Präfekt der Glaubenskongregation, es sei „eine tödliche Illusion zu glauben, neue Strukturen brächten von sich aus einen ,neuen Menschenʻ hervor“.

Die im deutschen Verbandskatholizismus vorherrschende strukturelle Denkungsart forderte er mit seiner Freiburger Konzerthausrede maximal heraus. Der Appell, die Kirche in Deutschland müsse sich entweltlichen, verpuffte, obwohl auch Franziskus regelmäßig auf ähnliche Weise vor der Deckung von Kirche und Welt warnte. Benedikt wurde in der badischen Universitätsstadt deutlich: „Das missionarische Zeugnis der entweltlichten Kirche tritt klarer zutage. Die von materiellen und politischen Lasten und Privilegien befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein.“ Letztlich wünschte Benedikt sich eine entschlackte Kirche, entschieden im Glauben, schlank in den Strukturen, intellektuell satisfaktionsfähig, zugleich nah bei den Armen, spirituell und geerdet. Beim Abschied aus Deutschland am 25. September 2011 blickte er an der Seite von Bundespräsident Christian Wulff in die Zukunft. Künftig werde es „kleine Gemeinschaften von Glaubenden geben – und es gibt sie schon –, die in die pluralistische Gesellschaft mit ihrer Begeisterung hineinstrahlen.“

Was wird bleiben von diesem wechselhaften, abrupt abgebrochenen achtjährigen Pontifikat, was von einem über 95 Jahre währenden Erdendasein? Bücher werden bleiben, wie von jedem Gelehrtenleben, drei Enzykliken, deren bedeutendste die mittlere über die Hoffnung ist, Spe salvi, die drei Jesus-Bücher des Papstes, die Einführung in das Christentum des Regensburger Dogmatikers. Überdauern könnte auch der stete Versuch, Ethik und Ästhetik humanistisch zusammenzudenken. Bei der Weihe der von Antoni Gaudí entworfenen Kirche Sagrada Familia in Barcelona sagte Benedikt XVI. Ende 2010: „In Wirklichkeit ist die Schönheit das große Bedürfnis des Menschen; sie ist die Wurzel, die den Stamm unseres Friedens und die Früchte unserer Hoffnung hervorbringt.“

Alexander Kissler
Dr. Alexander Kissler ist Autor und Publizist und gehört der Berliner Redaktion der Neuen Zürcher Zeitung an. Er schrieb zahlreiche Sachbücher, unter anderem Der deutsche Papst. Benedikt XVI. und seine schwierige Heimat (2005), Papst im Widerspruch. Benedikt XVI. und seine Kirche 2005–2013 (2013) sowie Die infantile Gesellschaft. Wege aus der selbstverschuldeten Unreife (2020).

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