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Titelthema

Viel mehr als Ikonen

Titelthema - Viel mehr als Ikonen
Alle Wasser sind heilig: „Große Wasserweihe“ zum Fest der Erscheinung des Herrn am 19. Januar. Dreimaliges Eintauchen mit dem ganzen Körper verspricht Gesundheit und Erfolg für das kommende Jahr. © Frank Herfort

Die russische Orthodoxie fasziniert westliche Christen seit jeher, nicht nur zu Weihnachten. Doch bei allen Unterschieden gibt es auch Parallelen

Johannes Oeldemann01.01.2021

„Der Tag brach an. Die Kirche war schon vor Morgengrauen voll von Menschen. Die alten Frauen in ihren weißen Kopftüchern und Tuchkitteln standen ganz nahe am Eingang und bekreuzigten sich fromm. Die Mädchen, die einen ganzen Laden von aufgewickelten Bändern auf dem Kopfe und ebenso viele Perlenbänder und Kreuze um den Hals trugen, suchten so nahe als möglich an den Altar heranzukommen. Wohin man auch blickte, auf allen Gesichtern spiegelte sich die Feiertagsstimmung wider.“ Was Nikolai Gogol in seiner Erzählung „Die Nacht vor Weihnachten“ beschreibt, kann man in Russland in jedem Jahr beobachten: Die orthodoxen Christen feiern in der Nacht vom 6. auf den 7. Januar Weihnachten. Nicht etwa weil sie das Fest „Erscheinung des Herrn“ (bei uns vor allem als Dreikönigsfest bekannt) für wichtiger halten würden als Weihnachten, sondern weil sie weiterhin dem alten julianischen Kalender folgen. Dieser liegt derzeit 13 Tage hinter dem 1582 von Papst Gregor XIII. eingeführten Kalender zurück, der heute nicht nur in den westlichen Kirchen, sondern auch im zivilen Bereich verwendet wird. Auch die orthodoxen Christen in Russland feiern Weihnachten also in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember – nur eben nach dem julianischen Kalender 13 Tage später.

Ein Stück Himmel auf Erden

Viele Menschen bei uns im Westen haben den Eindruck, dass die orthodoxe Kirche auch sonst manchmal der Gegenwart „hinterherhängt“. Jahrhundertealte Traditionen prägen das kirchliche Leben in der Orthodoxie. In den stundenlangen Gottesdiensten erklingen Gebete und Hymnen, die schon im ersten Jahrtausend in Byzanz zu hören waren. Die Liturgie spielt im orthodoxen Glauben eine zentrale Rolle. Die Feier des Abendmahls, beziehungsweise der Eucharistie, wird als „Göttliche Liturgie“ bezeichnet, weil sie nach orthodoxem Verständnis ein Abbild der himmlischen Liturgie ist, bei der die Engel und Heiligen in den Lobpreis Gottes einstimmen. Der Gottesdienst wird als ein Stück „Himmel auf Erden“ verstanden und dementsprechend feierlich gestaltet. Auf westliche Christen üben vor allem die Ikonen eine besondere Faszination aus. Sie sind wie „Fenster zum Himmel“, die den Blick auf jene Wirklichkeit öffnen, die dem menschlichen Auge verborgen ist. Als Bilder im Museum sind Ikonen „tot“, zumindest fehl am Platze. In der Kirche werden sie lebendig, wenn Menschen Kerzen vor ihnen entzünden, zu den auf ihnen abgebildeten Heiligen beten und ihre Gebete mit dem im orthodoxen Gottesdienst reichlich verwendeten Weihrauch gen Himmel steigen.

Auf den ersten Blick erscheint der orthodoxe Glaube als konservativ, der Vergangenheit verhaftet, etwas sehr Traditionelles. Wenn man nicht beim oberflächlichen ersten Eindruck stehen bleibt, sondern genauer hinschaut, bemerkt man jedoch, dass die Orthodoxie auch für die Moderne aufgeschlossen ist. Ein paar Beispiele: Digitalisierung ist in Russland nicht erst seit Corona aktuell. Schon seit Jahren gibt es in Russland nicht nur Gottesdienstübertragungen und fromme Betrachtungen in den Medien, sondern auch kirchliche Gesprächsrunden im Fernsehen und theologische Debatten im Internet. Theologische Beiträge und kirchliche Verlautbarungen werden in Internetforen intensiv diskutiert. Das hat zum Beispiel dazu geführt, dass ein von der Theologischen Kommission des Moskauer Patriarchats erarbeiteter neuer Katechismus aufgrund der heftigen Kontroversen über den im Internet veröffentlichten Textentwurf von der Kirchenleitung letztlich nicht approbiert wurde. Fragen der Bioethik und der Ökologie sowie die Herausforderungen, die mit der Globalisierung und den neuen Massenmedien verbunden sind, wurden schon vor 20 Jahren in einem Dokument über die Grundlagen der Soziallehre der Russischen Orthodoxen Kirche thematisiert. Theologiestudierende müssen in Russland nicht nur die alten Sprachen (Griechisch, Hebräisch, Latein) lernen, sondern auch moderne Fremdsprachen, um aktuelle theologische Literatur auf Englisch, Französisch oder Deutsch lesen zu können. Das weitet den Horizont.

Kirchen als Brückenbauer

Seit vielen Jahren steht die russische Orthodoxie im Dialog mit den Kirchen im Westen. Besonders eng sind die Beziehungen mit Deutschland: Bereits seit 1959 gibt es regelmäßig theologische Gespräche mit der EKD, seit 1986 auch mit der katholischen Deutschen Bischofskonferenz. Damit die ökumenischen Kontakte nicht auf die Expertenebene beschränkt bleiben, gibt es sowohl von katholischer als auch von evangelischer Seite Stipendienprogramme, mit denen orthodoxen Stipendiaten ein Studium in Deutschland finanziert wird. Seit einigen Jahren führt die Arbeitsgruppe Kirchen des „Petersburger Dialogs“ regelmäßig Studienreisen für Doktoranden der Theologie aus Deutschland und Russland durch, um das gegenseitige Kennenlernen zu fördern. So bauen die Kirchen Brücken zwischen Deutschland und Russland – Brücken, die tragen, gerade auch in Zeiten der Krise in den deutsch-russischen Beziehungen.

An Weihnachten feiern die Christen, dass Gott Mensch wurde, um die Menschheit zu erlösen. In der Orthodoxie spielt die „Große Wasserweihe“ am Fest der Erscheinung des Herrn (am 6. beziehungsweise 19. Januar) eine mindestens ebenso wichtige Rolle wie das Weihnachtsfest selbst. An diesem Tag wird das Wasser feierlich gesegnet und damit die Natur, die ganze Schöpfung in den Segen Gottes einbezogen. In Russland, wo um diese Jahreszeit die Flüsse und Seen oft zugefroren sind, wird vielerorts ein Kreuz ins Wasser geschlagen. Und die ganz Mutigen tauchen nach der Wasserweihe im eisigen Wasser unter, um „neu geboren“ zu werden – eine Erinnerung an die Taufe.

Moderne Züge der Askese

Der Ritus der Wasserweihe am Theophanie-Fest verdeutlicht, dass Gott aus orthodoxer Sicht nicht nur die Menschheit, sondern den ganzen Kosmos erlöst hat. Orthodoxe Christen haben von daher ein Gespür für ihre „Mitwelt“ und üben einen achtsamen Umgang mit Schöpfung. So verwundert es nicht, dass der 2010 von den Kirchen in Deutschland eingeführte „Ökumenische Gebetstag für die Bewahrung der Schöpfung“ auf eine entsprechende orthodoxe Initiative zurückgeht. Der asketische Grundzug orthodoxer Spiritualität, wie er sich unter anderem in den vielen gebotenen Fastentagen zeigt, kann ang sichts der Folgen des massenhaften Fleischkonsums für die Umwelt als durchaus zeitgemäß und modern betrachtet werden.

Diese wenigen Beispiele zeigen: Es gibt vieles zu entdecken, wenn man sich mit der Orthodoxen Kirche in Russland befasst. Dass der christliche Glaube immer auch etwas mit dem „Faszinosum“, dem Unbegreiflichen zu tun hat, kann uns bei der Begegnung mit der russischen Orthodoxie wieder neu bewusst werden.

Johannes Oeldemann

Dr. Johannes Oeldemann ist Direktor am Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik in Paderborn, arbeitet in vielen Kommissionen für den ökumenischen Dialog zwischen Orthodoxen und Katholiken mit, leitet das Stipendienprogramm der Deutschen Bischofskonferenz für orthodoxe Theologen und koordiniert auf deutscher Seite die Arbeitsgruppe Kirchen des „Petersburger Dialogs“.