Titelthema
Verteidiger der Freiheit
Das heroische und abgründige Leben des britischen Premierministers Winston Churchill wurde durch sein Verhältnis zu Deutschland geprägt. Wir verdanken ihm viel
Drei Buchstaben genügten dem 15-jährigen Schüler des Eliteinternats Harrow, um seiner Mutter mitzuteilen, was er vom Deutschunterricht hielt: „Ugh.“ Weil Winston Churchill ein guter Sohn sein wollte, schob er in dem Brief hinterher: „Trotzdem hoffe ich, dass ich eines Tages in der Lage sein werde, zu ‚sprechen ze Deutche‘.“ Lieber nahm er jedoch dann Chemie als Deutsch, und viele Jahre später, vor dem Ersten Weltkrieg, knurrte er: „Ich werde die grässliche Sprache nie lernen, höchstens wenn der Kaiser auf London marschiert.“
Sein vergebliches Ringen mit harten Konsonanten und dem Genitiv war bloß der Auftakt zu einer besonderen Beziehung, die Churchills Weg als Politiker, hinauf zu den Höhen des Ruhms, prägte wie kaum etwas anderes. Von Deutschland und den Deutschen kam der vor 150 Jahren geborene Engländer ein Leben lang nicht los. Bis heute verdanken wir ihm viel.
Der von den Deutschen entfesselte Zweite Weltkrieg führte dazu, dass sich spät und unerwartet, in seinem 66. Lebensjahr, sein lang gehegter Traum erfüllte: die Ernennung zum Premierminister. Einige seiner schwersten Stunden erlebte Churchill dann in der Auseinandersetzung um die Frage, ob die Briten allein weiterkämpfen oder Frieden schließen sollten, Frieden mit Hitler. Schon kurz nach seinem Amtsantritt kam es darüber im Kriegskabinett zu einem Showdown von historischer Bedeutung. Die Position des Regierungschefs war zu dieser Zeit noch ungefestigt. Der König hatte ihn nur widerwillig berufen, denn wie viele Briten zweifelte George VI. (der Großvater von Charles III.) an Churchills Urteilsvermögen. Vor allem in den Reihen der Torys galt der Parteifreund als Abenteurer mit einem Hang zu fatalen Fehlentscheidungen: Hatte er nicht die militärische Katastrophe von Gallipoli im Ersten Weltkrieg verschuldet? Durfte man einem Mann vertrauen, der von den Torys zu den Liberalen und wieder zurück gewechselt war?
Ohne Churchill kein Sieg über Hitler
Und nun, Ende Mai 1940, forderte der allseits geschätzte Lord Halifax ihn heraus: Der Außenminister wollte durch Vermittlung des italienischen Diktators Benito Mussolini über ein Friedensabkommen mit Hitler verhandeln, und er versuchte, das Kriegskabinett auf seine Seite zu ziehen. Churchill wehrte sich dagegen, weil er überzeugt war, mit Hitler werde kein Frieden möglich sein; schon die Aufnahme von Verhandlungen hielt er für ein Zeichen der Schwäche, einen folgenschweren Fehler. Würde er mit dieser Meinung die Mehrheit der Runde hinter sich bringen? Zwar führte er seit gut zwei Wochen die Regierung an. Aber für ein Machtwort im innersten Kreis des Kabinetts war er noch nicht stark genug.
Drei Tage und neun geheime Sitzungen vergingen, bis Churchill sich durch die Kraft seiner Argumente durchgesetzt hatte. Auch seine Rhetorik zeigte Wirkung, zum Beispiel wenn er sagte: „Wir würden lieber kämpfend untergehen, als von Deutschland versklavt zu werden.“ Die erst viele Jahre später freigegebenen Protokolle, die den Entscheidungsprozess im Arkanum der damaligen Staatsführung nachzeichnen, gehören zu den beeindruckendsten Dokumenten der Zeitgeschichte.
Dass Churchill dem seinerzeit im ganzen Land verbreiteten Wunsch nach einem Friedensschluss mit den Nazis nicht nachgab, ist seine wohl größte Leistung, eine Leistung, die man ohne falsches Pathos als heroisch bezeichnen kann. Nur weil er im Londoner Kriegskabinett die Oberhand behalten hatte, konnte er fast auf den Tag genau fünf Jahre später seinen größten Triumph feiern, den Sieg der Alliierten über das „Dritte Reich“. Ohne Churchill hätte es diesen Sieg vermutlich nicht gegeben. Frankreich lag im Juni 1940 am Boden. Die USA wollten sich nicht in den Krieg hineinziehen lassen. Nach Stalins mörderischen Säuberungen war die Rote Armee der Wehrmacht klar unterlegen.
Es war Churchills unbeugsamer Freiheitswille, der jetzt verhinderte, dass die Nazis ganz Europa beherrschen konnten. Beinah wäre die Welt eine andere geworden, möglicherweise eine, in der die Deutschen von einer Demokratie wie in den vergangenen 75 Jahren bloß würden träumen können.
Hitlers vergeblicher Versuch, das störrische England zu erobern (Unternehmen „Seelöwe“), kostete die Wehrmacht Zeit und Kräfte. Militärisch trugen schließlich die USA und die Sowjetunion viel mehr zum Untergang der Nationalsozialisten bei als Großbritannien. Aber den größten persönlichen Beitrag leisteten weder die Präsidenten Roosevelt und Truman noch Kremlherrscher Stalin oder einer der alliierten Truppenführer. Den größten Einzelbeitrag leistete der egozentrische Sturkopf in London, der Mann mit der ewigen Zigarre und dem Victory-V.
Churchill wurde zu Churchill in der ständigen Auseinandersetzung mit Deutschland. Es war ein lange zurückreichendes Verhältnis voller Spannungen und Wechselfälle. Bereits seinen Aufstieg zum Marineminister verdankte er der Reaktion Londons auf die Berliner Kanonenbootpolitik, die Europa 1911 durch den „Panthersprung nach Agadir“ schon an den Rand eines Krieges geführt hatte. Als „First Lord of the Admiralty“ tat er nun alles dafür, die Royal Navy bereit für den Kampf gegen die Reichsmarine zu machen.
Bis dahin galt Churchill eigentlich als der große Germanophile in der britischen Regierung, wie auch aus neuen Archivfunden hervorgeht: Paul Graf Metternich, der kaiserliche Botschafter in London, berichtete regelmäßig über die ausgeprägte Deutschfreundlichkeit Churchills. Vor einer geplanten Deutschlandreise des damaligen Handelsministers kabelte Metternich im Juli 1909 nach Berlin, „dass Mr. Churchill nahezu der einzige der bekannteren englischen Staatsmänner ist, der selbst in den letzten Zeiten bemüht gewesen ist, in den deutsch-englischen Beziehungen beruhigend zu wirken“. Wilhelm II. erhielt die Depesche in Kopie, er hörte jedoch lieber auf die Scharfmacher unter seinen Beratern, die das Evangelium der Stärke predigten. Bereitwillig zogen die Deutschen dann 1914 in die Schlacht.
„Jedes Haus in jeder Stadt“
Churchill, der als junger Offizier am Ende des 19. Jahrhunderts den Krieg noch als romantisches Abenteuer gesucht und beschrieben hatte, liebte die Kriege des 20. Jahrhunderts nicht. Aber er führte sie, als er sie führen musste, leidenschaftlich und rücksichtslos. Fast jedes Mittel war ihm recht.
Viele Millionen Menschen in den deutschen Städten bekamen das zu spüren. Den Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung haben Churchill und die Royal Air Force zwar nicht erfunden, doch sie – und dann auch die US-Amerikaner – haben ihn mit wissenschaftlichen Methoden und großer Härte perfektioniert. Gegenüber Stalin bezeichnete der oberste britische Kriegsherr die Wohngebiete im Feindesland als legitimes „militärisches Ziel“ und fügte hinzu: „Wir werden keine Gnade zeigen.“ Wenn nötig, werde man „im Verlauf des Krieges fast jedes Haus in jeder deutschen Stadt zerstören“. Churchill konnte äußerst brutal sein, dies gehört, wie im Übrigen auch sein zutiefst rassistisches Weltbild, zu den Abgründen seiner Persönlichkeit.
Waren die Bombardierungen eine effiziente, vielleicht sogar die einzige Möglichkeit, die Nazis zu besiegen? Darin lag im Kern Churchills Absicht. Der Luftkrieg war für ihn ein Mittel zum Zweck und kein Selbstzweck – das macht den wesentlichen Unterschied zum genozidalen Vernichtungsfuror der Nazis aus. Dennoch bleiben Fragen, die zu Recht immer wieder gestellt werden, nicht nur im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg. Die Verhältnismäßigkeit militärischer Mittel und der Schutz von Zivilisten beschäftigen Menschen in aller Welt gerade sehr, wenn sie auf die Ereignisse in Gaza blicken.
Churchill ein Kriegsverbrecher?
Bezogen auf die Bombardements der Alliierten nahmen zahlreiche Deutsche eine klare Position ein: Sie sahen darin ein Kriegsverbrechen. Als Churchill zum 90. Geburtstag und wenig später nach seinem Tod vom westdeutschen Staat geehrt wurde, erwies sich das als eine heikle Angelegenheit, die in Bonn zu erheblichen Protesten führte. Zu den bisher unbekannten Dokumenten von damals gehören die archivierten Briefe wütender Bürger, in denen Churchill schwer beschuldigt wurde. Er sei „ein notorischer Feind Deutschlands“, schrieb jemand aus Düsseldorf. Aus dem besonders stark zerstörten Pforzheim richtete sich der Vorwurf an die Bonner Adresse, die Ehrung des Briten sei „eine Respektlosigkeit unseren Toten gegenüber“. Ein Absender aus Remscheid nannte Churchill „Kriegsverbrecher Nr. 1“.
War er das wirklich, ein Kriegsverbrecher? Meistens wurde die Frage bisher moralisch beantwortet, obwohl es sich um einen juristischen Sachverhalt handelt. Auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstands zum damals geltenden humanitären Völkerrecht lässt sich sagen: Unabhängige Strafverfolger hätten nach dem Krieg wenig Mühe gehabt, Churchill auf die Anklagebank zu setzen. Die Beweismittel und die Rechtslage hätten für einen Prozess ausgereicht. Mit welchem Ergebnis? Wer möchte, kann sich darüber ein eigenes Urteil bilden.
Churchills historische Bedeutung würde auch durch ein Verdikt gegen ihn nicht gemindert. Aus nachvollziehbaren Gründen haben ihn die Briten vor einigen Jahren in einer Umfrage zur größten Persönlichkeit in der Geschichte ihrer Nation gewählt. Es war Deutschland, das durch den Absturz in die Dunkelheit diesen Mann, seine entscheidenden Taten und seinen Ruhm, erst hervorgebracht hat.
Buchtipp
Dietmar Pieper
Churchill und die Deutschen. Eine besondere Beziehung
Piper Verlag 2023,
320 Seiten, 24 Euro
Dietmar Pieper, RC Hamburg-Dammtor, lebt als Autor in Hamburg. Er hat zahlreiche Bücher zu historischen Themen geschrieben und herausgegeben. Bis 2021 arbeitete er als Redakteur und Ressortleiter beim „Spiegel“.
© Elsa Niveri